Laizismus bedeutet, dass staatliche Einrichtungen und Institutionen keine religiösen Interessen vertreten oder bevorzugen dürfen, also in diesem Sinne neutral sein müssen. Wenn diese Trennung auf der Idee der Religionsfreiheit beruht, dann stellt sich die Frage, wie barrierefrei diese Religionsfreiheit umgesetzt wird – beispielsweise in Bildungseinrichtungen. Melike Balkan begibt sich in ihrem Universitätsalltag auf Spurensuche.
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Im Folgenden wird ein kleines Geheimnis gelüftet und vielleicht führt es zu etwas mehr Verständnis. Es geht darum, wie muslimische Studierende trotz fehlender Gebetsräume an den Universitäten einen Weg finden, ihre Gebete zu verrichten. Fragen Sie die Securityarbeiter*innen einer Bibliothek, sie werden es vermutlich wissen. Sie werden wahrscheinlich von Teppichen erzählen, die sie in verlassenen Treppenhäusern gefunden haben.
Zwischen Treppenhäusern und Passant*innen
Dieses Problem ist eher unsichtbar. Es betrifft vor allem muslimische Studierende, die Schwierigkeiten haben, ihren Gebetspflichten pünktlich nachzukommen. Sie müssen improvisieren und Lösungen finden, ohne großes Aufsehen zu erregen. Ich gehöre dazu. Ich bin eine von vielen.
Es ist 13.45 Uhr und ich habe 15 Minuten Zeit, mir eine ruhige Ecke zu suchen, um mein Gebet zu verrichten. Allein dieser Satz lässt ein Unbehagen in mir aufsteigen, denn wer soll das schon verstehen? Nachdem ich den Aufzug im obersten Stockwerk verlassen habe und noch eine weitere Treppe hinaufgestiegen bin, hoffe ich auf ein ruhiges Plätzchen. Mit gespitzten Ohren lausche ich, ob jemand vorbeikommt. Mit viel Nervosität versuche ich, die Welt, meine Sorgen, den Alltagsdruck zu vergessen und mir fünf Minuten für meine wichtigste Priorität im Leben zu nehmen.
Das Gebet ist für mich mehr als ein Ritual. Es ist ein Moment, um zur Ruhe zu kommen, den Alltag hinter mir zu lassen. Doch es fühlt sich stets wie eine Gratwanderung an: zwischen dem Bedürfnis nach Ruhe und dem Druck, nicht aufzufallen. Ich frage mich immer wieder, warum das so ist.
Ist es die tief verwurzelte Überzeugung, dass es sowieso nichts bringt, das Problem anzusprechen? Praktizieren wir vielleicht sogar unbewusst vorauseilenden Gehorsam, weil wir glauben, die ‚Oberen‘ würden den Wunsch nach einem Gebetsraum sowieso ablehnen? Ist es einfacher, sich mit dem Bestehenden zu arrangieren? Hinter diesen Fragen stehen Annahmen, die unsere Zurückhaltung erklären könnten. Und sie verweisen auf Kommunikationsschwierigkeiten, die wir natürlich längst akzeptiert haben. Das ist für uns ‚normal‘. Manche verzichten deshalb bewusst auf ihre Gebete und holen sie erst zu Hause nach, so wie uns immer wieder geraten wird, wenn wir doch einmal ins Gespräch kommen: „Warum betet ihr nicht einfach zu Hause?“ Das widerspricht natürlich dem Sinn der fünf täglichen Gebete, die über den ganzen Tag verteilt sind. Entsprechend ist der Bedarf an geeigneten Räumen groß, und viele würden sich besser fühlen, wenn es solche Räume gäbe.
Kleiner Raum, große Verbindung
Vielleicht hätten auch die Leute nichts dagegen, die tatsächlich mal eine/n von uns ‚erwischen‘. Einmal blieb ein IT-Mitarbeiter hinter mir stehen, als ich betete. Er stand still und wartete, bis ich fertig war, bevor er an mir vorbeiging. Ich weiß nicht, was in diesem Moment in seinem Kopf vorging, aber er war respektvoll, stellte keine Fragen und wartete einfach. Ist so etwas schon einmal passiert?
In einem Sozialraum der Humboldt Universität (HU), der wohl vor allem für Studierende mit Babys oder als allgemeiner Pausenraum gedacht ist, liegt ein großer Gebetsteppich. Ich trage mich in die Liste für den Sozialraum ein, um den Schlüssel zu bekommen und lese nur türkische und arabische Namen auf der Liste. Der Schlüssel ist natürlich nicht da, aber ich klopfe trotzdem. Die Tür öffnet sich und schon sehe ich fünf Studentinnen in dem kleinen Raum, die mich herzlich begrüßen und sofort Platz zwischen ihren Reihen machen. Das war nur eine von vielen Begegnungen, die ich hatte. Man ist sich fremd und findet doch eine Verbindung. Und ich denke: Vielleicht ist das die wahre Schönheit inmitten der Hektik des Alltags – eine gemeinsame Priorität, die uns zusammenführt.
In der Prüfungszeit ist der Sozialraum ständig belegt. Weil so viele Studierende in der Bibliothek sind und auf andere Orte ausweichen müssen. Dann werden die hinteren Treppenhäuser des Grimm-Zentrums zu improvisierten Gebetsräumen. Es ist üblich, kleine Zettel auszutauschen, auf denen steht, dass man den Gebetsteppich eines anderen benutzen darf. Manche hinterlassen auch gute Wünsche wie „Viel Erfolg beim Lernen, möge Allah uns dabei helfen“. Das bleibt auch in der Bibliothek nicht unbemerkt: „[…] aus brandschutztechnischen Gründen ist es nicht erlaubt, Brandlasten wie Teppiche und andere textile Gegenstände im Treppenhaus zu lagern. Bitte nehmen Sie diese nach Ihren Ritualen wieder mit, sonst werden sie im Auftrag der HU-Bibliothek entfernt.“
Kein Raum für Stille
Es ist ein einfaches Bedürfnis, das wenig Organisation erfordert: Ein kleiner, leerer Raum genügt, um der wachsenden muslimischen Gemeinde gerecht zu werden. Wenn das aus Gründen der Laizität nicht möglich ist, verstehe ich das. Denn ich weiß und respektiere natürlich, dass ein säkularer Staat seine Neutralität in religiösen Angelegenheiten wahren muss. Gleichzeitig erwarte ich aber auch Respekt und Verständnis, wenn ich mir in einem unbenutzten Treppenhaus einen Platz suche, an dem mich niemand stört und ich mich sicher fühlen kann, ohne Angst vor Anfeindungen haben zu müssen.
Die jüngsten Ereignisse an verschiedenen Berliner Hochschulen geben Anlass zu dieser Befürchtung. So wurde an der Evangelischen Hochschule Berlin ein ‚Raum der Stille‘ als religionsneutraler Ort für Gebet, Meditation, Einkehr und Besinnung eingerichtet. Nach der Eröffnung wurden jedoch Gebetsteppiche, Gebetskleidung, Gebetsketten und ein Koran entwendet. An der Technischen Universität hingegen wurden Schilder angebracht, die darauf hinweisen, dass es keinen Gebetsraum gibt, was indirekt signalisiert, dass das Gebet dort nicht erwünscht ist.
Angesichts dieser Vorfälle scheint das Problem doch nicht so unsichtbar zu sein, und die Universitäten scheinen zu wissen, was vor sich geht. Dass das Gebet nicht erwünscht ist, wird nicht offen kommuniziert, sondern als Konsens vorausgesetzt. Die andere Seite der Medaille ist das offene Geheimnis, dass Studierende an einem versteckten Ort beten.
Obwohl die Studierenden kreative Wege finden, ihre Praxis aufrechtzuerhalten, bleibt zu hoffen, dass die Hochschulen in Zukunft mehr Verständnis für diese Bedürfnisse aufbringen und Räume für Inklusion schaffen. Dazu bedarf es einer offenen Kommunikation und eines Austausches, der die Bereitschaft beider Seiten voraussetzt.