Pflichten der Ko-Existenz: Auf dem Weg zu einer transformativen antifaschistischen Politik der Fürsorge

Gaza-Stadt und die Al-Rashid-Straße in Gaza-Stadt, vor und nach dem 7. Oktober 2022; Körperzellen und Stacheldraht; Freiwilliger Helfer, der in den Trümmern des Urbizids arbeitet. Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Von den römischen Städten über New York bis Gaza wird die polizeiliche Überwachung der Koexistenz mit immunologischen Metaphern modelliert, die die Politik ihrer Zeit widerspiegeln. Und während der ökozidale, urbizidale und letztlich genozidale Gaza-Krieg eine Rückkehr zu einem Modell des Zusammenlebens signalisiert, das überall Reinheit verlangt, bestehen verschiedene flexible Grenzregime fort, um den vielfältigen Bedürfnissen des autoritären Kapitalismus zu dienen, wie Raj Patel in seinem Beitrag zur „Kin City“-Serie argumentiert.

*

Grenzen gehören zu den zuverlässigsten Indikatoren von Verwandtschaft. Die vielfältigsten und artenreichsten Ökosysteme entstehen in Grenzgebieten. Ökotone sind Orte, an denen die Ränder zweier Welten aufeinandertreffen und die Bedingungen für eine reiche und tiefe ökologische Verflechtung schaffen. Im großen Maßstab kann dies ein Mangrovenwald oder der Übergang vom Regenwald zur Savanne sein. Es kann aber auch in kleinerem Maßstab geschehen.

Der menschliche Darm ist ein komplexes Ökosystem mit vielen Grenzen, in dem der Mensch mit 300 bis 1000 verschiedenen Bakterienarten sowie Pilzen, Viren und Archaeen auf beiden Seiten der Darmwand zusammenlebt. Diese Billionen von Mikroorganismen, die bis zu 2-5 Pfund wiegen können, tragen 3,3 Millionen einzigartige Gene – weit mehr als ihr menschlicher Wirt. Gemeinsam ermöglichen sie dem Menschen, zu verdauen, auszuscheiden, den Stoffwechsel zu steuern und Emotionen zu regulieren. Darüber hinaus beherbergen sie 70-80% der Immunzellen des menschlichen Körpers und bilden die Grenze zwischen innerer und äußerer Welt und Verwandtschaft.

Die Sprache der Immunologie und die Politik der Verwandtschaft haben sich im Gleichschritt entwickelt. Der Begriff der Immunität stammt aus der römischen Kolonialzeit. Sie leitet sich von ‚munera‘ ab, den Pflichten der römischen Bürger*innen gegenüber dem Imperium. Im Zuge der Eroberung der Stadtstaaten fand Rom einen Kompromiss für die kolonisierten Untertanen. Sie sollten sowohl von den Pflichten des Staatsdienstes als auch von den Vorteilen des römischen Bürger*innenrechts befreit werden. Deshalb wurden diese freien Städte Civitates liberae et immunes genannt.

Polizeiliche Kontrolle der Immunität

Immunität bedeutet, zu einem Ort zu gehören, aber nicht zu seiner Herrschaft, nicht ganz dazuzugehören. Die Geschichte der Biologie spiegelt die Politik ihrer Zeit wider. Im 19. Jahrhundert wurden Metaphern der medizinischen Immunität verwendet, um die Idee der nationalen Identität zu beschreiben – menschliche Zellen, die Eindringlinge an der Grenze abwehren. Diese Metaphern entwickelten sich zu einem Verständnis des Immunsystems als Grenzpatrouille, bei der Selbstzellen den Körper auf der Suche nach Nicht-Selbst durchstreifen und diese in einem Kampf zwischen Verwandten und Nicht-Verwandten töten. Aber wie die Pionierbiologin Polly Matzinger feststellte, kann das nicht die ganze Geschichte sein. Wenn Immunität bedeutet, alle anderen zu töten, dann ist eine Schwangerschaft unmöglich. Ein Kind ist ein anderes Wesen als seine Mutter, es muss also etwas anderes im Spiel sein als ein einfacher Selbst-gegen-Andere-Test.

In den 1990er Jahren entwickelte Matzinger eine „broken windows“-Theorie der Immunpolizei, in der das Kriterium der ‚Fremdheit‘ weniger wichtig ist als die Frage, ob ein neuer Erreger Probleme verursacht: eine ‚Gefahrentheorie‘ der Immunologie. In diesem Modell zirkuliert das Leben im Körper unter ständiger Überwachung, die beim geringsten Anzeichen von Problemen gewalttätige Ressourcen mobilisiert, um der Bedrohung zu begegnen. Matzinger reflektierte die Polizeitheorie seiner Zeit, in der der Staat, insbesondere in New York City, die Staatsgewalt bei der geringsten Übertretung einsetzte.

Heute hat ein besseres Verständnis des menschlichen Mikrobioms zu einer dritten Gruppe von Metaphern geführt. Menschliche und nicht-menschliche Darmbakterien spielen eine entscheidende Rolle bei der Spaltung komplexer Moleküle und erleichtern den Transport von Energie und Nährstoffen durch die Darmwand. In Anerkennung der Tatsache, dass das Mikrobiom eine riesige und wimmelnde Ökologie ist, ist die Metapher der Immunantwort weder national noch identitär, sondern eine Metapher des Austauschs über Grenzen hinweg. Immunreaktionen können nun als Ökonomie-als-Sicherheitspolitik verstanden werden.

Gazas mehr-als-urbaner Metabolismus

Wenn der Schauplatz der ersten polizeilichen Überwachung von Ko-Existenz und Verwandtschaft die römischen Städte waren und die zweite Welle immunologischer Metaphern von New York ausging, so kann der Schauplatz der dritten Welle als das Vorkriegs-Gaza verstanden werden. Die Energie-, Arbeits- und Kapitalströme von Gaza nach Israel versorgten die israelische Industrie und waren eine Quelle des Profits, trotz der anhaltenden Bemühungen, Gaza sowohl politisch als auch sozial zu isolieren.

Vor Oktober 2023 ließ der offizielle Arbeitsmarkt nur 10.000 Arbeiter*innen aus dem Gazastreifen zu – ein Bruchteil der 100.000, die in den 1990er Jahren über die Grenze kamen. Ihre Rücküberweisungen, die 15-20% des Einkommens der Arbeiterfamilien ausmachten, flossen durch eine selektiv durchlässige Membran. Aber diese Arbeiter*innen, die 40-50% weniger verdienen als ihre israelischen Kolleg*innen, sind nur der sichtbare Teil einer tieferen metabolischen Beziehung. In Gaza war die Schattenwirtschaft durch Tunnel, Genehmigungssysteme und informelle Märkte ein Mittel zum Überleben. Auf ihrem Höhepunkt erwirtschaftete die Tunnelwirtschaft jährlich 500 bis 700 Millionen Dollar und machte 25 Prozent des BIP von Gaza aus. Über diese informellen Netzwerke wurden 40% der gesamten Importe des Gazastreifens abgewickelt.

Israels Kontrolle des Stoffwechsels im Gazastreifen zeigt sich am deutlichsten in der Verwaltung der Grundressourcen. Gaza deckt nur 30-40% seines Energiebedarfs und importiert 60% seines Stroms aus Israel, was jährlich 100 Millionen Dollar kostet. Der Wasserfluss folgt ähnlichen Mustern der kontrollierten Knappheit – 90 % des Wassers in Gaza ist für den Verbrauch ungeeignet, so dass man auf Importe aus Israel angewiesen ist, die viermal so teuer sind wie das Wasser, das Verbraucher*innen in Israel bezahlen. Die Zerstörung der Wasseraufbereitungsinfrastruktur, die seit 2008 Schäden in Höhe von 5,7 Milliarden Dollar verursacht hat, dient als eine Form der metabolischen Kontrolle, die die Abhängigkeit sichert und gleichzeitig maximalen Profit aus der Beziehung zieht.

Letztlich bricht hier die Metapher. Die Beziehung zwischen Gaza und Israel ist nicht mehr eine der Ausbeutung, sondern eine der Vernichtung. Die Hungersnot im Gazastreifen und die Zerstörung von Häusern und Ackerland – 70% der Baumkulturen wurden nach einem Jahr Krieg vernichtet – werden Jahrzehnte brauchen, um geheilt zu werden. Die Zerstörung des Gazastreifens und seiner Städte bedeutet die Zerstörung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme, von denen die Menschen in Gaza abhängen. Darüber hinaus markiert die Ausrottung von „unmenschlichen Tieren“, wie Dan Gillerman, Israels ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen, es nannte, (1) eine Rückkehr zu den alten Sprachen der Sterilisierung und Vernichtung und (2) eine Rückkehr zu einem Modell der Verwandtschaft, das überall Reinheit und die Tötung des – wie Donald Trump sagte – „inneren Feindes“ verlangt.

Die Möglichkeit einer radikalen und egalitären Verwandtschaft

Es wäre jedoch ein Fehler, diese verschiedenen Formen von Verwandtschaft und Immunität als einander ausschließend zu betrachten. Vielleicht ist die ultimative Geographie der Immunität dort zu finden, wo ich lebe, in Texas. Hier gibt es gleichzeitig nationalistische, polizeiliche und wirtschaftlich ausbeuterische Formen. Texas beherbergt die am meisten kontrollierten Arbeiter*innen des Landes: Gefängnisinsass*innen. Durch ein Schlupfloch in der US-Verfassung können Gefangene als versklavte Menschen benutzt werden, die die Pflichten des Staates erfüllen müssen, ohne ihm vollständig anzugehören, und die als Gefängnisarbeiter*innen Lebensmittel für McDonalds und Walmart produzieren.

Hinzu kommt die Nachricht von der Wiederwahl Donald Trumps, die die Rückkehr der performativen Grausamkeit der Vernichtung ankündigt – ein Beispiel für den Nationalismus in seiner faschistischen Form. Trump hat „die größten Abschiebungen der Geschichte“ versprochen und das Regime der Internierungslager und Familientrennungen an der texanischen Grenze zu Mexiko verschärft. Aber nicht alle ‚Ausländer*innen‘ werden abgeschoben. Das US-Landwirtschaftssystem würde ohne ‚papierlose Arbeiter*innen‘ zusammenbrechen. Solche Arbeiter*innen existieren in einer Grenzzone der Ausbeutung, sind ökonomisch nützlich und erlaubt, aber nur erlaubt, wenn sie vor den staatlichen Überwachungsnetzen und deren massenmedialer Auswertung verborgen werden können.

Diese mehr oder weniger flexiblen Formen der Überwachung der Grenzen der Verwandtschaft drohen, deren Möglichkeit zu zerstören. Die Pflichten, die wir einander schulden, werden von einem sterbenden Imperium diktiert. Angesichts von vier Jahren einer wahrscheinlich faschistischen Präsidentschaft in den USA müssen wir eine Universalität der Verwandtschaft verteidigen, um die zerstörerischen Kräfte des nationalen Chauvinismus in Schach zu halten. Die Möglichkeit dieser radikalen und egalitären Verwandtschaft kann die einzige Grundlage für eine transformative antifaschistische Politik der Pflicht zur Gegenseitigkeit und Fürsorge sein.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.