Die Umbrüche, Übergangspläne und Verwerfungen der Gegenwart lassen uns vergessen, was in den postsozialistischen Ländern nach 1989 eigentlich passiert ist. Doch gerade die Aufarbeitung dieser Phase wäre von großer Bedeutung, um das Jetzt besser zu verstehen, argumentiert der Künstler, Autor und Kurator Stefan Tiron in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
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“Ihre Neugier ist legendär […] und daher auf zwölf Kommastellen berechenbar.” (Lord Dread, “And Study War No More,” Captain Power, episode 8, 1987)
Dass die Geschichte 1989 nicht zu Ende ging, ist kein Geheimnis mehr. Es ist eher so, dass die Dinge nach der russischen Aggression gegen die Ukraine immer verworrener und rätselhafter erscheinen. Der vorliegende Aufsatz endet mit einer Vermutung – unter Rückgriff auf Science-Fiction-Tropen über den langen Übergang nach 1989.
Dabei wird allgemein anerkannt, dass Fiktionen keine Brücke schlagen und auch keine vermeintlichen Sprungbretter zu dem sind, was außerhalb liegt (außerhalb des Geltungsbereichs unserer Philosophie oder Wissenschaft, unserer Modelle, unserer Vorhersagen). Stattdessen vergrößern und verbreitern Fiktionen jene “Taschen der Unverständlichkeit”, die dazu neigen, sich anderswo zu reformieren und neu zu gruppieren, wenn, und nur wenn die Vernunft ihrer unendlichen Aufgabe gewachsen ist, wie es der Philosoph und Ex-Maoist der Gauche Prolétarienne Guy Lardreau 1988 zu formulieren versuchte.
“Vorhersehbar sein oder nicht sein”
Unser von Long COVID geprägtes Geschichtsbewusstsein wurde einmal mehr durch die brutale Erkenntnis erschüttert, dass man sich nicht zu sehr an “Vorhersagemodelle” klammern darf, die ständig mehr Daten, Datenverarbeitungen und “Strukturanpassungen” benötigen. Die Ungewissheit ist noch lange nicht verschwunden und durchdringt alles, von der Wirtschaft über neurologische Modelle des menschlichen Geistes als “hochentwickelte Vorhersagemaschine” (Anil Seth) bis hin zu den sehr realen Abstraktionen, die sowohl mathematisch als auch metaphysisch als gemeinsamer Produktionsmotor arbeiten, wie Justin Joque in seinem jüngsten Buch “Revolutionary Mathematics” darlegt. Man spricht von einem neuen Kalten Krieg oder vom “Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen” – alles in kognitiver Dissonanz zu den Fakten vor Ort.
Müssen wir wirklich die wohltuenden Briefe des Vermögensverwalters Larry Fink an seine BlackRock-Aktionäre lesen, in denen er die “Polykrisen” unserer Zeit (Pandemie, Energiewende, Verlust der Artenvielfalt, Nahrungsmittel- und Wasserknappheit) diagnostiziert, nur um eine solche kognitive Dissonanz zu erleben? Vielleicht nicht, auch wenn man fieberhaft versucht, sich neu zu positionieren, den bisherigen Status quo zu festigen oder abwechselnd aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und weitere Brennstoffe zu kaufen oder selbstzerstörerische Maßnahmen wie die Subventionierung von Diesel und öffentlichen Verkehrsmitteln einzuführen.
1990er Jahre Hardcore-Ur-Übergangsjahre
Was ist von diesen Schnellschüssen zu halten, einschließlich der Löschung persönlicher Tweets? “Entkopplung” oder “Übergang” bedeuten vor Ort unbequeme Wahrheiten, einschließlich des Austauschs unordentlicher Allianzen gegen noch unordentlichere (Russen gegen Saudis). Inmitten all dessen herrscht eine zunehmende Vergesslichkeit und eine ausgeprägte Amnesie darüber, was nach 1989 geschehen ist, oder wie wir diese historisch relevanten Ereignisse im Lichte des gegenwärtigen Übergangs genau bewerten sollen.
Es herrscht eine trübe Erinnerung an die1990er Jahre, in denen der Übergang von der Planwirtschaft zum Fundamentalismus der freien Marktwirtschaft, zu den Finanzmärkten und zur “Schocktherapie” erfolgte, die Osteuropa und den Sowjetblock umstrukturierte. Um diese ökonomische oder historische Abrechnung mit dieser Übergangszeit noch komplizierter zu machen, werde ich eine weitere Dimension hinzufügen, eine SF-Dimension. Denn der Phasenraum des Ostblocks scheint in etwas gefangen zu sein, das an Marvels “Doctor Strange in the Multiverse of Madness” erinnert.
Eine Vielzahl von undifferenzierten Übergangszuständen
Es ist, als wäre das Portal von 1989 zu lange geöffnet geblieben, und wir werden nun alle durch diese unvollständigen oder falsch berechneten Übergänge neu formatiert. Ohne also den Übergang im Sinne eines bestimmten Kontextes, historischer oder geopolitischer Umstände (von diesem zu jenem) aufzugeben, sollten wir ihn eher als eine Vielzahl von undifferenzierten Übergangszuständen betrachten; von einem extraktiven Regime zu einem anderen extraktiven Regime, von einer kohlenstoffintensiven zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft, aber auch von öffentlichem Eigentum an Europas ungenutzten alten Wäldern zu Ikeas “ständiger Reserve” (derzeit Rumäniens größter Landbesitzer) und zu digitalem Feudalismus (oder Techno-Feudalismus), in dem IT-Unternehmer, die von VC unterstützt werden, zu Großgrundbesitzern werden, indem sie öffentliches Land umzäunen oder Hirtenpfade im Namen von Effizienz oder guter Tierhaltung unterbrechen usw.
Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass derzeit eine Entwicklung hin zu verstärktem Militarismus und Säbelrasseln zu beobachten ist, sowie zu dem, wovor der Friedensökonom John Kenneth Galbraith (1908-2006) immer gewarnt hat: militärische Defizitausgaben als Wachstumsmotor. Die demokratischen Staats- und Regierungschefs erhöhen den Einsatz – mit vorhersehbar höheren Militärbudgets sowohl für Deutschland als auch für die USA und Joe Bidens Vorschlag für satte 813 Milliarden Pentagon-Verteidigungsausgaben, und das zu einer Zeit, in der die USA mehr Geld für die Verteidigung ausgeben als alle anderen, in den Worten von Senator Bernie Sanders: mehr “als die nächsten 11 Länder zusammen”. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels sollen NATO-Truppen nach Ungarn, Bulgarien, Rumänien und in die Slowakei verlegt werden.
Schocktherapeutische Übergänge und Übergangstraumata
Um diese vielfältigen Übergänge besser zu verstehen, werde ich Sie nicht an Expert*innen oder Analyst*innen verweisen, sondern an einen seltsamen kleinen TV-Moment, an den ich mich noch aus den frühen 1990er Jahren erinnere. Er wurde im rumänischen Fernsehen ausgestrahlt, und die Reporter vor Ort fragten einen jungen Bergarbeiter aus der größten Kohlebergbauregion Rumäniens (Valea Jiului), warum er gekommen sei, um zu demonstrieren und zu protestieren, und was seine konkreten Forderungen seien.
Er könnte mit anderen Bergarbeitern, jungen und alten, marschiert sein, die alle von einem ehemaligen Präsidenten aus ihren Bergbaustädten in die Hauptstadt Bukarest gelockt wurden und auf dem besetzten Universitätsplatz neben der Architekturfakultät gegen vage “Maidan”-ähnliche Sitzstreiks antraten. Oder er marschierte später gegen die Regierung, die die Bergleute um Hilfe gebeten hatte, um die Hauptstadt “zu säubern und die Ordnung wiederherzustellen”. Ich habe selbst miterlebt, wie Bürger der Hauptstadt den Bergarbeitern halfen und ihnen Unterschlupf und Wasser gaben, während die Polizei Tränengas einsetzte und sie verfolgte.
Leider ist das, was in der öffentlichen Wahrnehmung übrig geblieben ist, eine giftige Informationsflut von brutalen Fernsehszenen unglaublicher Gewalt, die von Bergleuten gegen eben jene Bürger*innen der Hauptstadt verübt wurde, die sie eigentlich schützen sollten. In wenigen Jahren wurde die Bergarbeitergewerkschaft, eine der mächtigsten und angesehensten des Landes, deren Forderungen und Nöte selbst Nicolae Ceausescu Ehrfurcht einflößten, völlig geschädigt, ihrer früheren Verhandlungsmacht beraubt und in Elend und Armut gestürzt, wie ein entfernter Nachhall der Gewerkschaftszerschlagung in der Ära Margaret Thatcher nach den Bergarbeiterstreiks von 1984/85. Ob man es nun mag oder nicht, diese “Mineriade” signalisierte Rumäniens schocktherapeutische Übergangsjahre von der Schwerindustrie und den fossilen Brennstoffen hin zu rascher Deindustrialisierung, wachsender Ungleichheit, Globalisierung, NATO, digitalem Outsourcing, europäischer Müllverbrennung und Gastarbeiterstatus. Dies wurde bereits von vielen anderen kommentiert, so dass ich hier nicht weiter darauf eingehen und mein Urteil über diese Übergangstraumata abgeben möchte.
An der Spitze einer ungemütlichen Zukunft
Ich habe versucht, ein dunkles und gewalttätiges Kapitel des Übergangsextraktivismus in Rumänien zusammenzufassen, um etwas anderes herauszuarbeiten: eine verblüffende anekdotische Antwort, die dieser junge Bergmann zur besten Sendezeit im nationalen Fernsehen gab. Seine Antwort auf die Frage des Fernsehteams war einfach:
“Ich bin zum nationalen Fernsehen gekommen [der nationale Fernsehsender wurde bei einer Protestwelle ebenfalls von Bergleuten gestürmt], um mehr Folgen von “Captain Power und die Soldaten der Zukunft” zu fordern!”
Heute wäre dies ein perfektes Meme, das seinen Platz in der Datenbank von knowyourmeme.com verdient hätte, wenn es nicht im Vor-Internet-Zeitalter des Kabelfernsehens verloren gegangen wäre. Diese rätselhafte Antwort verfolgt mich seit Anfang der 1990er Jahre, und ich habe sie in einer Ausstellung über SF-Temporealitäten in Bukarest im Scena 9 BRD Residency Space versuchsweise erkundet. Das Besondere an dieser Antwort ist, dass sie unseren eingefahrenen Vorstellungen zuwiderläuft und unser Verständnis von Übergangszeiten und Transformationszeiten auf einen Schlag in Frage stellt.
Wir haben einen rußverschmierten Bergarbeiter in voller Arbeitsmontur, der im Grunde wie ein Fan spricht und verlangt, dass seine Lieblingssendung ausgestrahlt wird, sonst gibt es Ärger. Wir befinden uns nicht am unteren Ende der Geschichte, sondern an der Speerspitze einer unbequemen Zukunft.
Die Zerstörung der eigenen Welt ertragen
Es gibt hier eine tiefere Ironie, denn dieser Bergarbeiter sollte bald im Fernsehen zu seinem eigenen schlimmsten Feind werden, vom Helden der Arbeiterklasse zu einem durch Umweltverschmutzung geborenen Anti-Helden-Mutanten im Dienste der Troma-Studios. Er wurde “digitalisiert” (im Slang des fiktiven Captain Power-Universums) und zu einem Beispiel für das, wovon sich die steuerhinterziehenden Big Tech- und FinTech-Unternehmen zu distanzieren versuchten, indem sie alle Rußpartikel in eine Blackbox packten, um ihren eigenen Kohlenstoff-Fußabdruck und ihre energiehungrigen Blockchain- und Krypto-Mining-Praktiken zu verschleiern.
Die Antwort dieses jungen Bergarbeiters betrifft uns alle, denn sie markiert einen Übergang von fossilen Brennstoffen zu Data Mining oder von der Rohstoffindustrie zu “The Cinematic Mode of Production”: Aufmerksamkeitsökonomie und die Gesellschaft des Spektakels”, die Jonathan Beller analysiert hat. Es ist eine Antwort, die sich quer durch alle Branchen, alte Kohlenstoffideologien und neue, noch nie dagewesene Arten von Erfahrungen zieht, von Kohlebergbaustädten bis zu Data-Mining-Farmen, von der Förderung fossiler Brennstoffe bis zum Binge-Watching bei “Netflix and Chill”.
Binge-Watching war nicht nur unter COVID-19-Bedingungen populär (für die glücklichen Privilegierten, die es sich leisten konnten, zu Hause zu bleiben), sondern wird auch in SF-Erzählungen selbst als ein großer und verachteter Teil des Erlebens thematisiert. Relativ erfolgreiche zeitgenössische SF-Zyklen wie Martha Wells’ “The Murderbot Diares”, ins Deutsche übersetzt als “Tagebuch eines Killerbots” (Killerbot-Reihe), beinhalten das “Binge-Watching” von Seifenopern als einen zentralen Teil der sich ständig weiterentwickelnden Erfahrungspalette eines künstlichen Wesens. Anstatt vorprogrammierte Anweisungen zu befolgen, modifiziert und übersteuert eine Sicherheitseinheit ihr eigenes Steuerungsmodul und lernt so, sich in Menschen und andere KIs einzufühlen und sich um sie zu kümmern, und zwar durch ihre umfangreiche Erfahrung mit solch niederen Kulturprodukten wie Seifenopern.
Ja, “Captain Power”, die Lieblingsserie des rumänischen Bergarbeiters (eine postapokalyptische kanadische SF-Serie wohlgemerkt), war sicherlich ein fehlerhaftes Produkt, und doch behandelte es Themen wie Militarismus, gewaltsame Digitalisierung, Thermopolitik und die Frage, was es bedeutet, mit dem Verlust und der Zerstörung der eigenen Welt zu leben.
Anm.d:Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de