
Ein Anime, in dem berühmte Schriftsteller*innen der Weltliteratur die Hauptrollen spielen, hat eine überraschende Kontroverse in den sozialen Medien ausgelöst. Nico Taibner zeigt, warum es dabei unerlässlich ist, die uralte Frage nach der Verbindung/Trennung von Autor*in und Werk im Kontext der Fragen zu reflektieren, die durch die MeToo-Bewegung aufgeworfen worden sind – und warum es an der Zeit ist, kulturpessimistische Vorurteile gegenüber ‚Tiktok-Brainrot‘ zu überwinden.
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„Bungo Stray Dogs“ ist eine Zeichentrickserie aus Japan, die auf einem gleichnamigen Manga basiert. Die Serie handelt von bekannten Autor*innen der Literaturgeschichte. Allerdings sind sie in diesem Universum nicht nur Schriftsteller*innen, sondern haben übernatürliche Fähigkeiten und arbeiten für eine geheime Regierungsbehörde, die sich mit streng klassifizierten Verbrechen befasst.
Wie in Action-Manga üblich, wird viel Zeit auf die exzessive Darstellung von Kämpfen verwendet, in denen die Figuren ihre Superkräfte bis ins kleinste Detail zur Schau stellen können. Die Superkräfte sind meist nach ihren bekanntesten literarischen Werken benannt. So heißt die Superkraft des Schriftstellers Nikolai Gogol wie seine berühmte Kurzgeschichte „Der Mantel“, und die Fähigkeit des Dracula-Autors Bram Stoker trägt passenderweise den Namen ‚Vampirismus‘.
Zwei Figuren haben sich in den sozialen Medien als besonders beliebt erwiesen: der Autor des Romanklassikers „Gezeichnet“, Osamu Dazai, und der weltberühmte Schriftsteller Fjodor Dostojewski. Im Gegensatz zu ihren verstaubten Porträts oder Schwarz-Weiß-Fotografien sind beide als schlanke Gentlemen mit langen dunklen Haaren und einem verschmitzten Lächeln dargestellt. Gerade unkonventionell genug, um als attraktiv zu gelten, aber noch nicht so unkonventionell, dass man sie als Freaks abtun könnte.
Als Sexsymbole anerkannt
Das erklärt auch, warum beide so viele Fans haben. Auf TikTok und Instagram sind beide als Sexsymbole anerkannt. Es gibt zahlreiche Fan-Edits, von Fans erstellte Zusammenschnitte der beliebtesten Clips der Serie, und die berühmte TikTok-Comedian Stanzi Potenza hat Dazai in den Kanon der Zeichentrickfiguren aufgenommen, denen sie großzügig ihren Körper anbietet.
Und hier kommt das Problem ins Spiel, denn Fjodor Dostojewski und Osamu Dazai sind nicht nur Zeichentrickfiguren, sie haben wirklich gelebt. Sie sind Menschen mit einer vielschichtigen Geschichte. Wie ein Instagram-Reel zeigt, litt Dostojewski sein Leben lang unter Spielsucht, die auch seine Familie betraf: Nach und nach verspielte er erst sein eigenes Geld, dann das seiner Frau. Dazai war ein großer Frauenfeind, der die Ursache all seiner Probleme bei seinen weiblichen Mitmenschen suchte. Lew Tolstoi, der in „Bungo Stray Dogs“ nur eine Nebenfigur ist, misshandelte und schlug seine Frau.
Sexuelle Gewalt gegen Untergebene
Die ganze Debatte wirft eine umfassendere und uralte Frage auf: Können Werk und Autor*in voneinander getrennt werden? Mit dem Aufkommen der MeToo-Bewegung ist die Sensibilität gegenüber Verfehlungen prominenter Persönlichkeiten deutlich gestiegen. Diese Sensibilität gilt auch rückwirkend. Die MeToo-Bewegung hat der Öffentlichkeit eindringlich vor Augen geführt, wie häufig mächtige Männer ihre Position missbrauchen, um sexuelle Gewalt gegen Untergebene auszuüben, wohl wissend, dass diese sich aufgrund des Machtgefälles kaum wehren können. Ein aktuelles Beispiel ist der Fall des Fantasy- und Science-Fiction-Autors Neil Gaiman, dem zahlreiche Frauen sexuellen Missbrauch vorwerfen. Dies hat die Debatte darüber, ob und wie wir Werke von problematischen Personen rezipieren dürfen, neu entfacht.
Die Fälle Dazai und Dostojewski unterscheiden sich jedoch in einigen Punkten deutlich. Bei heute lebenden Prominenten geht es auch darum, ob wir ihnen durch unsere Verehrung eine Plattform geben, auf der sie ihre Macht über andere weiter ausnutzen können. Bei Menschen, die vor mehr als 100 Jahren gelebt haben und heute längst tot sind, ist das nicht mehr der Fall. Außerdem fehlt den heute aktiven Künstler*innen die Ausrede, dass sie in einer anderen Zeit mit anderen Werten und Herausforderungen gelebt haben.
Reality Check auf Instagram?
So macht sich ein anderes Instagram-Reel über die Überraschung lustig, wenn Fans von „Bungo Stray Dogs“ entdecken, dass die Figuren aus der harten und turbulenten Zeit des langen 19. Jahrhunderts nicht nur niedliche Anime-Jungs waren, sondern komplexe Persönlichkeiten. Die Auslöschung dieser Vielschichtigkeit, die nicht anerkennt, dass die dargestellten Schriftsteller*innen ambivalente, widersprüchliche und oft schwierige Persönlichkeiten waren, gilt auch im positiven Sinne. Dies gilt zum Beispiel für die Autorin Akiko Yosano, deren feministischer und pazifistischer Aktivismus ebenfalls ignoriert wird.
Wie @elenabooklyn sagt: “Some people, when they realize that a man born in early 20th-century Japan suffering from depression, suicidal tendencies, and trauma (specifically from women), actually had problematic thoughts and opinions and was misogynistic – and he wasn’t, in fact, a cute anime boy.”
Von Dark Academia lernen
Viele Fans geben sich jedoch nicht mit der stark vereinfachten Darstellung der Charaktere in der Serie zufrieden. Die Popularität von „Bungo Stray Dogs“ hat auch ein neues Interesse an den Werken von Dazai und Dostojewski geweckt. Teenager*innen filmen ihre annotierten Taschenbuchausgaben von „Schuld und Sühne“ oder „Gezeichnet“ und laden die kurzen Videos auf TikTok oder als Instagram Reel hoch. Dies knüpft auch an die populäre Internetästhetik der Dark-Academia an, die höhere Bildung, Kunst und Literatur romantisiert und es zu einem populären Trend gemacht hat, sich selbst beim Lesen und Diskutieren komplexer Werke der Weltliteratur zu zeigen.
All dies zeigt, dass TikTok und andere Kurzvideo-Plattformen nicht nur für Challenges, Memes und politische Desinformation gut sind, sondern auch Orte anspruchsvoller literarischer Debatten sein können. So wirft eine Animationsserie aus Japan komplexe Fragen über das Verhältnis von Autor*in und Werk auf und wie wir mit älteren Werken umgehen, die wir für kulturell bedeutsam halten, die aber nicht mehr unseren gesellschaftlichen Werten entsprechen. Junge Menschen beziehen ihre Informationen längst nicht mehr nur aus den klassischen Medien, sondern vor allem von Plattformen wie TikTok oder Instagram. Da ist es nur logisch, dass solche Debatten auch dort stattfinden.