Wenn man viel bei Twitter rumhaengt und denen folgt, die dort beruehmt sind, wird Prokrastination zum topaktuellen Thema. Und tatsaechlich: Aufschub passt wie die Faust aufs Auge einer gerade frisch gelieferten Zukunft. Erst mal geht ohne Aufschub ja gar nix. Alles auf einmal machen, schreiben, denken, lesen kann man nicht, und darum muss aufgeschoben werden. Dafuer haben wir ein Gedaechtnis. Jeder schiebt staendig. Banal. Wie sonst? Oder ist das doch neu?
Klassischerweise wird die Prokrastination als Problem und als Pathologie besprochen. Erzaehlt wird von Studenten, die ihr Studium einfach nicht beenden wollen, und von Buergern, die ihre Steuererklaerung nicht abschicken. Jeder kennt das oder aehnliches. Aber auch die Vorteile des gepflegten Aufschubs sind schon ausgemacht: Zu finden ist eine amerikanische Studie mit dem Titel >Rethinking procrastination: positive effects of active procrastination behavior on attitudes and performance<. Ausserdem haben - und das ist freilich auch der Anstoss fuer diesen Text - Kathrin Passig und Sascha Lobo seit einiger Zeit ein Buch angekuendigt, in dem sie sich ganz offensichtlich der Prokrastination als nuetzliches Werkzeug annehmen. Es soll heissen, >Wie man Dinge geregelt kriegt ohne einen Funken Selbstdisziplin<. Dass man die Kraft der Prokrastination auch produktiv einsetzten kann, ist leicht vorzustellen: Dem Drang aufzuschieben gibt man wasserweich nach und nutzt ihn, um etwas anderes anzufangen. Heute keine Steuern, dafuer eine intensive Reinigung der Wohnung. Auch gut. Heute nicht jenes Projekt, sondern eben das andere. Ju-Jutsu gegen die eigene Faulheit. Ob als neue Krankheit fuer den modernen Mann oder als ultimativer Weg zur produktiven Glueckseligkeit, Prokrastination ist immer beides, in jedem Fall aber aktuell. Denn: Genau wie die Depression passt der Aufschub erschreckend gut zur modernen Gesellschaft. Nie zuvor gab es so viele Potentialitaeten, nie so viele Optionen. Und all diese in immer kuerzeren Zeitraeumen. Das ist spannend, aber auch ungewohnt und anstrengend. Das alte, immer neue Lied einer fragmentierten und sich beschleunigenden Moderne. Depression ist dann quasi die perfekte Prokrastination: Anstatt einzelnes aufzuschieben, gerade Entscheidungen, tut man gar nichts mehr. Man prokrastiniert sein Leben. Der Vorschlag die Prokrastination aktiv auszunutzen, ist sympathisch und hoffnungsvoll, aber der Aufschub wird seine pathologische Seite und Naehe zur Depression nicht ganz ablegen koennen. Prokrastination war vor der Moderne vielleicht weder moeglich noch noetig. Das Feld bestellen oder verhungern. Was soll man da schon aufschieben? Die Prokrastination ist so mindestens ein super Symptom der staendig neuen Zukunft. [NEUE|ZUKUNFT]
Ein Kommentar zu “Prokrastination als Symptom”