Die Gewalt gegen rassialisierte Personen an den Staatsgrenzen hat in den letzten Jahren zugenommen. Dies ist von Aktivist*innen häufig erfolgreich angeprangert worden. Weniger im Fokus: die Gewalt an Staatsgrenzen im Inneren, etwa auf öffentlichen Plätzen in Innenstädten bei anlasslosen Personenkontrollen. Svenja Keitzel lenkt den Blick auf diese alltäglichen Begegnungen mit der Staatsmacht und zeigt deren gravierende Folgen für die Betroffenen und die Demokratie.
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Begegnungen mit der Polizei sind folgenreich, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die einen erleben die Polizei als Schutz und Hilfe. Dies kann das Vertrauen in eine funktionierende, demokratisch legitimierte Polizei stärken. Andere wiederum machen die Erfahrung, von der Polizei kriminalisiert oder nicht ernst genommen zu werden. Dies kann sich negativ auf die gesellschaftliche Teilhabe und das Vertrauen in den Staat auswirken. Das folgende Zitat verdeutlicht meine These, dass der Moment der Begegnung mit der Polizei sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine besondere Wirkmacht hat. Einer meiner Interviewpartner erzählt von seinen Gedanken, nachdem er wiederholt von der Polizei für eine Identitätskontrolle am Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt angehalten wird. Er sagt: „Da habe ich das erste Mal gedacht: ‚Du bist ein Ausländer‘“.
Dass er keinen deutschen Ausweis hat und formal ein ‚Ausländer‘ ist, ist ihm schon vorher bewusst. Vor diesen Erfahrungen ist dies jedoch kein Begriff, mit dem er sich identifiziert. Erst durch die wiederholten Kontrollen und die Beobachtung, dass immer er und andere nicht-weiße Personen angehalten werden, wird ihm bewusst, dass er aufgrund seines Aussehens als Nicht-Deutscher gelesen und deshalb kontrolliert wird. Erst durch diese selektive Polizeipraxis schreibt sich ‚das erste Mal‘ in sein Selbstbild ein, dass er, wie er sagt, ‚ein Ausländer‘ ist. Und genau solche Erfahrungen, nämlich die von People of Color, Schwarzen Menschen und als migrantisch gelesene Menschen mit der Polizei habe ich in meiner Doktorarbeit (Keitzel 2024) untersucht.
Zu den ‚klassischen‘ Fällen gehört Racial Profiling. Das heißt, wenn polizeiliche Maßnahmen wie Identitätskontrollen aufgrund diskriminierender Zuschreibungen (ethnische Zugehörigkeit, phänotypische Merkmale, nationale Herkunft oder Religion) und nicht aufgrund konkreter Straftaten oder konkreter Verdachtsmomente erfolgen. Außerdem sind solche Begegnungen mit der Polizei zentral, bei denen die Person, die sich an die Polizei wendet, keinen Schutz und keine Hilfe erfährt. Darüber hinaus ist auch der Ort der Begegnung für die Situation bedeutsam. Hierfür möchte ich ein zweites Beispiel anführen.
Overpolicing, Underprotection und die (Re-)Produktion von Rassismus
Ein etwa 30-jähriger Mann, der aus Afghanistan geflohen ist und nun in Deutschland in einer Großstadt lebt, verlässt mit seinem aus dem Iran geflüchteten Freund den Hauptbahnhof. Dort werden sie von der Polizei für eine Identitätskontrolle angehalten. Mein Interviewpartner erzählt, dass sein Freund aufgrund von Gewalterfahrungen mit der Polizei im Iran große Angst davor hat. Er erzählt: „Ich werde diesen Tag nie vergessen, weil er zitterte. Und ich habe [der Polizei] gesagt: ‚Bitte, wir müssen gehen‘“. Der Polizist antwortet mit einem knappen „Nein“, woraufhin mein Interviewpartner den Polizisten fragt: „Was haben wir getan?“. Daraufhin herrscht zunächst Stille und der Polizist antwortet: „Ich habe dir gesagt, nicht reden“. Er bittet die Polizist*innen, schnell weitergehen zu dürfen. Die Polizisten reagieren jedoch nicht auf diese Bitte und zeigen keinerlei Empathie.
Diese Begegnung zeigt zweierlei. Erstens ist das Ignorieren der Hilfsbedürftigkeit des Mannes aus dem Iran, der sich offensichtlich in einem schlechten emotionalen Zustand befindet, ein Instrument zur Herstellung rassifizierter Differenz. Die Ignoranz gegenüber dem vermutlich traumatisierten Mann zeigt, dass die Polizei ihn in diesem Moment in erster Linie als zu polizierende Person ansieht und sie entsprechend anstrebt die Kontrolle durchzuführen. Die Polizist*innen zeigen keine Empathie oder Hilfe. Diese polizeiliche In-Aktivität, also das Ignorieren des Hilfsbedürfnisses bezeichne ich, wie auch andere an anderer Stelle (Saarikkomäki et al. 2020, Thompson 2021), als Underprotection. Rassifizierte Differenz kann also nicht nur durch polizeiliche Aktivität und das übermäßige Polizieren bestimmter Gruppen (Overpolicing, Saarikkomäki et al. 2020), etwa durch Racial Profiling, hergestellt werden, sondern auch durch In-Aktivität. Auch wenn wir an dieser Stelle nicht wissen, welche Motivation hinter dem Ignorieren der Hilfsbedürfnisses des Mannes steckt, kann festgehalten werden, dass es ignoriert wurde. Weder wurde empathisch auf den Mann reagiert, noch wurde die Notwendigkeit einer Kontrolle hinterfragt.
Offensichtlich haben die beiden Männer zu diesem Zeitpunkt keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen und werden dennoch kontrolliert. Dies führt zum zweiten Punkt: dem Ort der Begegnung. Der Ort der Kontrolle wird zur Bühne, auf der Differenz durch selektive Polizeipraxen (re-)produziert wird. Es handelt sich um einen öffentlichen, stark frequentierten und polizeilich überwachten Ort, an dem die Polizei nach dem Landespolizeigesetz verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen darf. Grundsätzlich ist eine Kontrolle ohne konkreten Verdacht oder das Vorliegen einer Straftat gesetzlich nicht vorgesehen. Denn eine Identitätsfeststellung stellt einen Eingriff in die Grundrechte dar. An diesen, wie sie oft genannt werden, ‚gefährlichen Orten‘ ist es der Polizei jedoch erlaubt, präventiv, also im Vorfeld einer möglichen Straftat, tätig zu werden. Diese so genannten verdachtsunabhängigen Kontrollen öffnen Tür und Tor für selektives und damit diskriminierendes polizeiliches Handeln (Keitzel 2020). Denn wenn nicht das konkrete Verhalten (das Begehen einer Straftat) einer Person ausschlaggebend ist, dann liegt es nahe, dass aufgrund des Aussehens bzw. Zuschreibungen aufgrund des Aussehens gehandelt wird.
In diesem Fall werden zwei Männer of Color vor den Augen von Passant*innen kontrolliert, was sie kriminalisiert und stigmatisiert. Obwohl sie keine Straftat begangen haben, erweckt die Kontrolle den Eindruck, dass sie kriminell seien. Diese negative Erfahrung belastet nicht nur die Betroffenen, sondern vermittelt auch den Passant*innen, dass sie durch die Polizei vor den vermeintlich ‚gefährlichen Anderen‘ geschützt werden.
Vom Moment der Begegnung und gesellschaftlichen Verhältnissen: Geographien der Begegnung
Um das wechselseitige Spannungsverhältnis zwischen der partikularen und der strukturellen Ebene für den Moment der Begegnung analytisch erfassen zu können, habe ich das Konzept der Geographien der Begegnung entwickelt. Die Geographien der Begegnung fassen die gesellschaftliche Situiertheit, die Alltäglichkeit und die Bedeutung von Raum als im Moment der Begegnung miteinander vermittelt. Ich konzipiere die Geographien der Begegnung in Anlehnung an Sara Ahmeds „Strange Encounters“ (2000). Dabei reichere ich Ahmeds Argument, dass im Moment der Begegnung Differenz (re-)produziert, verhandelt und herausgefordert wird, raumtheoretisch an. Geographien, d.h. die soziale Produktion von Orten, Räumen und Grenzziehungen, stehen in Wechselwirkung mit der Produktion von Differenz entlang von Körpern.
Im Moment der Begegnung mit der Polizei werden gesellschaftliche Phänomene konkret und greifbar. Sie werden verhandelt und wirken ihrerseits auf gesellschaftliche Verhältnisse zurück. Zugleich vollzieht sich die Begegnung immer in Wechselwirkung und Verbindung mit über den Moment der Begegnung hinausreichenden, z.B. nationalen und globalen Prozessen. Der partikulare Moment der Begegnung und die gesellschaftlichen Strukturen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Weil die Verortung der Begegnung diese (mit) strukturiert, gilt: Es ist nicht egal, an welchem Ort die Begegnungen stattfinden und es ist nicht egal, welche Körper sich begegnen. Ort, Begegnung und Körper stehen in einem ko-konstitutiven Verhältnis zueinander. Das heißt, dass im Moment der Begegnung, der stets räumlich vermittelt und situiert ist, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse (re-)produziert oder herausgefordert werden.
So kann eine konkrete Begegnung zum Ausgangspunkt genommen werden, um rassistische Polizeiarbeit und gesellschaftliche Verhältnisse zu untersuchen. Ich plädiere also dafür, das Konkrete und das Strukturelle zusammenzudenken. Auch wenn es sich um einen konkreten Fall handelt, heißt es nicht, dass es ein Einzelfall ist. Vielmehr ist der Fall in institutionelle und strukturelle Bedingungen eingebettet, die ihn ermöglichen. In solchen Begegnungen mit der Polizei wirkt Rassismus nicht nur auf der Ebene zwischen zwei Personen, sondern wird auch auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene (re-)produziert. Denn die Polizei hat aufgrund ihrer Aufgabe, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen, in besonderer Weise die Wirkmacht, ‚rassifizierte Andere‘ herzustellen und damit gesellschaftliche Differenzlinien und Spaltungen voranzutreiben. Zentral an diesem Ansatz ist, dass nicht nur exzessiv gewalttätige Begegnungen mit der Polizei in den Blick genommen werden können, sondern auch vermeintlich niedrigschwellige. Denn so schlimm Gewaltexzesse bis hin zu Tötungen zweifellos sind, so wenig darf der normalisierte Alltagsrassismus aus dem Blick geraten.
Rassistische Polizeipraxen in ihrer Komplexität verstehen
Damit komme ich zurück zu Overpolicing und Underprotection. Es ist von entscheidender Bedeutung, sowohl die polizeiliche Aktivität als auch In-Aktivität zu betrachten, um rassistische Praxen in ihrer Komplexität und strukturellen Eingebundenheit in Machtverhältnisse besser zu verstehen. Rassismus zeigt sich nicht nur durch übermäßige polizeiliche Aktivität wie Racial Profiling, sondern auch durch polizeiliche In-Aktivität, wenn betroffenen Personen Schutz und Hilfe verwehrt werden. Dies erweitert den Blick für rassistische Praktiken, die vermeintlich weniger offensichtlich oder spektakulär sind. Zudem ermöglicht dies ein tieferes Verständnis dafür, wie unterschiedliche Formen der Diskriminierung intersektional zusammenwirken.
Im Rahmen meiner Forschung habe ich den Fokus bewusst auf das Wissen von Rassismus betroffenen Personen gelegt. Bei der Wahl dieses Fokus habe ich mich insbesondere von zwei Gründen leiten lassen. Erstens sind gelebte Erfahrungen nicht ausschließlich individuell, sondern strukturell bedingt. Das heißt, wenn nicht-weiße Personen im Alltag von der Polizei rassistisch behandelt werden, spiegelt dies ein Geflecht von Erfahrungen wider, das von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzogen ist. Dieses Erfahrungswissen bildet eine wesentliche Grundlage, um gesellschaftliche Differenzordnungen und eben auch Rassismus besser zu verstehen.
Zweitens stellt dieses Wissen von Rassismus Betroffenen ein Gegennarrativ zur hegemonialen Erzählung der Polizei dar. Die Erfahrungen von Rassismus betroffenen Personen mit der Polizei sind sowohl im gesellschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs nach wie vor unterrepräsentiert; wenngleich spätestens durch die Black-Lives-Matter Proteste im Sommer 2020 ein Wandel erkennbar ist. Dieser Perspektivwechsel, weg von der der Polizei und anderen sicherheitsnahen Akteur*innen, die oftmals im Fokus solcher Untersuchungen stehen, kann dazu beitragen, die ungleiche Deutungsmacht zwischen Polizei und Bürger*innen, und hierbei insbesondere marginalisierte Stimmen, abzubauen. Dies kann zu einer Infragestellung vermeintlicher Normalitäten führen. Gesellschaftspolitisch ist dies wichtig, weil die Polizei eine enorm machtvolle Institution ist, die zu oft unhinterfragt bleibt bzw. zu wenig kritisch begleitet wird. Dies ist jedoch essenziell für eine demokratische Gesellschaft.