Eine Moderne verloren, die andere unerreichbar: Kämpfe um post-sowjetische Infrastrukturen

Unter dem Stichwort “Aufbau” wurden in der ehemaligen Sowjetunion riesige Infrastrukturprojekte gestemmt. Jahrzehnte nach dem Zerfall des zentralistisch regierten, föderativen Einparteienstaats, dessen Territorium sich über Osteuropa und den Kaukasus bis nach Zentral- und über das gesamte Nordasien erstreckte, ist dieses “Netzwerk” in Auflösung begriffen. Wenig überraschend wird im Zuge dessen das Gemeinwohl zugunsten der Interessen der Privatwirtschaft vernachlässigt. Anhand der anhaltenden öffentlichen Debatten über Infrastrukturprojekte wie Wasserkraftwerke und ÖPNV zeigen Lela Rekhviashvili und Wladimir Sgibnev auf, wie Bilder der Vergangenheit und Zukunft aktiviert werden, um eine kompromittierte Gegenwart zu verteidigen.

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Infrastrukturen dienen als Grundlage für Entwicklungsdiskurse, präkonfigurieren unsere Vorstellungen von der Zukunft und bauen, aufgrund ihrer jahrzehntelangen Lebensdauer, im wahrsten Sinne des Wortes Zukünfte. Es ist wichtig festzuhalten, dass sich Debatten über Infrastrukturen vor allem auf Materialitäten beziehen: Schienen, Beton und Drähte. Doch spielen Kulturen, Regime und Märkte sowie die (ungleichen) Geografien der Wissensproduktion, kurz gesagt: die Ideen von Moderne, eine ebenso große Rolle. Insofern ist es bemerkenswert, dass die Ideen von der Moderne, die in der Sowjet-Ära prägend waren, sich nicht allzu sehr von ihren kapitalistischen Gegenstücken in ihren entwicklungspolitischen Ambitionen und ihrem gigantischen Ausmaß unterscheiden.

Der feste Wille, Raum, Zeit und Natur zu beherrschen und zu unterwerfen, zielte vor allem darauf ab, den Menschen durch Infrastrukturen zu schaffen und zu beherrschen – sei es “den sowjetischen Arbeiter” oder “die kapitalistische Konsumentin”. Lenins berühmtes Diktum “Der Kommunismus ist die Sowjetmacht plus die Elektrifizierung des ganzen Landes” bedeutete, dass nach der Oktoberrevolution die Infrastrukturinvestitionen im Einklang mit der staatlichen Industrialisierungsagenda in die Höhe schnellten.

Elektrizitätswerke, Straßen und Eisenbahnen dienten der industriellen Versorgung; städtische Verkehrsnetze verbanden Arbeiter*innensiedlungen mit Bergwerken und Fabriken. Die Einrichtungen des täglichen Lebens standen jedoch oft am Ende dieses Prozesses und die ländlichen Gebiete blieben in vielerlei Hinsicht unterversorgt. Doch in Kombination mit dem Massenwohnungsbau, der Beseitigung des Analphabetismus und der medizinischen Versorgung profitierten große Teile der Bevölkerung vom “Aufbau” in der Sowjetunion. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brachten massive Mittelkürzungen, missglückte Privatisierungen, mangelnde Instandhaltung und eine weit verbreitete Entvölkerung weitreichende Probleme in den Bereichen Verkehr, Wasser, Heizung, Elektrizität oder Gesundheitsversorgung mit sich.

Der Zerfall der Sowjetunion markierte die Zerrüttung von Infrastrukturen, die in der Annahme einer politischen – und damit technologischen – Einheit aufgebaut worden waren. Besonders betroffen waren konfliktreiche Peripherien, ländliche und altindustrielle Gebiete in Zentralasien oder im Südkaukasus. Die Infrastruktur verschlechterte sich nicht nur wegen des wirtschaftlichen Abschwungs, sondern auch wegen der Abwanderung von Fachkräften und dem Aufflammen regionaler Konflikte. Grenzen durchschnitten nun ausgeklügelte Eisenbahn-, Pipeline- oder Stromnetze. Aber, und das war vielleicht am wichtigsten, beeinträchtigte der Wechsel von einem zentralisierten Infrastrukturregime zu individualisierten, fragmentierten und maroden Systemen die Beziehungen zwischen Bürger*innen und Staat. Die instabile Versorgung ging mit stetig steigenden Kosten einher, was in vielen Fällen der wichtigste Einzelfaktor für eine immer noch vorherrschende Nostalgie nach der Sowjetunion als Versorgerstaat war.

Zwischen Nostalgie und Aufholmentalität

Während die Infrastrukturmaßnahmen zwei Jahrzehnte lang von den Überresten der sowjetischen Investitionsprogramme zehrten, sind neue globalisierende infrastrukturelle Paradigmen entstanden. Vor allem seit der Finanzkrise 2008 werden vormals nicht-räumliche Formen des Neoliberalismus von aufkommenden Regimen infrastrukturgesteuerter Entwicklung verdrängt, “deren oberstes Ziel es ist, funktionale transnationale Territorien zu produzieren, die an globale Produktions- und Handelsnetze ‘angeschlossen’ werden können.”, meinen Schindler und Kanai in ihrem Aufsatz. Doch Infrastrukturzukünfte sind in bestimmten Vergangenheiten und deren Interpretationen durch die Akteure verankert. Im postsowjetischen Kontext gehen wir davon aus, dass zwei mächtige und sich gegenseitig verstärkende Diskurse die Förderung und Anfechtung großer Infrastrukturprojekte dominieren: einerseits der Verfall und die Nostalgie für die Modernisierung durch Infrastrukturen aus der Sowjet-Ära; andererseits das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Westen und die Aufholmentalität der Entwicklungdiskurse, wie wir im Folgenden anhand der Bereitstellung öffentlicher Verkehrsmittel und des Baus von Wasserkraftwerken argumentieren werden.

Die Härten der 1990er Jahre spiegelten sich vor allem in der Desinvestition in öffentlich betriebene Verkehrssysteme wider. Die Zuständigkeit wurde von den zentralen Ministerien auf die Kommunen übertragen, ohne dass eine entsprechende Übertragung von Finanzmitteln erfolgte. Für die Anschaffung von Rollmaterial (Schienenfahrzeuge, etc.) oder die Instandhaltung von Oberleitungen waren keine Mittel vorhanden. Die Kommunen versuchten, Busflotten zu privatisieren, und schufen im Laufe der 1990er Jahre gesetzliche Rahmenbedingungen für die Ausschreibung von Strecken. Aber das faktische Ergebnis war ein Ersatz der öffentlichen “großvolumigen” Straßenbahn- oder Buslinien durch überwiegend privat bereitgestellte Kleinbusse, lokal bekannt als Marshrutkas. Gleichzeitig schlossen Industriebetriebe und entließen Tausende von Menschen in die Arbeitslosigkeit, von denen der Marshrutka-Sektor, begünstigt durch niedrige Markteintrittsbarrieren, viele absorbieren konnte.

Abgesehen davon, dass die Marschrutka-Branche Mobilitätsoptionen und Lebensgrundlagen für Millionen von Menschen bereitstellte, war sie untrennbar mit lokalen und regionalen Verwaltungen, politischen Entscheidungsträgern und Unternehmern verflochten, wobei die Grenzen zwischen Branchenentwicklung, Lobbyismus und Schutzgelderpressung fließend waren. Gekoppelt mit der Massenmotorisierung, politischer Latenz und mangelnder Finanzierung sind die Reformen im Mobilitätssektor langsam und weitgehend auf die Hauptstädte beschränkt.

Unbehagliches Spannungsverhältnis

Drei Trends belegen das unbehagliche Spannungsverhältnis zwischen den Mobilitätsparadigmen der Sowjet-Ära und ihren neueren kapitalistischen Pendants: Erstens haben staatliche und kommunale Behörden die sowjetische Definition aufwändiger unterirdischer U-Bahnen als dem einzigen Verkehrsträger, der einer Metropole würdig ist, fest verinnerlicht. Das Versprechen einer “echten” Metro, die in einigen Jahrzehnten gebaut werden soll, rechtfertigt den Abriss von Straßenbahn- und Oberleitungsbussystemen von Omsk über Ufa bis nach Baku und Aschgabat. Gleichzeitig hat sich die Verdrängung der Fahrgäste in die U-Bahn als gut vereinbar mit der Überlassung der städtischen Flächen für das Auto erwiesen. Diese Kürzungen und die dämonisierende Gleichsetzung von Marschrutkas mit den “wilden 1990er Jahren” schließen Diskussionen darüber aus, wie lokale sowjetische und postsowjetische Erfahrungen zu dringend notwendigen mobility transitions beitragen können.

Zweitens: Statt eine universelle Mobilitätsversorgung zum Ziel zu haben, haben die heutigen ÖPNV-Systeme das Etikett des ÖPNV als Wohlfahrtsleistung aus der Sowjet-Ära fest im Blick und passen gut zur neoliberalen Agenda der “gezielten Hilfe”. Kostenlose Fahrten für Ältere und Menschen mit Behinderung haben die Behörden dazu gebracht, den öffentlichen Verkehr als eine Option nur für diejenigen zu begreifen, die keine andere Wahl haben, eine, die nach Belieben eingeschränkt und in Umfang und Qualität vernachlässigt werden kann. Die immer größer werdende Gruppe junger “urbanistischer” Aktivist*innen, die für “fußgänger*innenfreundliche” und “grüne” Städte kämpfen, fällt weitgehend unreflektiert dem Reiz der Niederflurstraßenbahnen zum Opfer und übernimmt unkritisch westliche Nachhaltigkeitsagenden, derweil schwache Gruppen ins Hintertreffen geraten.

Dies steht, drittens, im Einklang mit der Vereinnahmung von Nachhaltigkeitsdiskursen durch (hauptstädtische) Stadtverwaltungen von Moskau bis Taschkent, wo sich ihre Neuinterpretationen von grüner und “smarter” Stadtentwicklung auf Enteignungen und autoritäre Herrschaft reimen, was inzwischen als Hipster-Stalinismus bezeichnet wird.

Ebenso veranschaulichen die anhaltenden Auseinandersetzungen um das georgische Wasserkraftwerk Namakhvani die Konflikte und Widersprüche der Mobilisierung der sozialistischen Vergangenheit, der kapitalistischen Gegenwart und einer unentschiedenen Zukunft bei der Diskussion von Infrastrukturprojekten. Die Befürworter des Projekts – die georgische Regierung, türkische und norwegische Unternehmen, Botschafter, große Medien und Wasserkraft-Lobbyisten – dämonisieren die Demonstrant*innen und beschuldigen sie, ein unterentwickeltes Bewusstsein zu haben, rückständig zu sein und der Energieunabhängigkeit des Landes im Wege zu stehen. Diese Etikettierung ist alles andere als neu, besonders in peripheren kapitalistischen Gesellschaften.

Das Wasserkraftwerk als Politikum

Namakhvani-Befürworter*innen verweisen auf die weit verbreitete Ausbeutung von Wasservorkommen in westeuropäischen Volkswirtschaften, insbesondere in der Schweiz, Norwegen oder Österreich. Sie argumentieren, dass Georgien angesichts seines Entwicklungsrückstandes große Infrastrukturprojekte verfolgen sollte, um zu den zentralen Volkswirtschaften aufzuschließen. Erst danach könnten die ökologischen und sozialen Kosten ernsthaft in Betracht gezogen werden. Zweitens argumentieren sie, dass Georgien und ähnliche kleine Peripherieländer ausländischen Direktinvestoren besonders vorteilhafte Bedingungen bieten müssen, um ungleiche Verträge von heute in Wachstumsaussichten von morgen zu verwandeln.

Eine weitere Komplikation ist der selektive und widersprüchliche Bezug auf das sozialistische Modernitätsprojekt. Befürworter*innen der Wasserkraft argumentieren, dass die Proteste russischen Interessen dienen und einer Rückkehr Georgiens in die Sowjetunion Vorschub leisten. Doch es ist ganz offensichtlich, dass es keine Sowjetunion gibt, in die man zurückkehren könnte. Das eigentliche Paradox liegt jedoch woanders: Dieselben Gruppen betonen die Bedeutung der großen Wasserkraftwerke sowjetischer Bauart für Georgiens Energiesystem, die lokalen Erzeugungskapazitäten und die Bezahlbarkeit. Georgiens Premierminister stellte sogar die sowjetische Geschichte des Projekts in den Vordergrund und argumentierte, dass die besten georgischen Forscher*innen in den 1980er Jahren unschätzbare Beiträge dazu geleistet hätten. So versucht der Staat, trotz Widersprüchen in seinen Erzählungen, die Nostalgie für die sowjetische Moderne einerseits und die Sehnsucht nach einer kapitalistischen Moderne andererseits zu nutzen, um Kompromisse zu rechtfertigen, die er derzeit in Bezug auf große Infrastrukturprojekte eingeht.

Die Gegner*innen wiederum berufen sich ebenfalls auf die sozialistische Vergangenheit, um dann allerdings das Gegenteil zu behaupten. Sie zeigen auf, wie das Namakhvani-Projekt zu Sowjetzeiten aufgrund von Studien verworfen wurde, die auf die Untauglichkeit, hohe seismische Risiken und andere Umweltgefahren des Projekts hinwiesen. Außerdem zeigen sie die umstrittenen externen Effekte der Wasserkraft und die Rolle der EBRD und anderer Entwicklungsbanken beim Greenwashing ihrer Portfolios auf Kosten der Lebensgrundlagen und der Umwelt auf, insbesondere im Kaukasus und auf dem Balkan.

Sie verweisen auf Pläne in Europa und den USA, Dämme abzureißen, um Flüsse freizugeben. Sie prangern die versklavenden Beziehungen zu ausländischen Investoren an: Georgien würde den Zugang zu Land- und Wasserressourcen kostenlos abgeben, Steuerbelastungen beseitigen und die mit dem Bau und der Verteilung verbundenen Risiken der Investoren aus dem Staatshaushalt abfedern. Vor allem aber verteidigen die Demonstrant*innen den Wert der öffentlich zugänglichen natürlichen Ressourcen sowie alternative Lebens- und Daseinsformen, die auf lokaler Landwirtschaft und Gemeinwesen basieren.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Protest Erfolg hat, aber mit seinem Beharren auf demokratischer Beteiligung und Rechenschaftspflicht hat er bereits die vorherrschende Entpolitisierung von Infrastrukturen und Entwicklung im Namen verlorener und noch zu erreichender Modernitäten in Frage gestellt.

Sowohl bei Mobilitätssystemen als auch bei Wasserkraftwerken werden Vergangenheit und Zukunft aktiviert, um eine kompromittierte Gegenwart zu verteidigen. Wir müssen sowohl die sozialistische Vergangenheit als auch den Verlust der sowjetischen Moderne, globale kapitalistische Marktlogiken und Minderwertigkeitsdiskurse begreifen, um solche konflikthaften Narrative zu verstehen. Wenn man Infrastrukturen als inhärent politisch begreift, lässt sich aufdecken, wo groß angelegte Investitionen ohne demokratische Rechenschaftspflicht, auf Kosten sozialer und ökologischer Kosten und manchmal sogar ohne klaren wirtschaftlichen Nutzen getätigt werden. Und, was noch grundlegender ist, das Primat der infrastrukturbasierten Entwicklung für die Zukunft der Region lässt sich in Frage stellen.

Anm.d.Red.: Lela Rekhviashvili hat diesen Beitrag gemeinsam mit Wladimir Sgibnev verfasst. Weitere Texte zu Black Box East gibt es hier: https://berlinergazette.de/feuilleton/2021-black-box-east/

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