Ich bin Nostalgikerin. Ich verklaere meinen Lieblingsbahnhof Ostkreuz. Jeden morgen erklimme ich die angerostete Treppe, um auf den Bahnsteig D zu gelangen. Ich vermeide die fuenfte Stufe im dritten Treppenblock, weil der Beton dort bruechig ist. Ich weiss genau, von wo aus es sich lohnt, loszuhasten, um die S-Bahn noch zu erreichen. Die Holzbank am Taubennest- pfeiler auf dem Bahnsteig entspricht der Lage der Rolltreppe am Bahnhof Friedrichstrasse.
Jedenfalls tat sie das jahrelang. Es ist nicht direkt so, dass die Rolltreppe ihre Lagekoordinaten geaendert hat. Damit koennte ich leben. Die Bank wurde ver- schoben. So begruessten mich die Umbaumassnahmen am Ostkreuz.
Am naechsten Tag klaffte ein grosses Loch neben dem Doenerladen und das Dach ueber dem Bahnsteig glaenzte durch Abwesenheit. Bis zu diesem Tage hatte es dies nur durch Taubenkot getan. Mittlerweile glaube ich, dass ich doch fortschrittsfeindlicher Mensch bin. Tag fuer Tag beobachte ich die Neuerungen und wuensche mir nichts sehnlicher zurueck, als das alte Rostkreuz. Die S-Bahn Berlin sieht einen zehnjaehrigen Umbau vor, der ueber 400 Millionen Euro kosten soll. Das Rostkreuz wird einem Protzkreuz weichen. Es ist eine Kuppelhalle als Ueberdachung geplant. Eine sterile Stahl- und Glaskonstruktion, die schon Suedkreuz und Hauptbahnhof den Charme einer ungemuetlichen Abfertigungshalle verlieh.
Ich hoffe auf den Denkmalschutz, dem einige Teile des Ostkreuzes unterstehen. Seit einiger Zeit residiert ein graues Stahlungetuem ueber den Bahnsteigen, welches die Fussgaengerbruecke ersetzen soll. Letzte Woche sah ich Daniel Bruehl in >Good Bye Lenin!< eben jene hochstuerzen. Das Ostkreuz als Filmstar! In dem Film geht es um einen Sohn, der fuer seine Mutter nach der Wende die Illusion der Existenz ihrer Heimat DDR aufrecht erhaelt. Bald wird die Behelfsbruecke eingeweiht werden. Es wird keinen bruechigen Beton geben, aber ich werde die fuenfte Stufe vermeiden.
Schade. Ein Stück geschichte verwandelt sich in Bushaltestellenflair.