Sinophobie – das ist die krankhaft übersteigerte Angst vor China, Angst vor ‘den Chinesen’, Angst vor ‘chinesischer Kultur’ und ‘chinesischem Einfluss’. In Europa hat diese Angst spätestens seit der Verbreitung des Corona-Virus wieder Kochkonjunktur und befeuert reaktionäre Träume von der ‘Festung Europa’. Der Künstler und Berliner Gazette-Autor Stefan Tiron stellt den Europa Market in Rumänien als Therapie vor – nicht nur gegen Sinophobie, sondern gegen die zunehmende Angst vor kultureller Vermischung im allgemeinen. In seiner Hommage an den ersten und wichtigsten chinesischen Markt in seinem Heimatland zeigt er, wie sich hier die Konturen eines utopischen Europas abzeichnen.
*
Der Europa Market war der erste und wichtigste chinesische Markt in Rumänien. Was nach 1989 im Nordosten der Stadt Bukarest, gleich hinter einem Vorhang aus Wohnblöcken am Ende der Colentina-Nachbarschaft – Wiege für frühe Hip-Hop-Stämme und reichlich Graffiti – den Namen “Europa” erhielt, wird wahrscheinlich als ein weiteres Beispiel für einen sich selbst zerfleischenden Kapitalismus in die Geschichte eingehen.
Heute: Ein großer Haufen von Ständen liegt in Fetzen, die Hälfte ist zerstört, der Rest wartet auf die hungrigen Mäuler der Bulldozer und einsatzbereiten Abrissteams, so dass dieser Ort fast wie die Fertigteilversion einer antiken Stadt aussieht, die entlang der Gabelungen der Nord- oder Südrouten einer früheren Seidenstraße verstreut ist. Eine verlassene Haltestelle in der Taklamakan-Wüste.
Im vergangenen Jahr, 2019, 30 Jahre nach seiner Gründung, wurde “Europa”, der Kern des größten informellen chinesischen Marktes für Raubkopien in Rumänien, der den Räumungs- und Zwangsvollstreckungsbescheiden nie nachgab, terraformt, um Platz für noch problematischere Kapitalozänauswüchse zu schaffen. Planierraupen verwandelten das Gebiet in eine leere Fläche, fast so gesichtslos wie all jene Orte, die den neuen rumänischen Rust Belt durchziehen, der in einem kurzen Moment von Fehlinvestitionen und wiederholter industrieller Zerstückelung entstand.
Der “Europa Markt” war der erste Gestaltwandler, der aus dem politischen Umbruch und der wirtschaftlichen Destabilisierung hervorging. Der erste Kern des konzentrischen Wachstums drängte nach außen und ermöglichte die nächste Generation von seriell nummerierten, modularen Ständen, die in einem Gittermuster entlang von Gassen angeordnet waren und wahrscheinlich auf die Riten von Zhou zurückgingen. Auch das musste gehen.
Treibgut in einem Strudel aus Produktion, Vertrieb und Überkonsum
Zoom: Vom Weltraum aus visualisiert, durch Google Geo-Mapping-Augen und lokale Fernsehsender, ein Sturz von ganz oben in das Zeitalter des Weltziels. Der Europa Market wurde auf Geheiß der flexiblen Akkumulation in eine Flut von Abfällen verwandelt, als er schließlich als Ziel für die Schumpeter’sche Zerrüttung gewählt wurde, ein Ort der aufgezwungenen Selbstzerstörung und erzwungenen Autophagie, um den abwesenden Landbesitzern intakt, rot markiert als Abwurfgebiet für Entwicklungsbomben, zurückgegeben zu werden.
Jetzt sieht das Gebiet aus, als hätte ein Taifun mehr als 500 improvisierte Stände und Buden verwüstet: leere Verpackungen, bunte Bastbeutel, Torsos kopfloser Plastikmannequins, Pappkartons, die einmal sorgfältig gefaltet und gestapelt wurden, leere Rechnungen, unzählige Knäuel von Kunststoffseilen, Schuhe in allen Größen, Unterwäsche, mit LEDs bestückte Spielzeuge – Treibgut in einem sich rasch beschleunigenden Strudel aus Produktion, Vertrieb und Überkonsum. “Europa Market” war die Low-Tek-Schwester jener fiktiven E-Waste-Silicon-Insel ausrangierter Prothesen, die der junge chinesische SF-Autor Chen Quifan 2019 in seinem Buch “Waste Tide” mit einer Klarheit vorstellte, die durch soziale und ökologische Sensibilität geschärft wurde.
Als China schwor, die Lawine des E-Mülls nach Guiyu – der größten Elektronikschrottdeponie der Welt – einzudämmen und das seit langen bestehende Verbot endlich durchzusetzen, wurden die Müllströme aus Westeuropa nach Rumänien und Bulgarien umgeleitet. Der illegale Handel mit Müll hat sich seither verzehnfacht und plagt beide Länder. Ihr angeschlagener Industriesektor wurde so umgestaltet, dass er der Abfallflut aus den reichen Nachbarländern der EU gerecht wurde. Zementwerke wie Chiscadaga in Westrumänien werden nun durch die Verbrennung von Abfällen betrieben – mit enormen Kosten für die Umwelt. Das berichtet France 24 unter dem Titel mit dem Titel – Wird Rumänien nach China zur Mülldeponie Europas werden?
Rituale und Razzien
Etwas ist schief gegangen auf dem Europa Market. Ähnlich wie die Silikoninsel in dem Buch “Waste Tide”, hat dieses “andere Europa” nicht die richtigen Götter besänftigt, nicht genug geopfert oder nicht die richtigen Opfer gebracht oder einfach das Mandat des Himmels verloren. Auch hier, im Europa Market ließen tägliche Rituale Menschen auftauchen und verschwinden, die alle an einem lebenswichtigen und lukrativen Exorzismus der Migration beteiligt waren, der den Razzien der Polizei drei Jahrzehnte lang Stand hielt.
Nicht, dass Europa-Market jemals mit den wahren Albträumen der Stadt Guiyu verglichen werden könnte, die die Inspiration für Chen Quifans Science-Fiction-Buch waren. Dennoch ist dieses teuflische Geschenk des Giftmülls immer noch um uns herum, noch immer versucht es, den Weg des geringsten Widerstandes zu finden, um China und andere Orte mit verunreinigenden Fluten zu überspülen.
Das alles hier ist nicht geschrieben worden, um einer deregulierten Form des Neoliberalismus – einem Kapitalismus mit asiatischen Werten – Vorschub zu geben oder gar die Errichtung eines weiteren Steuerparadieses oder einer investorfreundlichen Smart City zu unterstützen. Auch nicht um die laufenden Prozesse der Absicherung von Reichtum und der Legalisierung früherer Turbokapitalismus-Unternehmen in den Himmel der umgemodelten, legalen Steuerhinterziehung zu supporten.
Im Stile von Netfix-Gangland-Shows
Die letzten 30 Jahre trüber Geschichte waren geprägt von mörderischen Übernahmen, schmutzigen Geschäften, Geldwäsche und ungezügelten Aktivitäten der Immobilienmafia. Die eigentliche Geschichte passierte zwischen 1991-1992, als ein für Pass- und Grenzkontrollen zuständiger Polizeioberst (“Milize” wurde das damals genannt) begann, Land in der Nähe des Viertels Colentina zu kaufen, um ‘Europa’ nach einer älteren Vorlage, einem chinesisch-türkischen Warengeschäft in der Nähe des Hauptbahnhofs in Bukarest, zu errichten.
1995 betreten wir dann eine düstere Fernsehserie im Stile der aktuellen Netfix-Gangland-Shows: Der Oberst kommt bei einem sehr verdächtigen LKW-Unfall ums Leben und so schließt sich sein ehemaliger Partner Dumitru “Niro” Nicolae mit dem lokalen Mafioso Nicu “Gheara” (die Kralle) zusammen, der mit Besitztümern in Kitzbühel, Monaco, Côte d’Azure in Verbindung steht. Der Kampf um die Kontrolle über dieses Gebiet ist praktisch ein Film, der mindestens so gut wie Polanskis Chinatown ist und eine Fallstudie über die Geschehnisse an vielen anderen Orten des Landes.
Man könnte eine “Who’s who”-Liste schreiben, die nur auf den lokalen Prominenten, ehemaligen Bürgermeistern und Geschäftsleuten basiert, die daran beteiligt waren. Zwei ehemalige Präsidenten, Ion Iliescu und Emil Constantinescu von rivalsierenden Parteien scheinen damit in Verbindung zu stehen. Teil dieser Geschichte ist eine unsägliche Vendetta. Diese Story hat mehrere, wahrscheinlich absichtliche Einäscherungen durchlaufen, wobei verschiedene Teile zu verschiedenen Zeiten bis auf den Boden verbrannt sind.
Ein Appell für ein nie zuvor gesehenes Europa
Es wäre also sinnlos, in irgendeiner Weise das Leben von Menschen zu verherrlichen, die ihren Lebensunterhalt unter den Bedingungen einer neoprimitiven Akkumulation verdienen – stets unter großer Gefahr für sich selbst, in beengten Räumen und unter höllischen Bedingungen bei einem sich verschlechternden Klima mit intensiven Hitzewellen und greller Sonne während der Sommermonate, egal wie viel Schatten diese vom Wind verwehten Tücher zu bieten schienen.
Trotz allem versuche ich hier auch eine Art hyperreales Europa einzufordern – hingeklecktst mit großen chinesischen Schriftzeichen, die wahrscheinlich mit Piratenschreibfehlern von Adibas, Nika, und Pulma-Markenartikeln, die unsere letzten Generationen bekleidet haben, zusammengenäht wurden.
Es ist ein Appell für ein mutiertes, schrilles, noch nie zuvor gesehenes Europa, das die ethno-staatliche Politik und die nationalistischen Tendenzen beschämt, die überall in der Festung Mono-Europa blühen, weit entfernt von den neu ummauerten Ländern und den Stacheldrahtzäunen, die fast gleichzeitig an den östlichen Grenzen des Kontinents installiert und hochgezogen werden. Welch besseren Zeitpunkt könnte es geben, um einen solchen Raum post factum zurückzuerobern, nachdem er seine Arbeit getan hat, nachdem alles weg ist, alles zerstört, alles abgerissen wurde, nur um Platz für einen weiteren irrealen Immobilienboom und eine weitere Pleite zu schaffen, ein bloßes “Eigentumsanrecht”, das den Besitzern zurückgegeben wird, wo dann eine noch stärkere Finanzialisierung des Wohnungssektors stattfinden kann.
Die Rückeroberung des Schwarzmarktes Europa-Bukarest als eine Art dämmerndes, SciFi-infiziertes sinofuturistisches Europa, würde einer unmöglichen, aber willkommenen Interzone gleichkommen. Diese poröse Kontakt-/Pufferzone, die 30 Jahre lang bestand und sich an den Enden von Bukarest vermischte und verschiedene Einwandererströme und einkommensschwache Gemeinschaften auf engstem Raum zusammenhielt, lebte in ständiger Angst. Angst vor ihren eigenen Chefs sowie vor den Behörden. Sie betrieben ein hartes Geschäft, waren immer gezwungen, zu Dumpingpreisen zu verkaufen und zu kaufen, lebten und schliefen auf gigantischen Taschen voller Raubkopien. Sie aßen alle von den gleichen Einwegtellern, verwendeten die gleichen Löffel oder Stäbchen, in den gleichen unhygienischen, aber immer lecker-improvisierten Kneipen, das harte Leben des Gepäckträgers führend, der riesige, himmelhohe, versiegelte Kistenstapel auf dem eigenen Rücken oder auf zweirädrigen Handwagen durch die gleichen Gassen schob.
Unsichtbare Einwanderergemeinschaften
30 Jahre lang öffnete Europa Market zu den gleichen frühen Morgenstunden – 4 Uhr – und folgte anderen Rhythmen, versuchte den Kontrollen zu entgehen, arbeitete mit dem immer gleichen grausamen Optimismus und den immer gleichen Systemen, um die sich anhäufenden Schulden zu begleichen, die Überweisungen an die Arbeiter sicherzustellen. Alle träumten davon, sich zu rächen und endlich in der Lage zu sein, die Zinsen für die Reisekosten nach Europa zu bezahlen. Selbst wenn sich das Leben und die Hürden, denen diese meist unsichtbaren Einwanderergemeinschaften ausgesetzt waren, am Stadtrand abspielten, so gab es doch Kontakt und immer wieder zeigte sich, dass die gleichen Waren, die vom Rand bis in die Innenstadt transportiert wurden, zum dreifachen oder mehrfachen Preis ihres ursprünglichen Preises angeboten wurden.
Die Straßenbahnlinie 21 verbindet den Europa Market (jetzt nur noch Niro oder Red Dragon) noch immer mit dem geographischen Zentrum von Bukarest und seiner metallischen Erdkugel, die neben dem St.-George-Platz die vier Himmelsrichtungen anzeigt.
In einer Umkehrung der eurozentrischen Politik und der Kolonisierungsschritte war dieses Europa nicht nur ein Glitzern in den Augen der Eigentümer/Behörden oder eine vergessene Station auf der neuen Seidenstraße, sondern ein Hafen für eine willkommene Flut, die nach 40 Jahren Deng Xiaoping-Reformen hereinströmte.
Bevor das ganze zu einer weiteren Shopping Mall wurde, kamen die Neuankömmlinge, die mit Metallarbeiten und dem Bau von Ständen aus Wellblech beschäftigt waren, während die Händler aus dem ganzen Land kamen, um unter der Ladentheke Waren zu kaufen – die sie dann mit einem schmalen Profit weiter in die Warenkette einspeisten. Ko-Abhängigkeit, enge Beziehungen und Freundschaften wurden zur Norm, zweisprachige Kontakte, Spitznamen, Kinder, die sich zusammenschließen, und eine informelle geschäftliche Zusammenarbeit nahmen zum ersten Mal in diesem Ausmaß Gestalt an.
Kultur der Kopie
Dieses nicht wiedererkennbare Europa ist von unbekanntem und unsicherem Umriss, hat zu viele Ein- und Ausgänge, zu viele unbewachte Tore, viele Shishi-Löwen als Wächter, viele unregistrierte und unlizenzierte Aktivitäten. Seine Immaterialität und Fluidität reagiert auf die Laune von Entscheidungen, die anderswo getroffen werden, zieht sich in Übereinstimmung mit flüchtigen Wettbewerbsinteressen zurück oder expandiert, zahlt Schutzgeld an wer weiß wen. Es könnte sich durchaus als eine wandelbare polymere Einöde manifestieren, die aber immer eine Mos-Eisley-Kantine oder ein Dragon Inn beherbergt, die der Art eines futuristischen Basars am nächsten kommt – noch bevor die klimatisierten Feng-Shui-Brunnenhallen der Lagerhäuser und Einkaufszentren des Red Dragon (1, 2, 3, 4, +n) Europa übernommen haben.
Nach 30 Jahren Schwarzmarkt, der vom geschmuggelten Plastik überfüllt war, mit Billigprodukten aus China überschwemmt, vollgestopft mit in der Türkei hergestelltem orthodoxen Kirchen-Merchandise, darunter Weihrauch vom heiligen Berg Athos, abgepackt in Mini-Plastiktüten, nach 30 Jahren, die die globale Containerisierung bestaunten und unter dem Credo standen “Kopieren tötet nicht!“, wurde all das schließlich an einen anderen Ort umgeleitet. Nach dem ersten Unternehmer-Boot-Camp, nachdem Vermögen gemacht und nicht gemacht wurden, nach Polizei- und Steuerrazzien, wurde Europa – der erste große Bukarester Basar nach 1989 – als Hemmschuh betrachtet.
“Illegal” – “ohne Genehmigung” – “Kopie” – “Fälschung” – “Geldwäsche” – “betrügerisch” – “unreguliert” – “Raubkopien” – “1 Million Euro pro Jahr” – “schattenhaft”, “Rechte an geistigem Eigentum”, “Patente”, all diese Begriffe, die in der rumänischen Presse im Überfluss vorhanden sind, tun das, was sie die ganze Zeit getan haben, nämlich die Natur und die Operationen des Kapitals zu verschleiern und falsche Binärcodes zu erstellen. Sie versuchen, zwischen dem Richtigen und dem Unreinen, dem Guten und dem Bösen, dem Samtkapitalismus – und dem Turbokapitalismus, den alten und den neuen Oligopolen zu trennen.
Was hier verdeckt wird, ist die offensichtlichste Tatsache, dass Europa, das Europa der Eurozone, der freien Märkte, das tollwütig freie Europa – das der freien algorithmischen Kapitalströme innerhalb der Festung Europa durch dieses andere Europa verdoppelt wurde, eine Bargeldwirtschaft und ein behelfsmäßiges Beispiel für eine neue Verbundlegierung – bis offenbar jemand endlich beschlossen hat, dass sich dieses Europa nicht ohne weiteres in die aktuellen Pläne und zukünftige Entwicklungen einfügen lässt.
Wir sollten Europa als den präventiven Friedhof gegenwärtiger Gefühle betrachten, die mit den banalsten Konsumgütern verbunden sind, mit allem, was den unmodernen schlechten Geschmack des europäischen Ostens ausmacht, seine Kinder und Enkel und Großeltern einleidet. Genau diese Waren, die in Zukunft all die Deponien und Müllhalden füllen werden, die nicht stillstehen und die immer wieder überflutet werden und in die Zukunft überlaufen.
Meme-Kunst
Alles in Europa passiert wie unter einer Lupe und passt und passt nicht in die Zeit. Allein, es fehlt die tragische oder spektakuläre Erhabenheit von Katastrophen, apokalyptische Mediendarstellungen, wie wir sie im Zuge der aktuellen Coronavirus-Pandemie stündlich geliefert bekommen. Europa Market bietet eine Pause zum Innehalten, sich bückend kann man Ausschau halten nach den Bildern und Trümmern, nach all jenen anonymen, raubkopierten, gefälschten und geschmuggelten Konsumgüter, die den Angriff des Originals überdauert haben, weil sie nie eines hatten. Jene unauthentischen Fälschungen, die jede Art von Markentreue gegenüber den Mega-Franchises der Unternehmen verspotteten. Selbst die jüngsten Coronavirus-Memes in Rumänien zeugen von der Art Galgenhumor, der in Verbindung mit Red Dragon/Europa Market reichlich vorhanden ist – gefälschte Nachrichten über einen gefälschten, geschmuggelten Coronavirus, der illegal auf dem Schwarzmarkt verkauft wird.
So eindringlich wie in Les Glaneurs et la Glaneuse aus dem Jahr 2000 von der großen Agnes Varda, sieht man in einer aktuellen Fernsehnachrichtenspule Menschen, die aus den Überresten Europas verschiedene Leckerbissen sammeln und sammeln, verschiedene Waren, die sie zufällig entdecken und offensichtlich nicht in den Trümmern zurücklassen wollen.
Dieses Stöbern in der Gegenwart bringt die krasse Erkenntnis, dass eine ganze unsichtbare Flugbahn durch die Hälfte der Stadt Bukarest unvermutete Spuren hinterlässt, nachdem diese unzähligen Waren die halbe Welt durchquert haben. Cory Doctorow hat sie treffend als die “vorgefertigten” Produkte des neuen Imitat-Galapagos bezeichnet, ohne Original, ohne Vorlage, hunderte chinesische E-Zigaretten-Fabriken werden längst in Hoverboard-Lieferketten umgerüstet .
Die Herstellung von Produkten aus dem Bereich der Meme-Kunst ist das Herzstück des “Europa Markets”, und Unmengen von verstreuten Waren erinnern uns auch an etwas anderes – eine andere Art von post-apokalyptischer Nostalgie in Moll. Eine Art von Nostalgie, die die Tatsache überlebt, dass all diese Objekte billig hergestellt werden, aus dem scheinbaren Nichts kommen und leicht zu reproduzieren, leicht zu brechen und Teil einer wirklich apokalyptischen Wegwerfkultur sind. Es handelt sich dabei um absolute No-Nos, keineswegs erkennbare Referenzen oder Sammlerstücke der euro-amerikanischen oder internationalen Popkultur, auch nicht um Vintage-Sammlungen.
Sie manifestieren dieselbe Spannung und denselben Grad an Bindung an den “Müll, der noch kommen wird, trotz der erheblichen finanziellen und ökologischen Kosten dieser Güter”, wie Christopher Todd Anderson in seinem Streifzug durch die “Müllwissenschaft” hervorhob (“Post-Apocalyptic Nostalgia: WALL-E, Garbage, and American Ambivalence toward Manufactured Goods”, 2012).
Created-not-Made-in-China
In diesem Sinne sollte der Europa Market als potenzieller Untersuchungsort für ein angewandtes Gebiet der Abfalltheorie oder Studien über kulturellen Unrat betrachtet werden (C T Anderson 2012).
Im Zeitalter der großen Supermärkte, die bei jeder Gelegenheit für so genannte authentische traditionelle rumänische Waren, neo-folkloristische Hemden und Ethno-Produkte werben, und fast alles mit vermeintlich selbstzertifizierten lokalen Produktkennzeichnungen versehen, sehen wir die Folgen der Marktauslöschung immer noch auf uns zurückprallen – und zwar von den ignorierten Überresten. Der wertloseste Bric-à-Brac, die aufgegebene “Created-not-Made-in-China”-Masse ohne massenhaft produzierte Artikel steigt aus der Grube des niedergeschlagenen Vergessens wieder zurück in die Aufmerksamkeit. Während wir um sie herum schweben, herumschleichen und stöbern, ist diese metastabile Situation (Gilbert Simondon 1992) der verlassenen Masse mit allen möglichen unvereinbaren, ungleichartigen Dimensionen durchsetzt.
Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn die chinesische Road & Belt Initiative in naher Zukunft beschließen würde, neben dem Red Dragon eine Version des Themenparks Europa zu errichten – mit einer eigenen Einschienenbahn und geführten Touren. Auch wenn es derzeit schwer vorstellbar ist, möchte ich auf diese Weise einen Beitrag zu einem oral history-Archiv leisten, in dem ehemalige Pioniere Europas sowie die Besucher ihre ersten Eindrücke, ihre Kämpfe und Prüfungen vor und nach dem Sturz einer weiteren Station der neuen Seidenstraße aufzeichnen und erzählen würden.
am 7.4.20 in der Metteilländischen erschienen:
https://www.mittellaendische.ch/2020/04/08/covid-19-eine-zwischenbilanz-oder-eine-analyse-der-moral-der-medizinischen-fakten-sowie-der-aktuellen-und-zuk%C3%BCnftigen-politischen-entscheidungen