Nicosia ist eine geteilte Stadt, in der die bewachte Grenze ein erschreckend normaler Bestandteil des Alltags ist. Wohl auch deshalb fand dort ein Symposium zum Thema Performing Identity/ Crossing Borders des kanadischen Kulturinstituts CICAC statt. Eingeladen waren Literaturwissenschaftler, sowie Performance-Kuenstler und Poeten aus Kanada und Europa. Neben dem besonderen Ort, war die Gestaltung der drei Symposiumstage bemerkenswert: Wissenschaftliche Vortraege wechselten sich mit Lesungen und Performances ab, wodurch immer wieder voellig neue Kontexte entstanden.
Dass einige der Teilnehmer sowohl wissenschaftlich vortrugen, als auch poetische Texte lasen oder >performten<, mag die hierzulande ausgebildeten Leser vielleicht ueberraschen, fuer nordamerikanische Verhaeltnisse ist dies aber voellig normal. Viele Literaturwissenschaftler publizieren auch selbst Literatur, es erhoeht sogar die Jobchancen. Dabei vermischen sich oft thematische/aesthetische Bezuege und Betrachtungen, das wissenschaftlich Bearbeitete wird teilweise auch poetisch reflektiert. So koennen ganz neue, erfrischende Perspektiven auf den Forschungsgegenstand gewonnen werden, der Umgang mit den Primaertexten wird freier und spielerischer. Zwar schwindet auch manchmal die gebotene Distanz zwischen Forscher und Objekt, aber alles in allem kommt diese Haltung einer wesentlich flexibleren und mutigeren Literaturwissenschaft zu Gute. Das Vorbild des kreativeren Umgangs mit Literaturforschung und der vorgestellte Perspektivwechsel auf die Forschungsthemen weisst m. E. in eine aehnliche Richtung wie das von Hartmut Rosa am vergangenen Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geforderte Moratorium fuer die jaehrliche Publikationszahl in den Geisteswissenschaften. Beides, Selbstbeschraenkung und kreativer Zugang, koennten zu einem neuen Selbstbild der Literaturwissenschaftler fuehren, sich wieder erschoepfender und gleichzeitig freier mit ihrer Arbeit zu beschaeftigen. Am Ende koennte ein neues Selbstbewusstsein der Literatur- wissenschaften entstehen. Die Freiheit mehr von den schoenen Seiten Nicosias zu sehen, hatte ich waehrend der ausgefuellten Symposiumstage leider nicht; dafuer muss ich die Insel noch einmal besuchen als Tourist und Grenzgaenger zwischen den Wissenschaftskulturen.
Sloterdijk wird als Erzähler zwar überbewertet, aber das liegt nicht zuletzt daran, dass es so wenige Leute in Deutschland machen: die Grenzen zwischen den Textgattungen aufzuheben und freie Formate zu prägen, ja eigene Sprachen, wie “Deutschlands zweitgrößter Philosoph” sie für die Sphären-Trilogie geprägt haben will. An Theweleit wiederum sieht man, wie hilflos der Kultur- und Wissensbetrieb in Deutschlands angesichts einem Intellektuellen ist, der sich nicht auf Festgeschriebenes beschränken will: Mal wird er als Schriftsteller, mal als Philosoph, mal als Sozialwissenschaftler, mal als Kunstwissenschaftler tituliert. Als was bezeichnenen wir ihn nun? Mein Vorschlag: Es geht nicht darum, alles mal ein wenig lockerer zu nehmen, sondern die Grenzauflösungen ernster und weniger defensiv. Es entsteht ja was Neues!
Sloterdijk und Theweleit sind nicht mehr die Jüngsten und auch nicht gerade die Unbekanntesten. Will sagen: Da draussen gibt es sicherlich viele, die seit geraumer Zeit ähnlich arbeiten. Deren Erfarung sollte man größere Aufmerksamkeit schenken. Ich Verweise auf das Lettre-Umfeld. Oder Spex-Autoren aus den 1980er und 1990ern. Aber auch auf Geschichte: Wer war nochmal Walter Benjamin?
Über die von Rosa angesprochene Selbstbeherrschung habe in letzter Zeit auch sehr viel nachdenken müssen. Aber dazu vielleicht an anderer Stelle.
Mich würde interessieren, was Du auf dieser Konferenz in Nicosia gemacht hast?
Lieber Krystian,
vielen Dank für deinen erhellenden Kommentar. Du hast natürlich Recht. Auch
hier gibt es “schreibende Forscher”. Ein anderes Beispiel, auf einer noch einmal ganz anderen Ebene ist vielleicht auch Peter Bieri. Der Unterschied zu Nordamerika ist sicher aber die Normalität des Vorgangs – auch
unbekanntere Wissenschaftler von kleineren Unis veröffentlichen literarisch.
Ein schönes Beispiel eines erfolgreichen Grenzgängers ist Gregor Hens, der
als Deutscher in den USA forscht und hierzulande sehr erfolgreich Romane
veröffentlicht.
Beste Grüße,
Marc
Hallo Magdalena,
vielen Dank für dein Interesse. Ich habe dort selbst einen Vortrag gehalten, zu meinem Promotionsthema über interkulturelle Literatur und die Konstruktion von Identität in und mittels Sprache. Es war eine sehr interessante Erfahrung für mich, ich war auf mehreren Ebenen herausgefordert (inhaltlich, sprachlich), habe aber ganz gutes Feedback bekommen und neue Motivation für meine Arbeit.