Das Jahr 2009 war ein Erfolgjahr fuer den Neo-Individualliberalismus. Dieser geht davon aus, dass es unsere westliche Gesellschaft erfolgreich geschafft hat, die urspruenglich linksalternative Emanzipationsutopie der freien, individuellen Selbstentfaltung zu verwirklichen: Eine Frau aus Ostdeutschland ist Kanzlerin, ein Homosexueller ist CDU-Buergermeister in Hamburg, ein Schwuler aus der SPD ist es in Berlin, ein Gay von der FDP ist deutscher Aussenminister und ein nicht weisser Deutscher Gesundheitsminister. Eine lesbische Premierministerin rettet 2009 Island vor dem Staatsbankrott und in den USA wird zeitgleich ein Schwarzer Praesident. Allen Minderheiten und Benachteiligten stehen nun scheinbar die Tueren weit offen. Was zu der Annahme verleitet: Es gibt keine Randgruppen mehr!
Auf Basis dieser Annahme werden Schluesse gezogen, die ein absurdes, groteskes gesellschaftliches Bild zeichnen. So registriert beispielsweise der sich selbst als autonom empfindende neo-individualliberale Schwule >muslimische Schwulenhasser<, waehrend er beim weissen Nazi lieber empathisch auf proletarische Unbildung verweist. Die Gewichtungen verschieben sich in der Folge unbemerkt, kollektive Interessen geraten voellig aus dem Blickwinkel. Der Hinweis auf strukturelle Ungleichheiten gilt nun als Beweis ideologischer Verbohrtheit, >Erfolg< dagegen zunehmend als Ergebnis grossen individuellen Engagements und besonderer Begabung [und >Misserfolg< nicht zum Ergebnis etwa von Diskriminierung, sondern von mangelndem Engagement]. Es blueht ein Dogmatismus des Undogmatischen. Damit erledigt sich jede kritische Diskussion. Kritik wird auf >persoenliche Befindlichkeit< betroffener Subjekte reduziert und mit den neusten, objektiv-neutralen Zahlen entlarvt. Auch in der Kunst schlaegt der Neo-Individualliberalismus voll zu. Das Werk ZEIGEN von Karin Sander ist nur ein Beispiel neo-individualliberaler Kunst, in all seiner herzenskalten Beliebigkeit, die sich hinter Sprachfloskeln und konstruiertem Tiefsinn verbirgt, siehe hier. Die groesste und wirksamste Kraft des Neo-Individualliberalismus besteht gegenwaertig in seiner Unsichtbarkeit, Unwahrgenommenheit und damit seiner Unangreifbarkeit: In der Maske des Selbstverstaendlichen lauert der neue Terror. Er kommt aus der Mitte.
Ein Text zur Neo-Individualliberalen Kunst am Beispiel der aktuellen Ausstelllung in der Temporären Kunsthalle findet sich auch unter: http://www.jungewelt.de/2010/01-02/011.php
Großartig, Wolfgang!