Wer sich die Lage der Logistzentren im tschechischen Böhmen genauer anschaut, wird stutzig: Fernab von urbanen Zentren entstehen Lagerhallen, LKW-Parks und Autobahn-Anschlüsse. Erst die Vogelperspektive zeigt, dass die Lage nicht willkürlich ist, sondern dass es hier um den nahtlosen Anschluss an die Absatzmärkte des Westens geht. Die Architekt*innen Kateřina Frejlachová und Tadeáš Říha zeigen, wie die Länder Mittel- und Osteuropas neu geordnet werden, ohne dass dabei die Menschen vor Ort, noch die schwierigen Bedingungen der Logistik-Arbeiter*innen eine Rolle spielen würden.
*
In seinem Buch The Birth of Territory stellt Stuart Elden fest, dass “Territorium aus Raum entsteht, durch die Handlungen eines Akteurs, der Raum territorialisiert.” Dementsprechend ist das Territorium nicht einfach ein Objekt, sondern das Ergebnis von Handlungen, die auf einen Raum ausgerichtet sind. Territorium ist ein Prozess, der gemacht und immer wieder neu gemacht, geformt und gestaltet wird, der aktiv und reaktiv ist.
Die Darstellung Osteuropas als das “neue Europa” oder als Black Box für die westliche Vorstellungskraft und als “leerer Raum” für die wirtschaftliche Expansion des Westens ist bereits, wenn auch nicht erschöpfend, beschrieben und problematisiert worden. Die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die bei der Gestaltung des imaginären osteuropäischen Territoriums im Spiel sind, erfordern mehr Aufmerksamkeit, sind aber nicht das Hauptthema dieses Textes. Wir konzentrieren uns auf eine andere Art von Kräften und Akteur*innen, die die Mittel- und osteuropäische Länder (MOEL) zu einer mehr oder weniger homogenen wirtschaftlichen Einheit formen: die profanen Infrastrukturen privater Logistiknetzwerke.
Die Logistik formt das Territorium auf spezifische Weise. Grenzen werden überschritten und neu gezogen, entlegene Gebiete besiedelt; bestimmte Orte erhalten en passant eine kontinentale Bedeutung, andere werden übergangen und vergessen. Netze von Logistikzentren, die von Logistikentwicklungsunternehmen errichtet werden, zeigen, wie die kulturellen und topografischen Gegebenheiten der MOE-Länder umgangen werden.
“Nahtloser” Anschluss an Westeuropa
Die Logistik ‘territorialisiert’ das Gebiet der MOEL auf eine kaum wahrnehmbare, reibungslose und effiziente Weise. Der utilitaristische Charakter der Logistikindustrie wird als unideologisch und neutral ausgewiesen – als handele es sich lediglich um ein praktisches Transportnetz. Doch gerade durch die schnelle Expansion und Verdichtung dieser Logistiknetze wirken die “territorialisierenden” Kräfte der Logistikkonzerne darauf, die MOE-Länder in ein flaches, unbestimmtes Terrain umzugestalten, das in eine projektive Plattform für die unternehmerischen Phantasien des westlichen Kapitals verwandelt werden kann. Als ein flaches Netz universeller Knotenpunkte konfiguriert, kann nur eine solche Plattform die sagenumwobene “Niedrigpreisgarantie” der MOEL am besten ausnutzen. Und nur eine solche Plattform kann nahtlos an die westeuropäischen Lieferketten angeschlossen werden.
Für eine Studie haben wir die wichtigsten Logistik-Entwickler*innen auf kontinentaler Ebene beobachtet und die Region Nordwestböhmen eingehender analysiert. Die wichtigsten Player, die Logistikntzwerke entwickeln, sind dort Prologis, CTP, VGP, Panatonni und P3. CTP befindet sich im Besitz eines Niederländers und ist vor allem in den V4-Ländern (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) sowie in Rumänien und Bulgarien tätig. VGP wurde 1998 von Jan Van Geet in der Tschechischen Republik gegründet. Es hat seinen Sitz in Antwerpen, Belgien, und ist in Mittel- und Osteuropa sowie in Deutschland, Belgien und Spanien tätig. P3 ist ein in Tschechien gegründetes Unternehmen, das heute zu 100 Prozent im Besitz von GIC, dem Staatsfonds der Regierung von Singapur, ist. Panattoni ist ein multinationales US-amerikanisches Immobilienunternehmen, das sich auf Lagerhäuser spezialisiert. In Europa konzentriert es sich auf Deutschland, Tschechien und Polen, hat aber auch Lager in Spanien, der Slowakei und den Niederlanden.
Die Unternehmenskarte von Panattoni kann als interessante Einführung dienen. Die zahlreichen Standorte der durch diesen Bauträger entwickelten Lagerhallen und Industrieparks in Westeuropa konzentrieren sich auf die großen Bevölkerungszentren der berüchtigten Blauen Banane. Was für spezifische industrielle Entwicklungen gebaut wurde, übertrifft bei weitem die universellen, allgemeinen Logistikhallen. Die Standorte der von Panattoni errichteten Infrastrukturen in Tschechien und Polen scheinen dagegen eher zufällig zu sein. Und: es gibt mehr Lagerhallen als Industrieanlagen.
In Tschechien konzentriert sich die Präsenz von Panattoni auf den Westen und Nordwesten Böhmens. Von den etwa 15 Standorten befindet sich nur einer in der Nähe von Prag, die anderen liegen an der tschechischen Westgrenze. Sie sind gleichmäßig in den Bergregionen des Nordwestens verteilt und erscheinen auf der Kontinentalkarte wie eine Reihe von Außenposten, die eine unsichere Grenze schützen. Der Nordwesten Tschechiens weist strukturelle Ähnlichkeiten zum Osten Polens, dem Nordosten der Slowakei, aber auch dem Osten Deutschlands auf. Hier gibt es das niedrigste relative Pro-Kopf-BIP, die niedrigste Produktivität, die schlechteste Regierungsführung, die geringsten Innovationsaussichten und die schlechtesten Bildungsmöglichkeiten. Es ist kein Zufall, dass genau diese Regionen auch einen großen Teil der Logistikparks für ausländische Märkte anziehen.
“Hervorragende Autobahnanbindung“
Der größte Teil des Güterverkehrs innerhalb der EU wird im LKW-Verkehr abgewickelt. Daher ist hier nicht der Schienenverkehr, sondern die Autobahn ein wichtiges Infrastrukturelement der Logistik. In den MOE-Ländern ist die überwiegende Mehrheit der Logistikknotenpunkte, Lagerhäuser und LKW-Zentren ausschließlich durch Autobahnen miteinander verbunden. Die als D5 und D8 bezeichneten Strecken, die Teil der TEN-T-Kernnetzkorridore der EU sind und Prag mit Deutschland im Westen und Nordwesten verbinden, wurden nach 2000 fertiggestellt. Zusammen mit dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik im Jahr 2003 waren diese Verbindungen ein Vorbote für die Ausdehnung eines globalen Marktes in Richtung Osten. Im „postkommunistischen“ Mitteleuropa wurde dies als Startschuss für einen neuen Zufluss westlichen Kapitals wahrgenommmen.
Auch wenn der Anstoß von außen kam, wurden die meisten Planungsentscheidungen im Zuge des Logistikbooms in Tschechien zunächst auf der Ebene der Kommunalverwaltungen und privater Unternehmer getroffen. Gemeinden und Einzelpersonen sahen in den 1990er und frühen 2000er Jahren die Chance, Land aufzuwerten und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mit staatlicher Unterstützung wurden die überwiegend landwirtschaftlich genutzten Flächen rund um die Autobahnausfahrten nach und nach in Industrie- und Lagerflächen umgewandelt. Zunächst nur in Form von Plänen, später in der Realität.
Heute lässt sich von Nordwestböhmen aus ein Markt mit rund 150 Millionen Menschen im wirtschaftlichen Herzen Kontinentaleuropas in neun Stunden mit dem Lkw erreichen. Jedes der weiter oben erwähnten Unternehmen (Panattoni, CTP, P3, VGP und Prologis), hat hier seine Basis.
“Hervorragende Autobahnanbindung”, “Strategisch günstig in Westböhmen gelegen”, “Bester Standort in Tschechien” und ähnliche Slogans verkaufen Hektar von Lagerfläche in der tschechischen Peripherie. Der Standort, der im lokalen Maßstab zunächst unsinnig erscheint, folgt der viel größer dimensionierten territorialen Dynamik der kontinentalen Logistik: Die zufälligen Ergebnisse des privaten Unternehmertums gewinnen an internationaler Bedeutung; abgelegene Gebiete werden besiedelt, etc.
Die Abgeschiedenheit des Logistikparks ist mit der Abgeschiedenheit einer Militärbasis vergleichbar, die aus großer Entfernung auf die geopolitische Weltkarte gesetzt wird. Im Falle der Logistik-Industrieparks, und mit Ausnahme derjenigen, die einige der wenigen “Verbrauchszentren” in Mittel- und Osteuropa direkt beliefern, ist ihr genauer Standort ohnehin weitgehend irrelevant. Da ihr operativer Kontext weit über ihren unmittelbaren Kontext hinausgeht, werden diese Parks oft an abgelegenen, inselartigen Orten errichtet.
Wenn die “Steel City” aufs Dorf trifft
Die urbanen Zentren des Nordwestens sind Städte mit zehn- bis hunderttausend Einwohner*innen wie Pilsen, Cheb, Ústí nad Labem. Einige von ihnen werden sogar im Namen eines bestimmten Logistikparks aufgeführt, vielleicht zur besseren Orientierung auf der europäischen Landkarte. Die eigentlichen Logistikgebiete werden jedoch abseits gebaut, oft in beträchtlicher Entfernung von diesen Städten, und ignorieren die bestehenden Bedeutungen und Hierarchien. Bor, Český Újezd, Nýřany, Štěnovice, Úžice – alles kleine Städte und Dörfer, die plötzlich eine wichtige Rolle spielen, weil sie zu einem internationalen Knotenpunkt für den Güterverkehr werden.
Ein Beispiel für eine solche abgelegene kontinentale Basis ist eines der größten Logistikzentren in Böhmen, das an der Autobahnausfahrt der D5 in der Nähe von Bor u Tachova liegt, nur 15 Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt. Hier haben sich viele Unternehmen angesiedelt, die die deutschen und westlichen Märkte beliefern, wie z. B. die Fast-Fashion-Marke Primark. Bis vor kurzem hatte sie noch keine Niederlassung in der Tschechischen Republik dafür aber ein Lager in Nordwestböhmen, von dem aus Geschäfte in Deutschland und den Niederlanden beliefert wurden.
In Bor steht eine Ansammlung von riesigen Lagerhallen direkt neben ein paar kleinen, entvölkerten Dörfern. Die Ausmaße sind so groß, dass das ganze Dorf in einen einzigen der metallverkleideten Schuppen hineinpassen würde. Einige Einheimische nennen den Ort “Steel City” – ein Spitzname, der nicht nur das einheitliche Erscheinungsbild und die rohe Materialität der Gebäude widerspiegelt, sondern auch die Entfremdung, die sowohl durch die Größe als auch durch die Geschlossenheit dieser Anlage entsteht. Der Clash solcher Areale mit den örtlichen Gegebenheiten hat verschiedene Aspekte: Einerseits die Größe und die Funktion, die in keinem Verhältnis zur Umgebung stehen; andererseits die Tausenden von Menschen, die in den Lagerhallen arbeiten, und eine Masse bilden, die von der örtlichen Bevölkerung mit großem Misstrauen betrachtet wird.
Die langfristigen Folgen sind noch kein Thema
Die Abgeschiedenheit, die sich durch diese vermeintlich willkürliche Bebauung ergibt, hat schwerwiegende Folgen vor allem für die Arbeiter*innen, die direkt in den Steel Cities leben. Die relative Nähe zu Deutschland etwa, entspricht oft der relativen örtlichen Entfernung zu allem, was im Alltag von Bedeutung ist. Mit dem Mangel an gemeinsamer Infrastruktur wird rücksichtslos und oft informell umgegangen, was zu halblegalen Geschäften z. B. mit Wohnraum führt. Einfamilienhäuser werden zu Wohnheimen umfunktioniert, Bauernhöfe werden zu Kurzzeitunterkünften umgebaut, usw.
Erst in den letzten Jahren werden diese Entwicklungen nicht mehr als Erfolg öffentlicher Verhandlungen und Anreize gepriesen, sondern als problematische und unerwünschte Nachbarn angesehen. Die Gemeinden sehen sich mit Problemen konfrontiert, die sie mehr oder weniger unwissentlich heraufbeschworen haben. Manchmal werden zusätzliche Ausgleichsvereinbarungen zwischen der lokalen Regierung und dem privaten Unternehmen oder Logistik-Unternehmer getroffen, die auch den öffentlichen Verkehr, die Sicherheit oder Investitionen in die örtliche Infrastruktur einschließen, um den entstandenen Problemen zu begegnen.
Diese Maßnahmen hängen jedoch von der Initiative, den Fähigkeiten und der persönlichen Agenda der für die Gemeindeverwaltung zuständigen Personen ab und betreffen nur die kleinen, drängenden praktischen Probleme der Gemeindeverwaltung. Die langfristigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen sind noch kein Thema. Ein vernachlässigtes soziales Spannungsverhältnis zwischen den Einheimischen und den oft ausländischen Zeitarbeiter*innen verlagert die Diskussion auf Sicherheitsbedenken oder gar ungeschminkte Fremdenfeindlichkeit, während die wahren Schuldigen unbehelligt bleiben.
Sowohl das proaktive Vorgehen der Kommunen als auch der Widerstand der Bürger*innen verdeutlichen jedoch den grundsätzlich ungleichen Kampf zwischen den transnationalen Unternehmen und der Alltagsrealität, in die sie eindringen. Der Kampf ist per definitionem ungleich, weil er in ungleichen Maßstäben geführt wird. Das Regionale kann dem Kontinentalen und buchstäblich Globalem nur wenig entgegensetzen.
Anm. d. Red.: Kateřina Frejlachová hat diesen Beitrag gemeinsam mit Tadeáš Říha verfasst.