Menschen wollen vergessen werden – doch sollte es in der Internet-Gesellschaft ein Recht darauf geben?

Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshof im Falle “Mario Costeja Gonzalez vs. Google” wird vermutlich als das “Recht auf Vergessenwerden” in die Geschichte eingehen: Links zu Suchergebnissen über eine Person können auf Anfrage gelöscht werden. Wie wird sich das Urteil auf Gesetze in den USA und in der EU auswirken? Die Juristin Avantika Banerjee kommentiert.

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Laut der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, müssen in den angezeigten Ergebnissen von Suchmaschinen wie Google, Links gelöscht werden, die das Persönlichkeitsrecht einer Privatperson erheblich beeinträchtigen.

Auch wenn es sich bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht um ein “Recht auf Vergessenwerden” handelt, sondern eher um ein Recht auf “Erschwerung von Informationsbeschaffung im Internet”, hat sich diese Bezeichnung in der breiteren Öffentlichkeit durchgesetzt (oft wird auch nur von einem “Recht auf Vergessen” gesprochen). Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zeigt, dass die Ansichten der EU und der USA immer weiter auseinanderdriften, was die Regulierung und Rechtsprechung im Netz anbetrifft.

Man kann noch viel weitergehen und konstatieren, dass diese Entscheidung ganz grundlegende ideologische Unterschiede zwischen der EU und den USA ans Licht bringt. Auf der einen Seite haben wir die europäische Auffassung, die die Persönlichkeits- und Bürgerrechte sowie in den Schutz der Privatsphäre in den Mittelpunkt rückt. Auf der anderen Seite gibt es die Sicht der USA, bei der die freie Meinungsäußerung und das Recht auf Informationsbeschaffung eindeutig mehr Gewicht haben.

Auseinanderdriftende Ansichten: Individuelle oder Kollektive Schutzrechte?

Das oben beschriebene Auseinanderdriften hinsichtlich Privatsphäre- und Informations-Standards zwischen den USA und der EU findet schon seit geraumer Zeit statt und lässt sich gut nachzeichnen.

So wurde bereits in den 1990er Jahren in der EU die Richtlinie 95/46/EG (Datenschutzrichtlinie) erlassen. Diese Richtlinie untersagte es, dass personenbezogene Daten an Nicht-EU-Staaten übermittelt werden dürfen, die die festgelegten Standards zum Schutz der Privatsphäre nicht erfüllen.

Die USA wollten die festgelegten Standards nicht einhalten, was zu einem US-EU-Safe Harbor-Abkommen führte. Auf diese Weise konnten US-Firmen, die den Kriterien des „Safe-Harbor“ entsprachen, personenbezogene Daten von Kunden aus der EU nutzen und Geschäfte in der EU machen. Und: Jüngst hat die französische Datenschutzbehörde die Firma Google mit einer Geldstrafe belegt, weil sie nicht gemäß den Datenschutzrichtlinien operierte.

Was ist noch privat, was öffentlich?

Die EU-Ideologie hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre wurde kürzlich von dem Rechtsgelehrten Jeffrey Rosen wie folgt beschrieben: „Die geistigen Ursprünge eines „Rechts auf Vergessenwerden“ können in Europa in der französischen Rechtsprechung gefunden werden. Hier finden wir ein Gesetz, das diesen Titel trägt: das „droit à l’oubli“7. Dieses Recht erlaubt es einem verurteilten Kriminellen, der seine Strafe verbüßt und sich rehabilitiert hat, gegen die Veröffentlichung jeglicher Informationen, die seine Verurteilung und Inhaftierung betreffen, Widerspruch einzulegen.

In der EU wurde die Debatte „öffentlich vs. privat“ sehr intensiv ausgetragen, immer vor dem Hintergrund der Frage, was genau Persönlichkeitsrechte heutzutage eigentlich sind. In diesem Sinne ist das aktuelle Urteil zum „Recht auf Vergessenwerden“ eine logische Konsequenz der EU-Haltung zu der Frage, wie Persönlichkeitsrechte im Digitalzeitalter ausgestaltet werden müssen. Das Gerichtsurteil gibt Privatpersonen mehr Macht, sich im Internet zu schützen.

In den USA wurde das Urteil jedoch gänzlich anders aufgenommen. Die New York Times beispielsweise verfasste einen kritischen Leitartikel, der zu dem Schluss kam, dass das Urteil die Presse- und Meinungsfreiheit unterminieren könne. Eine Folge könnte sein, dass Europäer in Zukunft „weniger informiert“ sind. Richter sollten, nach Meinung der New York Times, kein Recht auf den Weg bringen, das so mächtig sein könnte, dass es zur Einschränkung der Pressefreiheit führen könnte. Oder gar Individuen das Recht geben könnte, das bestimmte Informationen in Nachrichtenarchiven ausgeblendet würden.

Individuelle Rechte und das Recht der Allgemeinheit auf freien Zugang zu Information

Allein die Vorstellung, das ein Individuum Informationen „zensieren“ könnte, ist aus us-amerikanischer Perspektive eine Intervention in das fundamentale Recht auf freie Meinungsäußerung (free speech). Gerade das Internet scheint seine Kraft aus der Tatsache zu ziehen, dass keine Regierungen oder Institutionen es regulieren.

Auf einem theoretisch-abstraktem Level stimme ich mit dem Europäischen Gerichtshof überein: Persönlichkeitsrechte müssen beschützt werden. Doch wenn man sich einige Passagen des Gesetzes im Wortlaut anschaut, bleiben erhebliche Zweifel, wie das Urteil in der Rechtsprechung praktisch umgesetzt werden soll, bleibt es doch an vielen Stellen viel zu unspezifisch und lässt Spielraum für Interpretationen.

Die Hingabe der EU, wenn es um Fragen des Schutzes von Privatsphäre und personenbezogenen Daten geht, ist wirklich bewundernswert und hat Maßstäbe für weltweite Regelungen gesetzt. Werden in andere Länder, das „Datenschutzregime“ adaptieren und mit dem Hinweis auf das „Recht auf Vergessenwerden“ in Zukunft wichtige Informationen aus dem Netz löschen? Wikipedia-Gründer Jimmy Wales warnt bereits vor einer umfassenden Zensur des Netzes. Wird es noch mehr dazu führen, dass verschiedene Länder verschiedene Versionen des Internet zu sehen bekommen?

Anm. d. Red.: Weitere Texte zu diesem Thema finden sich in unserem Dossier Post-Snowden. Das Foto oben stammt von Henry Lydecker und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

3 Kommentare zu “Menschen wollen vergessen werden – doch sollte es in der Internet-Gesellschaft ein Recht darauf geben?

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