
Wie hängen die Kämpfe gegen Krieg und für Klimagerechtigkeit zusammen? Und können wir diese Verbindungen ausbauen, um eine globale Friedensbewegung aufzubauen, die bereit ist, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen und eine bessere Welt im Hier und Jetzt präfiguriert? Indem Magdalena Taube und Krystian Woznicki die Gewalt des Kapitalismus und die daraus resultierenden Kämpfe kartieren, bieten sie eine erweiterte Einführung in die 2025 BG-Textreihe „Pluriverse of Peace“.
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Wir und viele andere sehen die Umweltkrise einerseits als einen (teils irreparablen) Schaden, der durch die räuberischen Exzesse und die zunehmend unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus verursacht wurde. Andererseits sehen wir in ihr die Materialisierung einer Gegnerin, die der Kapitalismus geschaffen hat. Ökosysteme, die buchstäblich am Boden zerstört sind und deshalb rebellieren, geben die Aggression zurück, der sie ausgesetzt sind, zum Beispiel in Form von extremen Wetterereignissen und Pandemien. Oder sie streiken einfach, indem sie sich nicht regenerieren und sich dem endlosen Extraktivismus verweigern. Hier knüpfen wir an indigenes, postsowjetisches und postmodernes ökologisches Denken an, mit Beiträgen von Ailton Krenak (2020) bis Oxana Timofeeva (2022) und William E. Connolly (2011), die nichtmenschlichem Leben unterschiedliche Grade von Handlungsfähigkeit zuschreiben. Beide Perspektiven – Schaden und Gegenspieler*in – legen nahe, dass wir die Umweltkrise nur in den Griff bekommen, wenn wir ihre Ursache angehen: das kapitalistische System.
Mit anderen Worten: Wir verstehen die Umweltkrise sowohl als Produkt der herrschenden globalen Organisation der Wirtschaft, der sozialen Beziehungen und des Lebens insgesamt als auch als Ausdruck einer revoltierenden Kraft, die die Regeln des kapitalistischen Weltsystems herausfordert: Klimakatastrophen und Pandemien machen die Regeln des Kapitalismus gewalttätiger und ungerechter, so dass das Spiel selbst nur durch autoritäres, (proto-)faschistisches und bellizistisches staatliches Handeln, d.h. Krieg, aufrechterhalten werden kann. Krieg ist, wie Rosa Luxemburg (1913) feststellte, Ausdruck und Steigerung des Kapitalismus. Krieg ist Kapitalismus ohne Samthandschuhe, denn er entlarvt die Barbarei des Kapitalismus, seinen unkontrollierten Expansionismus und seine kalkulierten Kollateralschäden. Zugleich ist Krieg eine plumpe Art, die Krise des Kapitalismus, deren sichtbarster Indikator die Klimakrise ist, zu lösen, eine Vortäuschung von Handlungsfähigkeit. Für unsere Diskussion ist es entscheidend, Krieg als einen Versuch zu verstehen, die Kontrolle wiederzuerlangen oder aufrechtzuerhalten, indem die revoltierende Umwelt selbst angegriffen wird: die ‚bösen Geister‘, die der Kapitalismus entfesselt. Es liegt auf der Hand, dass die Metapher eines Krieges gegen die ‚entfesselte Natur‘ an den kolonialen Kampf ‚Zivilisation gegen Wildnis‘ erinnert, aktualisiert für eine Ära der ‚menschengemachten Natur‘, wie sie sich in Klimakatastrophen und Pandemien manifestiert. Doch auch wenn diese Metapher einem völlig absurden ‚Krisenmanagement‘ (und seinem zugrunde liegenden Versagen, die Funktionsweise von Ökosystemen sinnvoll zu erfassen) einen Sinn geben mag, macht sie es nicht unbedingt leichter, die genauen politischen Implikationen zu erfassen. In diesem Sinne schlagen wir vor, die Perspektive ein wenig zu verschieben und neu zu überdenken, was ein Umweltkrieg – ja, ein Krieg gegen die Erde – in unserer Zeit ist.
Das BG Projekt 2025 „Pluriverse of Peace“ schlägt vor, den Umweltkrieg nicht nur als (1) militärische Strategie zur Zerstörung von Lebensräumen und dem, was sie als Lebensräume ausmacht, zu verstehen, sondern auch als (2) systemische Auswirkung des ‚zivilen‘ kolonial-kapitalistischen Expansionismus, der auf der Aneignung von allem für die endlose Akkumulation von Kapital beruht und Umweltzerstörung und -verschmutzung verursacht. Beide Dimensionen der Gewalt sind zwei Seiten des Klassenkrieges, der Lebensbereiche der Gewalt des Kapitals unterwirft und damit das Leben als solches zerstört oder zumindest seine Reproduktion erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Für Vilma Almendra (2018), eine indigene Landverteidigerin der Nasa, geht all dies einher mit einer „ideologischen Unterwerfung, um das Territorium der Imagination zu kolonisieren…, um das Wirtschaftsmodell des Kapitalismus im Dienste der transnationalen Konzerne zu garantieren und zu legitimieren“. In diesem Prozess werden die revolutionäre Handlungsfähigkeit und der Widerstand der Entrechteten, Unterdrückten und Ausgebeuteten (vermeintlich) auf Null reduziert. Es geht (vermeintlich) nur noch um die Interessen der herrschenden Klasse (oder derer, die es werden wollen). Aber geht diese Rechnung des Klassenkampfes von oben wirklich auf?
Zunächst müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen: Heute wird der Umweltkrieg zu einer planetarischen Bedingung – forciert durch die sich vertiefenden Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems, den sich verschärfenden Wettlauf um Ressourcen und das globale Wiederaufleben der Militarisierung und der Rüstungsindustrie (Raúl Sánchez Cedillo, 2023). Die Herausforderung, sich dieser Situation zu stellen und sie zu überwinden, ist von äußerster Dringlichkeit. Und es gibt viele Kämpfe und Bewegungen auf der ganzen Welt, die dies bereits tun – von Anti-Bergbau-Aktivist*innen und Landverteidiger*innen, die Ökosysteme schützen, über Vergesellschaftungsaktivist*innen, die Energiesysteme für das Gemeinwohl zurückerobern, bis hin zu Aktivist*innen, die für öffentliche Verkehrsmittel und autofreie Städte kämpfen. Unsere Aufgabe ist es, sie sichtbarer zu machen, sie miteinander zu verbinden und Brücken zur ‚schweigenden Mehrheit‘ der Menschen zu bauen, die die negativen Konsequenzen des Kapitalismus zwar ablehnen, ohne ihn als solchen jedoch in Frage zu stellen.
Der ‘Wettlauf um die Zukunft’
Als nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges viele Kommentator*innen glaubten, es sei eine ‚Zeit des Friedens‘ angebrochen, fanden unter diesen Vorzeichen einige der brutalsten Übergriffe des Kapitalismus statt. Zum Beispiel die schockartige Privatisierung der ‚sozialistischen Welt‘, die von vielen als ebenso gewalttätig und traumatisch erlebt wurde wie ein Krieg. Gleichzeitig kam es zu merkwürdigen Umdeutungen der im Kalten Krieg hochgerüsteten Militärapparate. Die Aufgabe der ‚Bosse mit Waffen‘ bestand darin, neue Verwendungszwecke für die exzessive militärische Infrastruktur zu finden, die überall auf der Welt aufgebaut worden war, Ressourcen und Energie vergeudete und viele Emissionen verursachte, und dem Militär ein neues, vorzugsweise grünes Image zu geben.
In dieser Zeit entstand ein „militärisch-industrieller Umweltkomplex“, wie Andrew Ross (1996) schreibt: „Neue Beschaffungsregeln für Waffensysteme zielen darauf ab, ‚Umweltaspekte‘ in die Bewertung ihrer ‚Lebenszyklen‘ einzubeziehen. […] Die mächtigen Überwachungsnetzwerke des Militärs werden zu ökologischen Frühwarnsystemen ausgebaut. Was kommt als nächstes?“ Der Autor sieht es kommen: „Marktwirtschaftlicher Umweltschutz“. Aber ist es auch wirklich so gekommen?
Es ist bekannt, dass militärische Anwendungen oft als Prototypen für zivile Anwendungen dienen und diese vorbereiten (zum Beispiel das Internet). Es ist daher nicht überraschend, wird aber oft übersehen, dass die Entstehung des militärisch-industriellen Umweltkomplexes den historischen Kontext bildet, in dem sich die ‚zivile‘ ‚Green Economy‘ entwickelt hat. Nach dem ‚Dotcom-Crash‘ (2000) schien es unwahrscheinlich, dass sich dieses Modell durchsetzen würde, da die panische Reaktion des damaligen US-Präsidenten George W. Bush auf die Wirtschaftskrise darin bestand, sich aus klimapolitischen Verpflichtungen zurückzuziehen, um ‚die heimische Wirtschaft zu schützen‘. Die Finanzkrise von 2007/08 schien jedoch so verheerend zu sein, dass die Optionen der endlosen Kapitalakkumulation neu überdacht wurden. Hier kam die ‚grüne Wirtschaft‘ ins Spiel. Wohlgemerkt: Sie wurde nach einem größeren Zusammenbruch des kapitalistischen Systems eingeführt – und nicht nach einer durch fossile Brennstoffe verursachten ‚Naturkatastrophe‘. Somit war von Anfang an klar, dass die Einführung der ‚grünen Wirtschaft‘ nicht das Ergebnis eines Umdenkens im Interesse der Umwelt war. Nein, sie war das Ergebnis der Suche nach einem neuen Geschäftsmodell. Ihr Entstehungskontext – der militärisch-industrielle Umweltkomplex – verweist wiederum auf das dieser neuen Option zugrunde liegende Selbstverständnis, das Kapital zu einer neuen Weltwährung zu machen, die durch ökologische Vernunft und nicht durch militärische Gewalt durchgesetzt wird. Zumindest war dies das proklamierte Ideal. Der Subtext war, dass der Westen, insbesondere die USA, die ihre hegemoniale Position auf dem fossilen Kapitalismus aufgebaut hatten, ihre Dominanz verlängern und ausbauen wollten, indem sie dem Rest der Welt diese ‚schmutzige Entwicklung‘ untersagten und mit einem moralischen Imperativ (‚saubere Entwicklung‘) die Bedingungen dafür neu diktierten – als Weltmarktführer für ‚saubere Energien‘. Damit sollten auch ‚Schwellenländer‘ wie China diszipliniert werden.
Die Tatsache, dass die ‚grüne Wirtschaft‘ in einer vermeintlich unipolaren Ära als universelle Währung geprägt wurde, muss in einer zunehmend multipolaren Welt neu bewertet werden. Die Ideologie der ‚grünen Wirtschaft‘ (oder des ‚grünen Kapitalismus‘) ist heftig umstritten. Da ist China, das an der Spitze dessen steht, was einige Fraktionen der herrschenden Klasse in den USA als ‚Wettlauf um die Zukunft‘ betrachten, indem es „die kapitalistische Marktdynamik der ‚kreativen Zerstörung‘ strategisch nutzt, um seine transformativen grünen Ambitionen durch grünes Wachstum voranzutreiben“ (Elizabeth Thurbon et al., 2023). Es gibt eine große Anzahl staatlicher Akteur*innen wie Saudi-Arabien, Russland, Iran usw., die offen für die Verlängerung des fossilen Kapitalismus kämpfen. Und es gibt die fossile Kapitalelite in den USA, dem Land, das ursprünglich die ‚grüne Wirtschaft‘ ausgerufen hat, die für die gleichen Ziele kämpft und nicht zuletzt davon profitiert, dass die globale Macht der USA fragiler denn je ist und von den (vermeintlichen) Vertretern einer multipolaren Welt herausgefordert wird.
Die Zahlen der Carbon Majors Database sind ein klarer Indikator für diesen Trend: „Obwohl sich die Regierungen in Paris [2016] verpflichtet haben, Treibhausgase zu reduzieren, zeigt die Analyse, dass die meisten Megaproduzent*innen ihre Nutzung fossiler Brennstoffe und die damit verbundenen Emissionen in den sieben Jahren nach dem Klimaabkommen im Vergleich zu den sieben Jahren davor erhöht haben. In der Datenbank von 122 der weltweit größten historischen Klimasünder fanden die Forscher*innen heraus, dass 65% der staatlichen Institutionen und 55% der privaten Unternehmen ihre Produktion gesteigert haben.“ (Jonathan Watts, 2024) Kurz gesagt, die Datenbank zeigt: Inmitten der sich verschärfenden Klimakrise, die maßgeblich von den Akteur*innen des fossilen Kapitalismus verursacht wurde, werden dieselben Akteur*innen in ihrem Streben nach Profitakkumulation auf Kosten der Umwelt immer aggressiver. Sie befeuern nicht nur (vermeintlich ‚grüne‘) Armeen und die Rüstungsindustrie, sondern auch alle möglichen anderen ‚zivilen‘ Sektoren.
Im ‚Wirtschaftskrieg‘ zwischen ‚grünem‘ Kapital und fossilem Kapital geht es natürlich nicht nur darum, ob eine neue ‚grüne‘ Kapitalist*innenklasse die fossile Kapitalist*innenklasse als Lieferant des Weltenergiebedarfs ablösen wird, sondern auch, wie Tatjana Söding (2023) argumentiert, ob es der fossilen Kapitalist*innenklasse gelingen wird, die aufstrebenden Märkte der ‚grünen‘ Ökonomien mit ihren eigenen ‚grünen‘ Unternehmen zu erobern. Wenn diese Unternehmenstransformation abgeschlossen ist und die treibende Kraft unserer Welt nominell nicht mehr das fossile Kapital ist, weil der erwirtschaftete Mehrwert nicht mehr aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe stammt, werden die negativen Auswirkungen des fossilen Kapitalismus – z.B. als Kraft, die die Klassenstruktur einer Gesellschaft prägt, Wünsche weckt und ihr Verhältnis zur Natur gestaltet – in einer Welt der erneuerbaren Energien weiterhin große Probleme bereiten, sollte er seine Dominanz auf den globalen Energiemärkten verteidigen.
Doch unabhängig davon, welche kapitalistische Klasse sich auf dem Weg zum ‚Markt der Zukunft‘ durchsetzen wird, dürfen wir nicht vergessen, dass der ‚grüne‘ Kapitalismus – von wem auch immer er praktiziert wird – nicht die angemessene Antwort auf die durch die Umweltkrise aufgeworfenen Fragen ist. Denn wie jede Form des Kapitalismus verstärkt er die endlose Akkumulation von Kapital, indem er neue Formen der zerstörerischen Aneignung von Natur und Arbeit fördert. Er tut dies nun unter dem Deckmantel der ‚Nachhaltigkeit‘, während er sich häufig auf die Infrastruktur des fossilen Kapitals stützt. Mit anderen Worten: Wenn wir uns davor hüten, die Unterschiede zwischen fossilem und ‚grünem‘ Kapital zu überbetonen, können wir uns auf die Tatsache konzentrieren, dass beide wichtige Gemeinsamkeiten haben, insbesondere die Vernachlässigung menschlichen und nichtmenschlichen Lebens, die der endlosen Kapitalakkumulation zugrunde liegt. Diese Vernachlässigung wird immer mehr zu einer Negation: ein Krieg gegen den Planeten als Lebensraum, ein Krieg gegen die Erde.
Nehmen wir das Beispiel des Autos. Heute wird von uns verlangt, die Tatsache zu ignorieren, dass das Auto als Symbol dessen, was Cara Daggett (2018) „Petro-Männlichkeit“ nennt, eines unserer größten Probleme bei der Anpassung an den Klimawandel darstellt, da nur eine massive Hinwendung zu öffentlichen Verkehrsmitteln bei dieser Anpassung hilft. Wir sollen auch ignorieren, dass die Autoindustrie – eine der größten der Welt – immer eine entscheidende Rolle für das Militär gespielt hat, indem sie Kriegsfahrzeuge und andere für den (jeweiligen) Krieg wichtige Produkte herstellte. Kurzum, wir sollen vergessen, dass das Auto das Werkzeug, wenn nicht gar die Waffe eines kolonial-kapitalistischen Expansionismus ist, der die Hauptursache für eine beispiellose globale Polykrise ist, wie sie sich in der zunehmenden Militarisierung und den Kriegen sowie in der sich abzeichnenden Klimakatastrophe manifestiert.
Die Appelle, wegzuschauen und das individuelle Überleben zu sichern, werden u.a. durch die aggressive Werbung für das Auto als Repräsentant des ‚Volkes‘ ergänzt und verstärkt. Unterstützt von Industrie, Politik und Massenmedien sollen wir glauben, wenn wir das Auto angreifen, greifen wir den ‚Volkskörper‘ an. Genauer gesagt: Wenn der Verbrennungsmotor durch den Elektromotor ersetzt wird oder der Autoverkehr z.B. durch ein Tempolimit einschränkt – letzteres eine kleine, aber wirksame Maßnahme zur Erreichung der Klimaziele –, dann greift man den ‚Volkskörper‘ an. Die Verschmelzung des individuellen Körpers mit dem Körper der Nation im Objekt Auto ermöglicht schließlich den Aufstieg eines rechten Autopopulismus (The Zetkin Collective, 2024), der mit liberalen Idealen, die die individuelle Freiheit in den Vordergrund stellen, kompatibel ist.
All dies legitimiert nicht nur die allgemeine Nachfrage nach Autos, sondern erhöht diese sogar. ‚Grüne‘ Regierungs- und Wirtschaftsprogramme heizen ihrerseits die Nachfrage (nach Elektroautos) an, nicht zuletzt durch ‚Weltrettungsnarrative‘ und Subventionen. Was als ‚grüne‘ Lösung präsentiert wird, „perpetuiert das Schlimmste des Autozentrismus“ (Amelia Diehl, 2024) und gießt „Öl ins Feuer“ (Kathrin Hartman, 2024), indem es zusätzliche CO2-Emissionsquellen schafft. Um ein Beispiel zu nennen: Bei Elektrofahrzeugen sind nicht die Pendler*innen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, das Problem, sondern die verkörperten Emissionen – also nicht der individuelle Verbrauch, sondern die produktionsbedingten Emissionen (u.a. Beschaffung und Verarbeitung von Materialien) (John Szabo, 2023). Kurz, die Konsequenz des Wettbewerbs zwischen Verbrennungsmotor- und Elektromotorindustrie: Mehr Autos auf der Welt! Und das bedeutet: Mehr energie- und ressourcenintensive Produktion, mehr Emissionen etc. Mehr Umweltschäden, mehr Erderwärmung etc.
Ist es angesichts vermessen zu behaupten, dass das Auto ein Instrument und heimliches Symbol des Krieges gegen die Erde ist? Und sehen wir nicht in den Bewegungen für autofreie Städte, in Bündnissen von Nahverkehrsgewerkschaften und Klimaaktivist*innen, in Initiativen zur Vergesellschaftung von Autostädten wie Wolfsburg, in Besetzungen von Autofabriken wie der ehemaligen GKN in Florenz und in streikenden Arbeiter*innen (etwa bei VW), die sagen, dass es unvernünftig ist, noch mehr Autos zu bauen – egal ob Elektro- oder Dieselautos – und stattdessen nützliche Dinge wie den öffentlichen Nahverkehr zu produzieren, fruchtbare Ansätze für den Kampf gegen diesen Krieg? Und können wir nicht von den Kämpfen schwarzer Arbeiter*innen in der US-Automobilindustrie an der Schnittstelle von Umweltgerechtigkeit und Arbeitsrechten lernen, wie sie 1969 von der League of Revolutionary Black Workers in Detroit initiiert wurden, die sich gegen die Exposition gegen giftige Chemikalien in unerträglich beschleunigten Arbeitszyklen auflehnten, und von den Kämpfen von Autoarbeiter*innen in Italien, die etwa zur gleichen Zeit stattfanden, wie z.B. die in den FIAT-Lackierereien, die die Frage nach einer gesunden Umwelt – sowohl in der Fabrik als auch in den umliegenden Stadtvierteln – zu einer politischen Frage nach dem sozialen Zweck der industriellen Produktion machten?
In Zeiten eskalierender ökologischer und militärischer Gewalt sollten wir uns von diesen Kämpfen in den Zentren des Kapitals inspirieren lassen. Darauf aufbauend müssen wir uns mit einer besonderen Art von Weltkrieg – dem Krieg gegen die Erde – auseinandersetzen und gemeinsam an Wegen aus diesem Dilemma arbeiten. Das Projekt „Pluriverse of Peace“ will dazu beitragen, indem es den Krieg gegen die Erde in einen größeren Kontext stellt und ihn aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Insbesondere schlagen wir vor, uns auf drei verschiedene Dimensionen dieses Krieges – und des Kampfes dagegen – zu konzentrieren. Siehe die Punkte I, II, III sowie unsere Vorschläge, was konkret getan werden kann.
I. Ökologische Kosten des Krieges
Die Verwandlung der Umwelt in eine „Todeswelt“ (Achille Mbembe, 2019) kann heute verschiedene Formen annehmen, wie z.B. den Einsatz chemischer Waffen, einschließlich solcher, die Nutzpflanzen und Grundwasser vergiften, den großflächigen Einsatz von Landminen, die strategische Instrumentalisierung nuklearer Verseuchung, die umfassende Zerstörung von Ökosystemen durch Bombardierungen etc. Was jedoch oft übersehen wird, ist, dass sich Umweltkrieg auch in den Emissionen fossiler Brennstoffe manifestiert, die von Armeen und Militärapparaten verursacht werden – natürlich mehr in Zeiten des erklärten Krieges, aber auch in ‚Zeiten des Friedens‘. Es geht also nicht nur darum, wie Kriege die Umwelt zerstören können und wie schlecht Kriege für die Umwelt sind. Es geht auch um die enormen Umweltauswirkungen der militärischen (nicht zuletzt nuklearen) Infrastruktur, die errichtet und unterhalten wird, um Feinde abzuschrecken und potenziell Krieg zu führen, wie Neta Crawford (2022) uns in Erinnerung ruft, wenn sie über die US-Armee schreibt, die trotz oder vielleicht gerade wegen ihres proklamierten ‚Greening Imperative‘ eines der am besten untersuchten bad objects in diesem Zusammenhang darstellt. Seit einigen Jahren steht jedoch weniger die US-Armee als vielmehr Russlands Militärapparat im Fokus der medialen Öffentlichkeit. Kein Wunder. Denn spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 und der damit einhergehenden Intensivierung und Neukalibrierung kapitalistischer Kriegsführung, einschließlich des Aufkommens klimawandelbedingter „heißer kalter Kriege“ (Florin Poenaru, 2022), sehen wir deutlicher denn je, dass die Ausweitung der Militarisierung und die Zunahme (möglicher) Kriege zu einer Zunahme der durch Armeen und den militärisch-industriellen Komplex verursachten Umweltschäden führen.
Russlands Krieg in der Ukraine hat die ökologische Dimension geoökonomischer und geopolitischer Interdependenz erneut sehr deutlich gemacht. Um ihre Industrien als ‚Wachstumsmotoren‘ am Laufen zu halten, stellen Länder wie Deutschland, die früher von Gas und Öl aus Russland abhängig waren, ihre Lieferketten um und sichern sich neue Energie- und Rohstoffquellen. Neue Allianzen werden geschmiedet. Regime, die bisher als ‚unvereinbar mit europäischen Standards‘ galten (z.B. Saudi-Arabien und Katar), werden zu ‚legitimen Energie- und Rohstofflieferanten‘ erklärt und damit als ‚kompatible Partner‘ rehabilitiert. Geschäfte mit neuen Protokolonien wie Serbien und mit ehemaligen Kolonien in Afrika werden als ‚gleichberechtigte Partnerschaften‘ angepriesen. Das erklärte Ziel dieser Maßnahmen ist die ‚Energiesouveränität‘, die durch Aufrüstung gesichert werden soll und die weder vor dem Ultranationalismus und Imperialismus (weicher und harter Art), die sie schürt, noch vor der ökologischen Verwüstung, die sie anrichtet, zurückschreckt.
Der schier unersättliche Drang nach ‚Energiesouveränität‘, der oft mit Umweltrhetorik verbrämt und als Fortschritt der ‚grünen‘ Energiewende proklamiert wird, erstreckt sich sogar auf die Rehabilitierung der Atomenergie als ‚sauber‘, weil sie als ‚nicht-fossil‘ verkauft werden kann. Das ‚Greenwashing‘ der Atomkraft verschleiert (1) die Gefahr militärischer Nutzungen, (2) die zahllosen ökologischen Probleme, die mit der Aufrechterhaltung der nuklearen Infrastruktur verbunden sind (nach Ursula Schönberger (2024) werden selbst im Musterland des Atomausstiegs, Deutschland, unzureichende ‚Lösungen‘ für die Zwischenlagerung von Atommüll mangels staatlicher Initiative und privatwirtschaftlicher Verantwortungslosigkeit zu dauerhaften Arrangements) und (3) den kolonialen Kontext. Schließlich wird das, was Navajo-Aktivist*innen als ‚radioaktiven Kolonialismus‘ oder Aktivist*innen im ‚uranreichen‘ Afrika als ‚nuklearen Imperialismus‘ anprangern (Gabrielle Hecht, 2012), in ein unschuldiges und moralisch erhabenes ‚Grün‘ getaucht.
Doch die Forderung nach ‚Energiesouveränität‘ bedeutet auch ‚De-Globalisierung‘ – und zwar in einem sehr spezifischen Sinne: Sie bedeutet eine Neukalibrierung nationaler Wirtschaftsinteressen gemäß der Doktrin, dass ‚wir unsere Interdependenz mit der Welt zu unseren eigenen Bedingungen managen müssen‘. Diese Doktrin zeigt, dass Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, ihre nationalen und/oder imperialen Ambitionen durch politische Vermittlungsformen wie Wirtschaftskriege zu realisieren und stattdessen andere Länder, insbesondere Städte als kritische Machtzentren, militärisch angreifen (Vesna Bojičić-Dželilović; Volodymyr Ishchenko; Andreas Malm, 2024). Diese Entwicklung geht einher mit einem enormen Anstieg der weltweiten Militärausgaben – angeführt von der NATO (TNI, 2024) und eifrig gefolgt von anderen. Dies hat verschiedene Auswirkungen auf die Umwelt, von denen wir zwei hervorheben möchten.
Erstens geht der exorbitante Anstieg der Militärausgaben einher mit der Entstehung „einer Art Kriegswirtschaft, die durch Sparmaßnahmen finanziert wird, die einem Wirtschaftskrieg gleichkommen“ (Benoît Bréville, 2024), der sich gegen Arbeitslose und Rentner*innen, gegen Geflüchtete, Migrant*innen und prekäre Arbeiter*innen im Allgemeinen sowie gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und auf Kosten der öffentlichen Dienstleistungen richtet. Kurzum, der Bereich der sozialen Reproduktion wird systematisch vernachlässigt, was die individuelle und kollektive Fähigkeit, füreinander und für die Umwelt zu sorgen, einschränkt und sowohl eine weit verbreitete Müdigkeit als auch Widerstand hervorruft. Zweitens geht der Anstieg der Militärausgaben Hand in Hand mit einem Rückgang ‚ökologischer Investitionen‘ und einer Entpriorisierung von Umwelt- und Klimazielen, wodurch die Mittel für die Anpassung an den Klimawandel radikal gekürzt werden. Gleichzeitig wird die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich, die als Grundlage für ein Mindestmaß an Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit im Umgang mit globalen Gemeinschaftsgütern gilt, auf der Prioritätenliste nach unten geschoben. Dies bedeutet unter anderem, dass Ziele der Klimaanpassung vernachlässigt werden.
Ein symptomatisches Beispiel, das besonders zum Nachdenken anregt, ist die Arktis, die sogenannte ‚vorderste Front des Klimawandels‘: Die Arktis erwärmt sich heute um ein Vielfaches schneller als der Rest der Erde. Steigende Temperaturen lassen den Permafrostboden auftauen und das Meereis schmelzen. Das Phänomen der arktischen Verstärkung tritt auf, wenn das weiße Meereis dünner wird oder verschwindet, so dass die dunkleren Meeres- oder Landoberflächen mehr Sonnenwärme absorbieren und diese Energie wieder an die Atmosphäre abgeben können: eine Rückkopplungsschleife, die nicht nur den Schmelzprozess in der Arktis beschleunigt, sondern auch globale Auswirkungen hat, da die Arktis den Jetstream beeinflusst und extreme Wettermuster auf der ganzen Welt verursacht. Angesichts der Tatsache, dass wir seit den 1970er Jahren 75 Prozent des arktischen Meereises verloren haben und sich dieser Prozess weiter fortsetzt, malen Expert*innen ein Bild der verheerenden Folgen eines vollständigen Abschmelzens: Der Meeresspiegel wird so stark ansteigen, dass ganze Inselstaaten, Küstengebiete und Hafenstädte überflutet werden, die globalen Wettersysteme werden sich noch drastischer verändern, zahlreiche Ökosysteme werden zerstört, etc.
Die ökologische Eskalation in der Arktis und ihre globalen Folgen sind Teil des Post-2022-Programms eines verschärften geoökonomischen und geopolitischen Wettbewerbs. Dies zeigt sich nicht nur in den ungebremsten schädlichen Aktivitäten der schlimmsten Klimasünder – der großen Konzerne, mächtiger Staaten und Militärbündnisse – sondern auch in ihrer Dreistigkeit, ihre imperialen Aktivitäten in der Arktis selbst zu intensivieren. Sie leugnen nicht nur ihre Verantwortung für das Schmelzen der Arktis, sondern verstärken diese bewusst. Sie treiben den rücksichtslos-aggressiven ‚Schutz der Souveränität‘ in den maritimen Zonen der Arktis voran; sie forcieren den energie- und ressourcenintensiven Wettbewerb um die Bodenschätze tief unter dem Eis und den Run auf den Meeresboden des Nordpols; und schließlich treiben sie durch das aktive Abschmelzen des arktischen Eises und die aggressive Geltendmachung von Gebietsansprüchen die Schaffung neuer Seewege voran, die ihnen eine Beschleunigung des Welthandels ermöglichen sollen. Kurz gesagt, was eigentlich ein globales Gemeingut ist (die Arktis gehört technisch gesehen keinem Nationalstaat und keinem Unternehmen) und daher ein Raum der internationalen Zusammenarbeit sein könnte, wurde von den Kapitalist*innen und ihren Armeen in eine Zone heftiger Rivalität und räuberischer Expansion verwandelt. Angesichts der schwerwiegenden Folgen und Implikationen können wir hier nur von einem offenen Krieg gegen die Erde sprechen.
In dem Maße, in dem die direkten und indirekten ökologischen Kosten der Aufrechterhaltung und Aktivierung militärischer Infrastruktur steigen und sich vervielfachen, wird der Umweltkrieg zu einer planetarischen Bedingung. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen stehen vor der Herausforderung, Antikriegs- und Umweltstrategien (Charlotte Cooper, 2024) – und die Beziehung zwischen ihnen – neu auszurichten. Wie können Bewegungen für Umweltgerechtigkeit und Antikriegsinitiativen ihre Kräfte bündeln? Und wie können sie diese Allianz erweitern? Was können sie voneinander lernen? Wie kann ‚Anti-Atom‘ wieder zu einem gemeinsamen Nenner für Friedensaktivist*innen und Umweltschützer*innen werden? Wie können sich Bewegungen für Umweltgerechtigkeit und Antikriegsinitiativen mit den bestehenden Kämpfen gegen die Austeritätspolitik verbinden, die darauf abzielt, unsere Fähigkeit zu untergraben, füreinander und für die Umwelt zu sorgen, und die wiederum die Militarisierung unserer Gesellschaften finanziert? Wie können wir die Umweltkämpfe indigener Völker und internationaler NGOs in der Arktis (und anderen ‚Opferzonen‘) sichtbarer machen und sie mit den Kämpfen in den urbanen Zentren des Kapitals verbinden, die die Arbeiter*innen in der Reproduktions- und Produktionssphäre verbinden?
II. Urbizid (Stadtmord)
Unsere Aufmerksamkeit für eine ‚Welt im Krieg‘ sollte sich nicht nur auf das Treiben der vermeintlichen Hegemon*innen und imperialen Mächte wie USA, China, Russland, Israel, Türkei, Saudi-Arabien, Deutschland, Iran und die EU beschränken, denn an der Peripherie der von diesen Akteur*innen durchgesetzten Ordnungen wurden Kriege in all ihren Facetten immer wieder vernachlässigt, wie etwa der Zusammenbruch staatlicher Ordnung in so unterschiedlichen Städten wie Beirut, Goma, Port-au-Prince, Bamako, Gaza City und Marioupol. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Vernachlässigung der totalen Umweltgewalt, wie sie von kritischen Beobachter*innen in den urbanen Zentren des Balkans während der Jugoslawienkriege (1991-2001) erstmals breit wahrgenommen wurde. Mit anderen Worten, eine Qualität und ein Ausmaß des Krieges, die für die heutige Definition des Urbizids ausschlaggebend sind: die vorsätzliche Zerstörung einer Stadt, die die Vernichtung der gesamten Infrastruktur des Kapitals und des Lebens, die eine Metropole ausmachen, einschließt. Das bedeutet die Vernichtung all dessen, was eine Stadt als sozialen Raum bewohnbar und als Knotenpunkt der globalen Ökonomie lebensfähig macht – von der Vergiftung von Wasser und Luft über die Auslöschung und Vertreibung sozialer Lebensformen bis hin zur Unterbrechung der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern. Mona Harb (2024), Zeugin des sich entfaltenden Urbizids in Beirut, sagt: „Das Ausmaß der Schäden ist groß und so verteilt, dass auch das sozioökonomische Leben, die soziale Infrastruktur, die wirtschaftliche Infrastruktur, zivile Einrichtungen, Märkte, Gärten, Parks, alles, was das Gefüge dieser Stadt ausmacht, zerstört wird. […] Gleichzeitig werden alle Erinnerungen ausgelöscht, die die Bewohner*innen mit all diesen Orten verbunden haben“.
Urbizid ist jedoch nicht auf den konventionellen Krieg, den Kapitalismus ohne Samthandschuhe, beschränkt und lässt sich keinesfalls auf eine urbane Version des „Nekrokapitalismus“ (Subhabrata Bobby Banerjee, 2008) reduzieren, der lediglich vom Tod und der Zerstörung des konventionellen Krieges profitiert. Vielmehr gehören die nekrokapitalistischen Auswirkungen des Urbizids auch zur Normalität der herrschenden politisch-ökonomischen Ordnung, zur alltäglichen Gewalt des Kapitalismus mit Samthandschuhen an Orten, an denen offiziell kein Krieg herrscht. Die Auswirkungen auf die urbane soziale Erfahrung lassen sich in unterschiedlichen Graden des ‚Stadtmords‘ messen: die Zerstörung von Gemeinschaften, einschließlich der Zerstörung des sozialen Raums, der sozialen Geschichte, der solidarischen Infrastrukturen und, oft als Folge des ersteren, des individuellen Lebens. Mit anderen Worten: Urbizid findet auch dann statt, wenn der Kapitalismus mit Samthandschuhen, unter welchem Vorwand auch immer, die soziale Infrastruktur des Lebens zerstört, um darauf exklusive Infrastrukturen des Kapitals zu errichten. Dies wird oft unter dem Begriff der Gentrifizierung und ähnlichen Begriffen diskutiert, sollte aber in einem breiteren Kontext als Urbizid gesehen werden, da eine neue Hauptstadt auf den Ruinen einer Stadt errichtet wird, die noch halbwegs sozial war, z.B. durch den Abriss von Sozialwohnungen, die von Armen und Rassialiserten bewohnt wurden, und den Bau von Häusern für den Markt.
Beispiele, die in diesem Zusammenhang häufig diskutiert werden, sind der ‚Ghetto-Plan‘ in Kopenhagen und die Umstrukturierung der Bronx in New York. Wir möchten jedoch die Aufmerksamkeit auf den ‚Krieg von oben‘ gegen das Noailles-Viertel in Marseille (Charlotte Malterre-Barthes et al., 2020) und den Widerstand von unten lenken. Die Stadtverwaltung ließ das Viertel verfallen und begann mit kosmetischen Veränderungen an der Oberfläche: Verschönerung der Fassaden und ‚Säuberung‘ der Plätze, Vorbereitung des Bodens für einkaufende Tourist*innen – und Katastrophen. Weil sie nicht das Notwendige taten (d.h. bauliche Verbesserungen, Erhalt und Pflege der architektonischen Substanz usw.) und stattdessen Nadelstiche gegen die mehrheitlich rassialisierte Bewohner*innenschaft setzten (Zerstörung gemeinsamer öffentlicher Räume), brach 2018 der Widerstand los. Die Stadt erlebte im Zuge dessen eine der stärksten sozialen Mobilisierungen ihrer Geschichte. Als Reaktion darauf wurden Befestigungsanlagen errichtet, um die oberflächlichen Verbesserungen zu sichern. Etwa zur gleichen Zeit stürzte ein Gebäude ein, dessen Bausubstanz nicht instand gehalten worden war, und riss mehrere Menschen in den Tod. Anstatt die Situation zu überdenken, verschärfte die Stadtverwaltung ihre Strategie und nutzte den Einsturz, um ‚Sicherheitsmaßnahmen‘ in Form von Massenräumungen zu legitimieren, die die widerständigen Bewohner*innen dezimierten (und ihren Widerstand schwächten) und es ermöglichten, die Vermarktung der baufälligen Bausubstanz auszuweiten. Der Widerstand gegen diese urbiziden Prozesse ist noch immer lebendig. Gleichzeitig ist das Viertel zu einem Objekt der ‚Spekulation mit allen möglichen Risiken‘ geworden.
Eine weitere Dimension des Urbizids mit Samthandschuhen ist die vorsätzliche Zerstörung mit indirekten Mitteln: unterstützt durch ‚Naturkatastrophen‘. In New Orleans und Gaziantep zum Beispiel, die 2005 von einem Hurrikan und 2023 von einem Erdbeben heimgesucht wurden, hat eine vom Kapital korrumpierte Stadtplanung den Boden für eine groß angelegte Zerstörung bereitet und – da die Interessen und Machtstrukturen des Kapitals unangetastet blieben – das nekrokapitalistische Werk vollendet. Letzteres erinnert uns daran, dass die Pläne für den Wiederaufbau der Städte nicht den Kapitalist*innen überlassen werden dürfen, sondern von unten nach oben im Rahmen antikapitalistischer und antikolonialer Kämpfe angegangen werden müssen. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass ‚Naturkatastrophen‘ auch dann instrumentalisiert werden, wenn Kapitalist*innen zunehmend um ihre Profite in einem Sektor besorgt sind, in dem sie mit der Klimakrise seit einiger Zeit gute Geschäfte machen können: der Versicherungsbranche. In den USA etwa hat der größte Versicherer des Landes, State Farm, seit einem Jahr keine einzige neue Hausratversicherung mehr abgeschlossen. 72.000 Policen wurden storniert. Der Grund: das rasant steigende Katastrophenrisiko. Dies zeigt, dass die Klimakrise nicht nur als vom Kapitalismus entfesselte Zerstörungskraft immer weitere Teile der Welt erfasst, sondern auch als ‚Krisenreaktion‘, indem der Kapitalismus seine ‚Rettungsdienste‘ dort zurückzieht, wo sich Versicherungen nicht mehr lohnen. So werden Städte nicht nur in Ländern wie Tuvalu, Angola und Bangladesch, sondern auch in Australien, Spanien, Griechenland und Italien zu potentiellen Opfern eines profitgetriebenen urbanen Massakers, das durch ‚Naturkatastrophen‘ unterstützt wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Städte als Lebensraum für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung zunehmend unter dem immensen Druck extremer Wetterereignisse zusammenbrechen, die durch den Klimawandel verursacht werden: Überschwemmungen, Wirbelstürme, Hitzewellen etc. Wir sind gezwungen, uns um unsere individuelle (und nicht um unsere kollektive) Existenz zu sorgen, und werden aufgefordert, die Ursachen dieser Umweltbelastungen nicht weiter zu untersuchen, da sie durch die koloniale und kapitalistische Globalisierung verursacht werden, während die Umwelt des Planeten zunehmend jene Gewalt zurückgespielt bekommt, der sie seit Jahrhunderten ausgesetzt war. Wir machen uns mitschuldig an der Vernachlässigung der Ursachen unserer Krisen durch die Kapitalist*innen und an ihrem Dogmatismus des ‚business as usual‘. Inzwischen führen diese Vernachlässigung und dieser ‚Weiter so‘-Dogmatismus sowohl zu (1) einem immer intensiveren offenen Krieg gegen die Städte als auch zu (2) einem langsamen, weniger intensiven Urbizid: der langsamen Gewalt, die die Städte tötet. Letztere geht Hand in Hand mit tödlicher Gewalt gegen Frauen, rassifizierte Gemeinschaften und die Armen in den Städten im Allgemeinen (Françoise Vergès, 2022). Dies zeigt, dass die ohnehin oft fließenden Grenzen zwischen einem Kapitalismus ohne Samthandschuhe und einem Kapitalismus mit Samthandschuhen immer durchlässiger werden. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen dem Einsatz direkter und indirekter Mittel zur bewussten Zerstörung städtischer Infrastrukturen menschlichen und nichtmenschlichen Lebens.
Emanzipatorische Kämpfe stehen zunehmend vor der Herausforderung, den (ehemaligen) städtischen Raum als Ground Zero zu begreifen. Unter diesen Bedingungen werden alle Prozesse kollektiven Handelns verlangsamt und erschwert, da die Betroffenen zunächst über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, mit dem Wiederaufbau einer lebenswerten städtischen Umwelt beschäftigt sind. Die Frage, was potenziell ineinandergreifende Formen sozialer, räumlicher, ökonomischer und ökologischer Gerechtigkeit ermöglichen und damit zu gerechten Stadtökologien führen könnte, fordert uns heraus, uns mit den grundlegendsten menschlichen und nicht-menschlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und sie aus dem Griff des Kapitals zurückzuholen. Wie können wir gemeinsame Strategien entwickeln, um mit den Schäden umzugehen, die der Kapitalismus mit Samthandschuhen und der Kapitalismus ohne Samthandschuhe anrichtet? Mit anderen Worten: Gibt es einen ‚ganzheitlichen‘ Ansatz für den Umgang mit Zerstörung in so unterschiedlichen Kontexten wie der Bronx und Mariupol? Was bedeutet es, auf den Trümmern des Kapitalismus eine ökofeministische und ökosozialistische Stadt zu entwerfen und zu bauen? Welche (noch nicht zerstörten und noch existierenden) Strukturen können mobilisiert oder umgenutzt werden, um eine Umgebung für menschliches und nichtmenschliches Leben zu schaffen? Wie können wir Organisationsformen und -prozesse neu erfinden, so dass ‚Erholung‘ und ‚Wiederaufbau‘ nicht an die üblichen Verdächtigen der herrschenden Klasse verloren gehen, sondern sich auf die verwundbarsten der verbliebenen lokalen Bevölkerungen und die Vertriebenen konzentrieren und von unten nach oben realisiert werden? Wie können urbane Kämpfe die Maschinerie des kolonial-kapitalistischen Umweltkrieges konfrontieren und entwaffnen und Wege für ein Leben in Frieden mit nichtmenschlichem Leben aufzeigen?
III. Als Umweltschutz getarnter Umweltkrieg
Die Umwelt zu zerstören oder grundlegend zu verändern und gleichzeitig zu behaupten, sie retten zu wollen, kann als ‚Umweltkrieg im Gewand des Umweltschutzes‘ bezeichnet werden. Dieser Ansatz spiegelt vielleicht am perfidesten die Denkweise der Zeit nach 1989 wider, als der militärisch-industrielle Umweltkomplex entstand und die Idee der universellen Währung des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes geprägt wurde. Letztere wurde, um es noch einmal zu sagen, als eine neue universelle Währung konzipiert, die durch ökologische Vernunft und nicht durch militärische Gewalt durchgesetzt werden sollte. Während dies das verkündete Ideal ist, sieht die Realität etwas anders aus, wie ein kurzer Blick zurück auf die oben zitierte PR-Rhetorik zeigt (Andrew Ross, 1996). Dazu gehören nicht nur die bereits erwähnte Ökologisierung von Waffensystemen und die Umwandlung militärischer Überwachungsnetzwerke in ökologische Frühwarnsysteme, sondern auch das Versprechen, vom Militär besetzte religiöse und heilige Stätten an die Ureinwohner*innen zurückzugeben. Als Teil der Greenwashing-Kampagne, die das Image des US-Militärs für die Zeit nach dem Kalten Krieg neu erfinden sollte, trug dieses Versprechen dazu bei, aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen, dass die vielbeschworene Neukalibrierung der Kriegsführung nach dem Kalten Krieg nichts an der anhaltenden Gewalt gegen indigene Völker und ihr Land geändert hat, wie Deborah Cowen (2017) in Erinnerung ruft.
Heute wird immer aggressiver militärische oder polizeiliche Gewalt eingesetzt, um Land zu privatisieren und damit Menschen zu berauben, die in Symbiose mit dem Land gelebt haben (Harsha Walia, 2023). Diese staatlich sanktionierte oder organisierte Gewalt kann die Form von Besetzung, Räumung, Vertreibung, Mord und manchmal einer Kombination dieser Formen annehmen – Gewalt, die oft mit kolonial-kapitalistischen Machtstrukturen verbunden ist und diese reproduziert. So haben beispielsweise die Morde an Umweltaktivist*innen im Allgemeinen und Landverteidiger*innen im Besonderen (Eliana Otta, 2022) in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit stark zugenommen, wobei ein Großteil dieser Morde in Lateinamerika verübt wurde und indigene Völker unverhältnismäßig stark betroffen sind. Gäbe es nicht den Widerstand und die Dokumentation durch NGOs wie Global Witness und Projekte wie Luto Verde, würden diese Morde vertuscht. Ohne diesen Widerstand würde nur die offizielle Propaganda Geschichte schreiben und eingängige Slogans wie ‚Rettet das Land vor der Umweltzerstörung‘ und ‚Rettet das Klima‘ würden unkontrolliert verbreitet und die Behauptung, dass Ökosysteme gerettet werden können, indem man sie sich für die kapitalistische Ausbeutung und Nutzung aneignet, widerspruchslos reproduziert. Slogans, mit denen weitreichende Eingriffe in Ökosysteme legitimiert werden. Beispiele dafür sind die Ausrottung der Biodiversität zugunsten von Monokulturen wie Baumplantagen (Aïda Delpuech, 2024) oder das „Green Grabbing“ (Catherine Corson, 2012), oft im Namen der ‚Energiewende‘ im globalen Norden oder im Namen des ‚Naturschutzes‘.
Um ein Beispiel für den ersten Punkt zu nennen: Die allmähliche Eskalation des Konflikts zwischen Marokko und Algerien um die Westsahara, der angeblich ‚nach einer militärischen Lösung verlangt‘ und in Europa zu einem Wirtschafts- und Ressourcenkrieg geführt hat, an dem sich unter anderem Frankreich und Spanien beteiligen, hat die mehr oder weniger stille Aneignung von Land und Ressourcen für angeblich ökologische Zwecke überschattet. In den besetzten Gebieten der Westsahara werden ohne große internationale Aufmerksamkeit so genannte erneuerbare Energieprojekte (Solar- und Windenergie) vorangetrieben, obwohl sie gegen die saharauische Bevölkerung und auf ihrem besetzten Land durchgeführt werden. Wie Hamza Hamouchene (2022) feststellt: „In der besetzten Westsahara sind drei Windparks in Betrieb. Ein vierter ist in Boujdour im Bau und mehrere sind in der Planungsphase. Diese Windparks gehören zum Portfolio von Nareva, dem Windenergieunternehmen, das zur Holding der marokkanischen Königsfamilie gehört. 95 Prozent der Energie, die das staatliche marokkanische Phosphatunternehmen OCP benötigt, um die nicht erneuerbaren Phosphatvorkommen der Westsahara in Bou Craa abzubauen, stammt aus Windkraftanlagen. […] Es ist klar, dass diese Projekte für erneuerbare Energien dazu dienen, die Besatzung zu festigen, indem sie die Beziehungen Marokkos zu den besetzten Gebieten vertiefen, mit offensichtlicher Komplizenschaft von ausländischem Kapital und Unternehmen.“
Diese staatlich sanktionierte oder staatlich organisierte Gewalt hat seit Russlands vollumfänglicher Invasion der Ukraine eine neue Qualität erreicht. Letztere hat die Legitimationsgrundlage für die Deklaration von ‚Energiesouveränität‘ geschaffen, die – oft unter dem Deckmantel von Umweltrhetorik – als alternativlos und um jeden Preis erreicht werden soll. Der Fall der Westsahara zeigt diesen Preis jedoch deutlich: Der Wettlauf um ‚Energiesouveränität‘ befeuert den Raubimperialismus der europäischen Staaten und ihrer Partner*innen im globalen Süden. Dieser Wettlauf befeuert aber auch den ‚inneren Imperialismus‘. Wie Shiri Pasternak und Jessica Dempsey (2022) warnen, verschärfen ‚Onshoring‘-Initiativen zur Sicherung kritischer Mineralien im Inland für Nordamerikas ‚grünen Übergang‘ die Gewalt gegen indigene Völker und ihr Land: ‚Green Grabbing‘ im Namen der ‚Energiesouveränität‘. Und im Namen der ‚Rettung des Planeten‘.
Andere proklamierte Ziele des ‚Green Grabbing‘ wie ‚Naturschutz‘ werden wiederum als ‚Lösungen‘ zur Bekämpfung des Biodiversitätsverlusts und des Klimawandels propagiert. Derzeit werden 30 Prozent der Erde in ‚Schutzgebiete‘ umgewandelt und im Rahmen sogenannter ‚naturbasierter Lösungen‘ bewirtschaftet. Die Folgen sind verheerend. Es ist erwiesen, dass indigene Völker ihre Umwelt besser verstehen und bewirtschaften als alle anderen. Achtzig Prozent der weltweiten Biodiversität befindet sich in Stammesgebieten (Baher Kamal, 2017), und wenn indigene Völker sichere Rechte über ihr Land haben, erzielen sie mindestens gleichwertige, wenn nicht sogar bessere Naturschutzergebnisse zu einem Bruchteil der Kosten konventioneller Schutzprogramme. Dennoch stehlen Regierungen, Unternehmen und NGOs in Afrika und Asien riesige Landflächen von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften unter dem fadenscheinigen Vorwand, dies sei für den ‚Naturschutz‘ notwendig.
Beispiel ‚Wildschutz‘ in Afrika: Der koloniale Staat Kenia eignete sich ab 1904 indigenes Land an, um es Europäer*innen für Landwirtschaft und Großwildjagd zur Verfügung zu stellen. In der postkolonialen Zeit ab den 1960er Jahren wurde die Nutzung des Landes für den lukrativen Wildtiertourismus immer populärer. Im Zuge dessen wurde das nomadische Hirtenleben der Massai drastisch eingeschränkt: Es kam zu Zwangsumsiedlungen, Ansiedlungsversuchen und Einschränkungen der Weiderechte und des Zugangs zu Wasserquellen. Die Maasai wehrten sich gegen diese existenzielle Bedrohung ihrer Lebensgrundlage, indem sie ihre Weideflächen illegal ausweiteten und Nashörner und Elefanten töteten. Obwohl die Massai nicht die Hauptursache für den Rückgang der Wildtiere in der Region sind, stellten internationale Naturschutzorganisationen das Bevölkerungswachstum der Massai als Bedrohung für die Wildtiere dar. Damit legitimierten sie die zwanghaften und manchmal gewaltsamen Mittel, mit denen die Regierung Kenias eine aus dem Kolonialismus stammende ‚Naturschutz‘-Strategie durchsetzte, die den postkolonialen Kapitalismus und den ‚grünen‘ Kolonialismus aufrechterhielt (Miriam Lang et al., 2024).
Letztlich bedeutet die Vertreibung derjenigen, die sich um das Land gekümmert haben, dass sie ihrer Lebensgrundlage beraubt werden und nachhaltige Formen der Landbewirtschaftung verhindert werden. Josefa Sanchez Contreras (2023), Mitglied des Zoque-Volkes aus San Miguel Chimalapa, Oaxaca, Mexiko, erklärt: „Als Volk haben wir seit Tausenden von Jahren auf diesem Land und an diesen Flüssen gelebt und uns um sie gekümmert. Wir haben den gemeinschaftlichen und kollektiven Charakter des Landbesitzes gegen Privatisierung und Kolonialpolitik verteidigt. Aus diesem Grund und angesichts der Klimakrise sind wir der Meinung, dass wir, wenn wir über Umweltschutz und Energiewende sprechen, die Enteignungen, die Gewalt und die Verletzungen der Menschenrechte, der Rechte der Indigenen, der gemeinschaftlichen Territorien und des Lebens in den Mittelpunkt stellen müssen – und die Zerstörung der biologisch vielfältigen Gebiete auf unseren Territorien, die von den Windkraftunternehmen im Namen der Abschwächung des Klimawandels betrieben wird“.
Wir müssen uns also fragen: Was können wir von indigenen Völkern im Allgemeinen und von Landverteidiger*innen im Besonderen darüber lernen, wie wir uns gegen Formen des Umweltschutzes wehren können, die als grüner Kolonialismus und grüner Raub propagiert werden? Was bedeutet es, sie als Formen des Krieges gegen die Erde zu bekämpfen? Wie können diejenigen, die direkt von diesem Krieg betroffen sind, und diejenigen, die eher indirekt betroffen sind, z.B. in den kapitalistischen Zentren, ihre Kräfte bündeln?
Was können wir tun?
Die Überwindung des Umweltkrieges als planetarem Zustand – kurz: eines Krieges gegen die Erde – wird viel Arbeit in den Bereichen Forschung, awareness und Bildung einerseits und Bewegungs-, Bündnis- und Organisationsaufbau andererseits erfordern. Ja, wir brauchen eine neue weltweite Friedensbewegung. Und die Grundhaltung scheint schon da zu sein. Laut Peoples’ Climate Vote 2024 sind große Teile der Weltbevölkerung offen für Klimaschutz (und fordern ihn von der Politik ein). In Deutschland sind es 67%, in den USA und Russland 66%, in China 73%, in Brasilien 85%, im Iran 88%. Gleichzeitig fordern weltweit 86% ein Ende von Kriegen und geopolitischen Rivalitäten und eine Zusammenarbeit beim Klimaschutz (Sarah Bel, 2024).
Dieser ‚internationale Graswurzelkonsens‘ wird jedoch von mehreren Faktoren überschattet. Erstens gibt es auch große Mehrheiten, die an den von der kolonial-kapitalistischen Moderne geprägten Gewohnheiten und Produktionsweisen festhalten wollen und damit den Kräften, die Krieg und ökologischen Kollaps verursacht haben, treu bleiben oder sich zu Kompliz*innen machen und Friedenskonsolidierung und Anpassung an den Klimawandel verhindern. Zweitens gibt es einen wachsenden Nationalismus, einschließlich des ‚Befreiungsnationalismus‘, und eine rechte, reaktionäre und religiöse Instrumentalisierung des Antikolonialismus und Antiimperialismus (Saltanat Shoshanova und Marina Solntseva, 2024), die sich nicht zuletzt aus den Ungleichheiten in der globalen Arbeitsteilung und dem ungleichen Zugang zu den Infrastrukturen des Lebens einschließlich der ökologischen Gemeingüter speist: frische Luft, frisches Wasser etc.
Als ob dies nicht schon Herausforderung genug für emanzipatorische Politik wäre, gibt es das Wiederaufleben des Lagerdenkens in der Linken (Dan La Botz, 2022) und das Versäumnis, solidarisch mit den Opfern des Krieges gegen die Erde zu sein, unabhängig davon, auf welcher Seite der konkurrierenden herrschenden Klassen sie als ‚nationale Subjekte‘ subsumiert werden, z.B. das Versäumnis im Westen, sich mit den Opfern des Krieges zu solidarisieren. Das Versagen großer Teile der Linken, Kritik an Antisemitismus und Rassismus politisch zu artikulieren und stattdessen dazu beizutragen, die Opfer von Gewalt gegeneinander auszuspielen, was unseres Erachtens einer der Schlüsselfaktoren ist, die eine Politik des Genozids ermöglichen. Was tun?
Um es klar zu sagen: Die Teilnehmer*innen der von uns initiierten Diskussion sind nicht in erster Linie die von Krieg und Klimakollaps am stärksten Betroffenen, die oft als ‚Opfer‘ objektifiziert werden, sondern ein breites Spektrum von ‚verstrickten Subjekten‘ – von denen, die in antikapitalistischen Bewegungen aktiv sind, bis zu denen, die ihre Stimme als Teil der ansonsten ‚schweigenden Mehrheit‘ erheben. Sie alle teilen die Überzeugung, dass die Ursachen für unsere katastrophale Lage auf der Erde systemisch sind, dass Krieg, Klimakollaps und die Krise der Lebenshaltungskosten nicht einfach von Menschen gemacht sind, sondern auf den Kapitalismus zurückzuführen sind. Wenn dies der gemeinsame Nenner ist, dann bleibt die Frage, wie unsere Verstrickung in das System der gesellschaftlichen Verhältnisse, das Kapitalismus heißt, selbst herausgefordert und überwunden werden kann, wie wir uns in diesem Prozess auf die Seite derer stellen können, die am meisten von diesem System betroffen sind, wie wir als ‚verstrickte Subjekte‘ unsere Mikropolitik auf die Kämpfe und die antikapitalistische Handlungsfähigkeit derer ausrichten können, die existieren, Widerstand leisten und etwas schaffen, obwohl ihr Leben durch den Krieg gegen die Erde völlig zerrüttet und zerstört ist?
„Verstrickte Subjekte“, so Michael Rothberg (2019), „nehmen Positionen ein, die mit Macht und Privilegien verbunden sind, ohne selbst direkte Verursacher*innen von Schaden zu sein; sie tragen zu Herrschaftsregimen bei, bewohnen sie, erben sie oder profitieren von ihnen, aber sie sind nicht die Urheber*innen dieser Regime oder kontrollieren sie. Ein verstricktes Subjekt ist weder Opfer noch Täter*in, sondern Teilnehmer*in an Geschichten und sozialen Formationen, die Opfer- und Täter*innenpositionen hervorbringen, in denen die meisten Menschen jedoch keine so eindeutigen Rollen einnehmen. Sie sind weniger ‚aktiv‘ als die Täter*innen, entsprechen aber auch nicht dem Bild der ‚passiven‘ Zuschauer*innen. Ihr Handeln und Nichthandeln trägt, wenn auch indirekt oder verzögert, zur Produktion und Reproduktion von Opfer- und Täter*innenpositionen bei. Mit anderen Worten: Verstrickte Subjekte tragen dazu bei, das Erbe historischer Gewalt fortzuschreiben und die Strukturen der Ungleichheit, die die Gegenwart prägen, aufrechtzuerhalten; scheinbar direkte Formen der Gewalt entpuppen sich als indirekte. Die Formen der Verstrickung – der Verstrickung in historisches und gegenwärtiges Unrecht – sind komplex, vielschichtig und manchmal widersprüchlich, aber dennoch wesentlich für das Streben nach Gerechtigkeit“.
Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den ‚verstrickten Subjekten‘ um einen erheblichen Teil der Weltbevölkerung handelt, ist zu fragen, welche spezifischen Formen politischen Handelns sich daraus ergeben, insbesondere im Hinblick auf Bündnispolitik? Und da wir es mit einer Situation globaler Interdependenz zu tun haben, müssen wir diese Frage aus einer internationalistischen Perspektive zuspitzen: Wie können wir der Logik der 24/7-Echtzeitmedien widerstehen und nicht, wie sie es wollen, der Spektakularisierung eines einzelnen Krisenherdes auf Kosten aller anderen ‚heißen‘ Konflikte verfallen? Wenn wir, wie Fred Moten (2023) vorschlägt, „in der Lage sind, eine Art komplexe Vision der anstehenden Probleme zu haben, und [wenn] diese Vision uns erlaubt, etwas sehr Spezifisches in einem bestimmten lokalen Kontext, aber auch global zu sehen“, wie können wir dann unsere Aufmerksamkeit und Energie auf lokale Eskalationen richten, ohne den translokalen, transregionalen und transnationalen Kontext zu vernachlässigen?
Wie können wir auf eine Dringlichkeit reagieren, ohne alle anderen zu vernachlässigen? Wie können wir gleichzeitig einen systemischen, internationalistischen und situativen Ansatz verfolgen und die aktive Solidarität mit Kriegsopfern so organisieren, dass andere Opfer von Gewalt nicht ausgeschlossen werden? Was bedeutet solidarisches Handeln und die Bildung von Koalitionen jenseits der individuellen und gruppenbezogenen Spaltungen, die der Kapitalismus erzwingt und aufrechterhält – und die letztlich die Opfer kapitalistischer Gewalt gegeneinander ausspielen? Wie können wir dem Umweltkrieg der herrschenden Klassen über nationale Grenzen, aber auch über Identitäts-, Geschlechter- und ethnische Grenzen hinweg entgegentreten? Wie können wir die Wurzeln kapitalistischer Strukturen und Verhältnisse aus den situativen Interdependenzen heraus angreifen?
Anmerkung der Redaktion: Die Bibliographie des Artikels ist hier zu finden.