Wie hängen der ökologisch-ökonomische Komplex, grüner Kapitalismus und Übergangsgerechtigkeit miteinander zusammen? Die Berliner Gazette (BG) Herausgeber*innen Magdalena Taube und Krystian Woznicki suchen nach Antworten und skizzieren im folgenden Essay das BG-Jahresprojekt 2022: “After Extractivism”. Zugleich bietet ihr Essay eine Einführung in die Textreihe, die die BG in Zusammenarbeit mit mehr als 50 Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden zu obiger Fragestellung entwickelt.
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Wirtschaftliche und ökologische Krisen sind auf zunehmend verheerende Weise miteinander verwoben und heizen sich gegenseitig an – ein ökologisch-ökonomischer Komplex (oder besser: Teufelskreis), der Pandemien, extreme Wetterereignisse, die langsame Gewalt der Klimakatastrophe und regelrechte Kriege hervorbringt. Wenn Regierungen (und Konzerne) offiziell anerkennen, dass Ökologie und Ökonomie immer zerstörerischer ineinandergreifen, werben sie für angeblich „nachhaltige“ Modelle, setzen aber meistens Maßnahmen ein, die die Probleme, die sie zu lösen vorgeben, reproduzieren.
Alternativ dazu schlägt das BG Projekt vor, aus der letzten großen Transition – dem Übergang vom „Kommunismus“ zum Kapitalismus nach dem Kalten Krieg – zu lernen und die Frage nach Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang zu stellen. Transition justice (zu Deutsch: Übergangsgerechtigkeit) bedeutet hier nicht zuletzt, sich mit all dem auseinanderzusetzen, was in den offiziellen Darstellungen der Übergänge nach 1989 in der Regel ausgeblendet oder geleugnet wird: die Klassenkämpfe und die immensen, lang anhaltenden politischen, sozialen und letztlich auch ökologischen Kosten dieser Transitionen.
I. Der ökologisch-ökonomische Komplex
Die Folgen der vom Menschen verursachten „Naturkatastrophen“ werden von den schwächsten und verletzlichsten Mitgliedern der globalen Gesellschaft getragen. Die anhaltende Klimakatastrophe hat uns an diese Binsenweisheit erinnert. Und die Covid-19-Pandemie zeigt wenig überraschend, dass bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten noch verstärkt werden. Die Auswirkungen der Pandemie, die in erster Linie eine globale Gesundheitskrise ist, sind vielfältig. Neben einer enormen Anzahl an Todesopfern (nach wie vor steigend), gesundheitlichen Schäden (z. B. Long COVID), sozialer Atomisierung und Entsolidarisierung verschärft sich auch die Lage im politisch-wirtschaftlichen Bereich: beispielsweise nehmen Zwangsräumungen, Verschuldung und Arbeitslosigkeit stetig zu. Während der Globale Norden die schlimmsten Auswirkungen abwenden und sogar, sowohl punktuell als auch strukturell, von der Krise profitieren kann, sind vor allem die nicht so widerstandsfähigen Gesellschaften in der post-„kommunistischen“ Welt und im Globalen Süden insgesamt besonders hart betroffen und verlieren die Vorteile jener Fortschritte, die sie in den letzten Jahrzehnten gemacht haben: Massenarmut, die allmählich überwunden wurde, kehrt schnell zurück (Gilbert Achcar, 2020) und befördert Schuldenspiralen (Zsuzsi Pósfai et al., 2021), um nur zwei Beispiele zu nennen.
Dies fordert uns – wer auch immer „wir“ sind – heraus, das Design unserer Systeme kritisch zu hinterfragen. Insofern will das BG-Projekt 2022 Möglichkeiten eröffnen, die Pandemie anders zu bewerten als in den vorherrschenden Narrativen, die sich der „Rückkehr zur Normalität“ verschrieben haben. Das Ziel besteht nicht nur darin, Schlüsselfragen zum Krisenmanagement aufzuwerfen. Was vielleicht noch wichtiger ist: Das Projekt wird auch die Ursachen unserer misslichen Lage untersuchen und mögliche Auswege diskutieren. Inspiriert von einer ökologisch informierten Kritik an politisch-ökonomischen Herrschafts- und Ausbeutungssystemen (Donna J. Haraway, 2016), insbesondere am Kapitalismus (Naomi Klein, 2014) und am (Neo-)Imperialismus und -kolonialismus (Sylvia Wynter, 2015 ), wollen wir untersuchen, wie die Krise umgedeutet werden und als Ausgangspunkt für eine planetarische Politik der gerechten und nachhaltigen Transformation dienen könnte.
Fest steht: Epidemien gibt es, seitdem die Menschen Landwirtschaft betreiben. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der zunehmenden Verflechtung des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens auf dem Planeten haben diese Ausbrüche die Form von Pandemien angenommen: Die unaufhaltsame Ausdehnung der Landwirtschaft und anderer Formen der industrialisierten Nutzung der Natur hat die ganze Welt in umkämpfte Zonen der Ressourcengewinnung verwandelt; und je tiefer diese extraktiven Prozesse in die Natur eindringen, desto wahrscheinlicher sind Zoonosen, also die Übertragung von Krankheitserregern von Tieren zum Menschen – was wiederum zu Pandemien führen kann. Dies haben uns SARS, MERS und die Vogelgrippe gelehrt und kann auch – zumindest prinzipiell – als eine der wichtigsten Lektionen der COVID-19 Pandemie gelten (Rob Wallace, 2020). Hierbei sollte auch unbedingt berücksichtigt werden, dass die aggressive Ausbeutung der natürlichen Welt auch die Ursache für die Erderwärmung ist. Ein konkretes Beispiel ist die industrielle Rinder- und Schweinehaltung (Alex Blanchette, 2020), bei der Tausende von Tieren auf engstem Raum zusammengepfercht sind und mit Hilfe von Zwangsernährung auf ihre Schlachtung vorbereitet werden: Die Tiere und ihre „Verarbeitung“ setzen tonnenweise Kohlenstoff frei, und in den Anlagen werden viele anthropogene Krankheitserreger herangezüchtet, trotz des Einsatzes von Antibiotika und Desinfektionsmitteln.
Daher ist die Frage, wie Epidemien entstehen und warum sie sich global ausbreiten und zu Pandemien werden, eng mit der Frage verknüpft, wie die anhaltende Klimakatastrophe – mit ihren erratischen Ausbrüchen einerseits und ihrer langsamen Gewalt andererseits – zustande kommt. Bei der Suche nach Antworten ist es wichtig, den Blick nicht auf ökologische Verflechtungen zu beschränken – etwa die Kreisläufe von Zoonosen und Anthroponosen (Sonia Shah, 2022). Vielmehr müssen wir untersuchen, wie ökologische und ökonomische Strukturen ineinandergreifen. Denn: Mit der Verabsolutierung des freien Marktes, mit der Annahme, dass die Logik des Marktes allmächtig ist, werden potenziell ökozidale Rahmenbedingungen geschaffen. Sichtbar werden diese etwa bei der fehlenden Regulierung vieler extraktiver Rohstoffindustrien, einzig auf Wachstum orientierten Freihandelsabkommen, profitorientierten Tierhaltungspraktiken und ausbeuterischen Eigentumsverhältnissen. All dies führt zu katastrophalen Entwicklungen wie dem weltweiten Schwinden der Artenvielfalt, der Übernutzung von Land und der Massentierhaltung. Obwohl dies die gemeinsamen Ursachen von Pandemien und der Klimakatastrophe sind, werden sie in der Regel nicht beachtet oder nicht als solche verstanden.
Deshalb will das BG-Projekt 2022 einen dringend benötigten Raum schaffen, um über kollektive Möglichkeiten zur Analyse und Kritik des ökologisch-ökonomischen Komplexes nachzudenken. Dabei wird der Extraktivismus (von lat. ex-trahere „herausziehen“; ex-tractum „das Herausgezogene“) als Leitmotiv des Projekts dienen. Der Begriff leitet sich von „extraktiven Wirtschaftsformen“ ab und bezeichnet die Bewirtschaftung von naturnahen Landschaften, aus denen Wildpflanzen oder -tiere extrahiert – also herausgelöst und nutzbar gemacht – werden. Während die Extraktion ursprünglich als nachhaltige Produktionsform galt, wird der Begriff Extraktivismus in neueren wirtschaftspolitischen Debatten mit einer deutlich negativen Konnotation verwendet (Isaac ‚Asume‘ Osuoka und Anna Zalik, 2020). Er steht heute nicht zuletzt für ein politisch-ökonomisches Regime der Enteignung, das auf exzessivem Export von Rohstoffen und organisiertem Raubbau beruht, wobei vor Ort weitgehend auf die Weiterverarbeitung der gewonnen Ressourcen verzichtet wird. All dies geschieht oft zum Nachteil lokaler indigener Gemeinschaften und der Biodiversität, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Es dürfte nicht überraschen, dass die negativen Folgen des groß angelegten Extraktivismus für politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure immer deutlicher werden. Aber die Verantwortlichen, nämlich Regierungen und Unternehmen, führen sie nicht auf ihre eigenen imperialen und neokolonialen Praktiken zurück und vermeiden es, den Extraktivismus in Frage zu stellen. Entsprechend werden radikale Alternativen ausgeschlossen. Die einzigen Optionen für einen Wandel, die angeblich zur Verfügung stehen, werden in einem trügerischen Grünton präsentiert.
II. Grüner Kapitalismus
Seitdem die Folgen des Rohstoff-Extraktivismus (Kohle, Öl, Gas, etc.) für das Klima in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher zutage getreten sind, gilt eine grundsätzliche Abkehr von fossilen Energieträgern als Herzstück einer nachhaltigen Klimapolitik. Im Zuge der Umstellung der Wirtschaft, insbesondere der Energiewirtschaft, hin zu einem geringeren Umsatz an Kohlenstoff – Stichwort: Dekarbonisierung – haben Lobbygruppen und Massenmedien den digitalen Technologien ein praktisch klimaneutrales Image verpasst. Mit dem Elektroauto als Symbol für eine nachhaltige Zukunft wird der grüne Kapitalismus als die Lösung all unserer Probleme präsentiert. Natürlich wird das Wort Kapitalismus in diesen Lobeshymnen in der Regel vermieden, ebenso wie das Wort Extraktivismus. Dies ist der Schlüssel zum Mythos der „sauberen Technologie“.
Aufbauend auf einer jahrzehntelangen Tradition des Greenwashing wird der Mythos der „sauberen Technologie“ durch umfangreiche Werbung sowie kostspielige und aufwendig mediatisierte öffentliche Auftritte von „grünen“ Unternehmer*innen wie Elon Musk gestützt. Wird sein Unternehmen Tesla nicht deshalb so hoch an der Börse bewertet, weil Musks öffentliche Persona eine Projektionsfläche für technologische Weltverbesserung gepaart mit Umweltfreundlichkeit bietet? Und sind solche eskapistischen Phantasien nicht gerade deshalb so erfolgreich, weil „grüne“ Unternehmen wie Tesla scheinbar nichts mit Profitmacherei und Umweltzerstörung zu tun haben, während hinter den Kulissen des kollektiven Bewusstseins das kapitalistische Unternehmen vorangetrieben wird?
Lithiumminen sind einer der vielen Standorte für die Gewinnung von Mineralien, die für den Einsatz von Clean Tech benötigt werden. In Südamerikas so genanntem „Lithium-Dreieck“ im Norden Chiles, im Süden Boliviens und im Nordosten Argentiniens beispielsweise haben die weitgehend uneingestandenen, unentschuldigten und unkompensierten Auswirkungen der europäischen Besiedlung, des Imperialismus und der Sklaverei über Jahrhunderte hinweg nicht nur den Weg für die wirtschaftliche Ausbeutung und die politische Vorherrschaft der Europäer*innen und später der Vereinigten Staaten in der Region geebnet (Eduardo Galeano, 1971). Sie schufen auch den Boden für den Neokolonialismus und Neoimperialismus des 21. Jahrhunderts durch schier unersättlich Energieverbrauchende Staaten und Konzerne. Im Zuge dessen sind die Lithiumminen zum Schauplatz von Kriegen um seltene Metalle geworden, in denen um Vorherrschaft und Profite gekämpft wird, ohne dass dies in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erregt. Schlimmer noch, diese Extraktivismus-Kriege finden praktisch jenseits demokratischer Rechenschaftspflicht statt: Indem sie das klimaneutrale Image der „sauberen Technologie“ instrumentalisieren, schaffen Regierungen aller Art gesetzliche und außergesetzliche Rahmenbedingungen für die (Möchtegern-)Milliardäre des grünen Kapitalismus. Infolgedessen ist der wachsende Markt für „saubere Technologien“, der fast ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten strukturiert ist, größtenteils unreguliert und von der Umweltpolitik abgekoppelt (Guillaume Pitron, 2020).
Die infrastrukturellen und logistischen Netze der Akkumulationsregimes von heute wurden weltweit unter ähnlichen Bedingungen ausgebaut. Der Aufbau der so genannten „Cloud“ etwa erforderte die Verlegung von Untersee-Glasfaserkabeln, die eine Hochgeschwindigkeits-Datenverbindung zwischen den Kontinenten herstellen, die Errichtung von Rechenzentren und die Unterhaltung von Serverfarmen usw. Die Umweltschäden, die durch die Cloud als eine mineralische Ressourcen verbrauchende und damit den Extraktivismus vorantreibende Technologie verursacht werden (Tung-Hui Hu, 2015), werden von der „Clean Tech“-Lobby radikal vertuscht oder einfach geleugnet. Dies wird nicht zuletzt durch die Komplizenschaft der „user“ begünstigt, genauer gesagt den Umstand, dass Cloud-Aktivitäten das „user unconscious“ (Patricia Ticineto Clough, 2018) bzw. das Verdrängte der digitalen Gesellschaften entscheidend formieren. Während Cloud-Aktivitäten, z. B. die gewohnheitsmäßige Nutzung von Software zur Ausführung von Social-Media-Anwendungen, als (halb-)unbewusste Routinen hingenommen und sogar bereitwillig ausgeübt werden, wird die Cloud selbst, die Hardware, die fast unmerklich für ständige Konnektivität sorgt, als etwas Schwebendes, Gasförmiges, Feines und letztlich Sauberes verkauft und auch sehr gern so gesehen; etwas ganz Natürliches ohne toxische, von Menschen verursachte Nebenwirkungen auf die Umwelt (Kate Crawford, 2021). Jetzt, da sich während der COVID-19-Pandemie noch mehr soziale Interaktionen ins Internet verlagert haben, haben die Cloud-Aktivitäten einen erheblichen Schub erhalten (Marie Rosenkranz, 2020) und erzeugen immer unkontrollierter große Mengen an Wärme. Infolgedessen bleibt die gewaltsame Rückkehr des Verdrängten zumindest vorerst für alle erkennbar aber dennoch unerkannt: Die steigende Wärme der Cloud-Serverfarmen führt zu höheren Temperaturen, die die Erderwärmung verstärken, während höhere Temperaturen zusätzlichen Stress für die Cloud-Infrastruktur bedeuten, die wiederum zusätzliche energieintensive Wartung und Kühlung erfordert. Ein Teufelskreis, der die Klimakatastrophe verschärft.
Während all dies von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt bleibt, so drängt es sich geradezu auf, die mehr oder weniger subtilen Veränderungen in der politischen Landschaft wahrzunehmen. In Europa zum Beispiel haben grüne Parteien kontinuierlich mehr Sitze in Parlamenten und Rathäusern errungen. Dies spiegelt natürlich das wachsende Umweltbewusstsein der Wähler*innen aus der Mittelschicht wider. Es zeigt jedoch auch, dass der Einzug grüner Parteien in die Zentren der politischen Macht mit ihrem Engagement für die herrschende Wirtschaft einhergeht – bekanntlich ist genau dieses Engagement die Eintrittskarte in die große Politik (Benoît Bréville et al., 2021). So konkurrieren Parteien wie die Grünen, die seit den 1970er Jahren mit radikalen Alternativen in Verbindung gebracht werden, heute mit Parteien, die traditionell mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden, um nichts anderes als die Gunst der Wirtschaft. Tatsächlich haben sie sehr gute Voraussetzungen, um in diesem Wettbewerb gut abzuschneiden.
So hat in Deutschland die Partei, die die Transformation des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg in einen neoliberalen und neoimperialen Staat maßgeblich verantwortet hat – die CDU – die Wahlen 2021 verloren; der damit verbundene Aufstieg der Grünen ist auch auf ihr erfolgreiches Einwerben von Wahlkampfspenden aus den Reihen der Wirtschaft zurückzuführen. Der Anteil der Grünen am Gesamtvolumen der Wahlkampfspenden stieg von knapp über drei Prozent vor vier Jahren auf gut 29 Prozent (Christina Deckwirth, 2021). Darin enthalten ist die Spende des Bitcoin-Millionärs Moritz Schmidt in Höhe von einer Million Euro. Hier zeigt sich, dass die Interessen des Kapitals derzeit auch bei einer Partei gut aufgehoben sind, die in Aussicht stellt, die herrschende Ökonomie für das Zeitalter der Klimakatastrophe „fit“ zu machen, sprich: die vorherrschende Wirtschaftsform mit einem grünem Touch zu versehen und somit reibungslos ihren Spielraum zu erweitern. In der Tat ist das, was den Grünen unter den Kapitalist*innen am meisten zugeschrieben wird, nichts Geringeres als die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Fähigkeit, angesichts der Umweltkatastrophe „innovativ“ zu sein. Die Doppelmoral solcher „Innovationen“ wird auf einem Plakat für den Wahlkampf 2021 eindrucksvoll deutlich. Das Versprechen der Grünen lautete: „Eine Wirtschaft, von der alle profitieren – auch die Umwelt. Klar, ist das machbar!“ Die Verwendung des Wortes „Profit“ ist symptomatisch, denn das Profitieren und Profite im Allgemeinen können nur durch systematischen und (System-bedingt) exzessiven Extraktivismus erzielt werden. Das können nicht gleichzeitig die Interessen des Kapitals und des Gemeinwohls sein, wie es die Grünen suggerieren.
All dies zeigt, dass sich die Dinge nicht so einfach zum Besseren wenden werden – jedenfalls nicht, ohne die vorherrschende Wirtschaftsweise grundlegend in Frage zu stellen, die auf resourcenverschlingendem Extraktivismus, energieverschwendendem Profitzwang und exzessivem Streben nach endlosem Wachstum beruht. Es liegt auf der Hand, dass diese Wirtschaftsweise Ausdruck einer jahrhundertealten Konstellation von Machtstrukturen ist, die die Klimakastrophe als transgenerationelles Problem und die gegenwärtige Krisenspirale hervorgebracht haben. Insofern kommt man nicht umhin, dieser Wirtschaftsweise ebenfalls zuzuschreiben, dass die vermeintliche Energiewende zu einer Energieexpansion wird (Transnational Institute, 2021). Mit anderen Worten, das Gegenteil der beschworenen Lösung.
III. Transition Justice
Wenn Regierungen, Unternehmen und Lobbygruppen, die für einen Wandel im Sinne des grünen Kapitalismus eintreten, die grundlegende Infragestellung der vorherrschenden Wirtschaftsweise vermeiden und sogar aktiv verhindern, schaffen sie damit einen diskursiven Rahmen, in dem radikale Alternativen wie etwa der Ökokommunismus (Salvatore Engel-Di Mauro, 2021) implizit oder explizit kategorisch ausgeschlossen werden. Diese Immunisierung gegen alles, was auch nur im Entferntesten nach Antikapitalismus riecht, folgt einer denkbar einfachen Logik: Die fragliche Gruppe von Akteur*innen hat aus der letzten großen Transformation, die in den Ostblockländern nach dem Fall der Berliner Mauer eingeleitet wurde, „gelernt“, dass „der Kapitalismus unbesiegbar ist“. Schließlich „hat der Kapitalismus den Kampf gegen den ‚Kommunismus‘ gewonnen; jetzt regieren die Kapitalist*innen die ganze Welt. Und das zu Recht! Weil dieser Sieg eine Frage der zivilisatorischen Überlegenheit gewesen ist.“
Die Siegeserzählung steht im Dienste räuberischer Kapital-Interessen. Die Expansion des Kapitalismus im ehemaligen Ostblock ist ein offensichtlicher Beleg dafür, insofern das Zuckerbrot der Mitgliedschaft in der „freien Welt“ eingesetzt wurde, um die Länder zu Liberalisierung und „verantwortungsvoller Staatsführung“ zu bewegen und sie mit den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Westens in Einklang zu bringen. Doch auch die neoliberale Umstrukturierung der öffentlichen Verkehrssysteme durch die Behörden von Moskau bis Taschkent nach dem Vorbild „grüner“, unkritisch aus dem Westen importierter Konzepte (Lela Rekhviashvili und Wladimir Sgibnev, 2021) kann hier als ein Indiz gelten. Um als symbolisches Instrument der Macht zu funktionieren, muss die Siegeserzählung jeden Zweifel an der Hegemonie des Kapitalismus zerstreuen. Daher muss sie sich aus strategischen Gründen der Selbstverherrlichung hingeben und folgendes ausblenden: Die Siegeserzählung muss die politischen, sozialen, menschlichen und letztlich auch ökologischen Kosten der Transition leugnen, unter denen alle post-„kommunistischen“ Gesellschaften noch immer leiden – ein Elend, das sich während der COVID-19-Pandemie kaum verbergen ließ (LevFem, 2021). Da Kosten vielfach mit Reibungen einhergehen, müssen auch die Räume für Kritik, Anfechtung und Konflikte, die die Transitionen immer auch entstehen ließen, ausblendet werden. Entsprechend muss auch das Echo, das die sozialen Reibungen in der osteuropäischen Wissenschaft und im intellektuellen Diskurs insgesamt gefunden haben (Liviu Chelcea und Oana Druţǎ, 2016), systematisch marginalisiert werden. Nicht zuletzt muss die Siegeserzählung die Klassenkämpfe übergehen, die im Spiel gewesen sind, und eine entpolitisierte Vorstellung von transition justice befördern, indem sie die Frage Gerechtigkeit für wen? (Raia Apostolova und Tsvetelina Hristova, 2021) erst gar nicht stellt.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Siegeserzählung in Momenten der Systemkrise auch als Kompensationsmechanismus fungiert. In diesem Sinne spiegelt die jüngste Wiederverwendung dieses Narrativs bei den Feierlichkeiten zu „30 Jahre Transition“ eine Krise der politischen Ökonomie Osteuropas wider (Agnes Gagyi und Ondřej Slačálek, 2021), die die EU insgesamt betrifft und gleichzeitig die strukturellen Ungleichheiten weiter vertieft. Obwohl Kapitalist*innen am besten wissen, wie sie aus jeder Krise ein Geschäft machen können, sollte man nicht vergessen, dass es sich hier um eine ambivalente Situation handelt: Wenn die Krise verschiedene Risse in den herrschenden Machtstrukturen offenbart, dann können diese Risse auch als Öffnungen für eine emanzipatorische Politik und Räume der Hoffnung umgedeutet und umfunktioniert werden. Mit anderen Worten: Was vorprogrammiert scheint, ist nicht unausweichlich, nämlich dass es in absehbarer Zeit noch schlimmer kommen wird. Umso wichtiger ist es, die Paradoxien, Dynamiken und Gefahren des ökologisch-ökonomischen Komplexes und des grünen Kapitalismus als dessen gesellschaftsfähige Fassade im Auge zu behalten.
Die sogenannten westlichen Balkanländer etwa sind stark vom Klimawandel betroffen und verbrauchen im Durchschnitt dreimal so viel Energie wie die meisten EU-Länder, was auf die schlechte Energieinfrastruktur, die ineffiziente Struktur des Industriesektors und schlecht isolierte Haushalte zurückzuführen ist (Andrea Mladen et al., 2019). Doch die Regierungen scheinen nicht bereit zu sein, angesichts der anhaltenden Klimakatastrophe Verantwortung zu übernehmen. Strategien für einen wirklich nachhaltigen und gerechten Übergang sind in den meisten post-„kommunistischen“ Staaten praktisch nicht existent. Stattdessen überwiegt der Opportunismus der herrschenden Klassen: Die Privatisierung von Ressourcen, Land und Infrastruktur aus Staatsbesitz, eine der wichtigsten Top-down-Maßnahmen der Transitionen nach 1989, wird der Öffentlichkeit heute als „notwendige grüne Innovation“ verkauft – eine weitere Absage ans Gemeinwohl aus Profitgründen. Wie in anderen Teilen der Welt wird diese „Disruption“ auf perfide Weise mit dem Wiederaufleben autoritärer, patriarchalischer Strukturen in Einklang gebracht. Davon profitieren ausländische Investor*innen und regionale Eliten gleichermaßen, die den „Ressourcennationalismus“ (Eszter Krasznai Kovács, 2021) fördern und normalisieren: ein politisch-ökonomisches Regime, das es ermöglicht, die Kontrolle über die Ressourcen in den Händen einiger weniger zu konzentrieren, während basisdemokratische Ansätze wie die Ernährungssouveränität wenn nicht unterdrückt, so doch ignoriert werden (Mihajlo Vujasin, 2021). Auf die Verzweifelung der Bevölkerung reagieren die Herrschenden mit Ablenkungsmanövern, etwa dem Wiederaufwärmen von nationalen Mythen. Derweil werden Kämpfe um politische und ökonomische Teilhabe unsichtbar und vergessen gemacht (Damir Arsenijević, 2019). Doch dies gelingt wie immer nicht vollständig. In Serbien, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, entdeckte Rio Tinto, das zweitgrößte Metall- und Bergbauunternehmen der Welt, 2006 Lithiumvorkommen in der Region Loznica. Die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić schuf die Voraussetzungen für extralegalen Extraktivismus, indem sie das sogenannte Enteignungsgesetz einführte, das es privaten Unternehmen ermöglichen soll, Land zu enteignen und den Weg für Rohstoffunternehmen wie Rio Tinto zu ebnen. Mit einer Reihe von Großprotesten, die 2021 auch zu Blockaden in rund 50 Städten im ganzen Land führten (Iskra Krstic, 2021), gelang es jedoch, die Entwicklung des „größten Lithiumprojekts der Welt“ zumindest vorübergehend zu stoppen.
Was bedeutet es nun, von den Übergängen nach 1989 in einem internationalen Kontext zu lernen, in dem eine Transition von umweltzerstörerischen zu nachhaltigen Wirtschaften als Herausforderung für unsere planetarische Gemeinschaft angesehen wird? Das BG-Projekt schlägt vor, bei den geleugneten Übergangskosten und Klassenkämpfen anzufangen, weil so die ansonsten blockierte Frage nach der transition justice unsere Zukunftsperspektiven schärfen kann. In diesem Zusammenhang verwenden wir den Begriff transition justice als konzeptionelle Weiterentwicklung des Rahmens für eine just transition. Das in den letzten Jahren von der Gewerkschaftsbewegung entwickelte Konzept der just transition stellt Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Anpassung an die Klimakatastrophe und fordert Interventionen, die die Rechte und den Lebensunterhalt der Arbeitnehmer*innen sichern, wenn sich, wie etwa in kohleabhängigen Regionen, die Wirtschaft von fossilen Brennstoffen auf andere Energieträger umgestellt wird. Das Konzept der transition justice schlägt vor, einen Schritt weiterzugehen und dabei auch Forderungen der Bewegung für Umeweltgerechtigkeit (environmental justice) einzubeziehen: das wären in erster Linie ethische, rechtliche und politische Fragen der Rechenschaftspflicht und Verantwortung für die Konsequenzen der langsamen Gewalt ökologischer Verwüstungen, die seit der sogenannten europäischen Expansion im Zuge von Kolonisierung und Industrialisierung verursacht worden sind und noch immer nachhallen.
Kurz gesagt: das BG-Projekt 2022 schlägt vor, Forderungen nach einer just transition mit Forderungen nach Umweltgerechtigkeit zu verbinden. In diesem Sinne kann das Konzept der transition justice nicht zuletzt indigene Anliegen (Indigenous Environmental Network, 2017) einbeziehen und Raum für die Interessen von Arbeiter*innen schaffen, die (noch) nicht von Gewerkschaften vertreten werden (z. B. Wanderarbeiter*innen oder Arbeiter*innen in den Bereichen der sozialen Reproduktion). Damit unterstreicht das Konzept die Forderung, dass progressive Antworten auf die katastrophalen Folgen des ökologisch-ökonomischen Komplexes die Machtstrukturen dieses Komplexes aufbrechen und neue Wege in eine gerechte Welt beschreiten müssen – statt mit „grünen“ Übergangsmaßnahmen strukturelle Missstände zu reproduzieren. Schließlich beruhen diese Machtstrukturen auf „der Vorstellung von Natur als konstantem Kapital und der Tatsache, dass sich die Organisatoren des kapitalistischen Weltsystems die schwarze Arbeitskraft als konstantes Kapital angeeignet haben“ (Cedric J. Robinson, 1983). Dies drängt uns wiederum dazu, die Verbindung „zwischen der westlichen Auffassung von Natur als ‚billig‘ und der globalen Organisation einer ‚billigen‘, rassifizierten, wegwerfbaren Arbeitskraft“ kritisch zu hinterfragen (Françoise Vergès, 2017).
Die daraus resultierende Forderung nach einer Politisierung des Extraktivismus in Anlehnung an die Kritik der Kolonialität ist umso aktueller, als die Grenzen des Extraktivismus fortwährend an rassifizierte Orte verlagert werden, wo, wie Kapitalist*innen glauben, „die Extraktion immer noch Profite generieren kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ Es versteht sich von selbst, dass diese Verlagerung die Klimakatastrophe in Regionen verschärft, die ohnehin schon zu den am stärksten von extremen Wetterereignissen, Überschwemmungen und Dürren betroffenen Regionen gehören – und die am wenigsten darauf vorbereitet sind, damit umzugehen. Kurz gesagt, die fraglichen Machtstrukturen, die als Matrix unseres Zeitalters im Zeichen des rassifizierten Kapitalozäns dienen, sind die eigentliche Quelle gravierender Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten sowie die eigentliche Ursache für die Gefährdung, Vergiftung und Zerstörung von Lebenswelten. Mehr noch, die Machtstrukturen produzieren die Klimakatastrophe, die vor allem in post-„kommunistischen“ Staaten und im Globalen Süden zu Vertreibung und Massenflucht führt (Sujatha Byravan und Harsha Walia,2019 ).
Um die besagten Machtstrukturen bei Prozessen wie der so genannten Energiewende und anderen Maßnahmen zur Anpassung an die Klimakatastrophe aufzulösen, muss die Klimaproduktion dekolonisiert und dem Zugriff des Kapitalismus entzogen werden. Das BG-Projekt After Extractivism lädt Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffende dazu ein, zu erforschen, zu überlegen und zu imaginieren, wie wir dies in Solidarität tun können. Zugespitzt formuliert: Wie können wir unsere Zukunft auf dem Erbe und den Ansprüchen derer bauen, die – gestern wie heute – durch den ökologisch-ökonomischen Komplex in existenzielle Notlagen geraten sind? Und wie können wir ihre Kämpfe zu einer Inspirationsquelle für eine gemeinsame Sache machen?
Fazit
Die Bereiche Ökologie und Ökonomie verflechten sich auf zunehmend katastrophale Weise. Wenn Regierungen (und Konzerne) dieses Problem offiziell anerkennen, werden angeblich nachhaltige „grüne“ Maßnahmen propagiert, in Wirklichkeit aber meist grün gewaschene neoliberale Konzepte als Lösungen implementiert. Das BG-Projekt, das sich mit dem ökologisch-ökonomischen Komplex befasst, setzt an einem kritischen Punkt an, denn zwei dringende Transitionen werden gegenwärtig miteinander gekoppelt: der Übergang von pandemischem Elend zur sozioökonomischen „Erholung“ und jener von einem den Klimakollaps beschleunigenden zu einem klimaneutralen Wirtschaften andererseits. Das BG Projekt betont die gemeinsamen Ursachen beider vom Menschen gemachter Katastrophen und wirft die Frage nach der transition justice auf. Es will ein Bewusstsein für die vielfältigen Formen des Extraktivismus und die verschiedenen Gefahren schaffen, die der Extraktivismus für den Planeten und unser Zusammenleben darstellt. Dabei verweist der Projekttitel „After Extractivism“ auf die Apokalypse, also das Ende der Welt – etwas, das unsere Gegenwart erschüttert und zugleich ein Ausgangspunkt für einen Neuanfang sein kann (Déborah Danowski, 2019).
Vor diesem Hintergrund muss die Frage, was es bedeutet, die Wirtschaft zurückzuerobern (J.K. Gibson-Graham et al., 2013), wie folgt erweitert werden: Wenn die erforderliche Transition nicht dazu dienen soll, bestehende Machtstrukturen zu reproduzieren und katastrophale Tendenzen zu verstärken, wie kann sie dann in ein zukunftsorientiertes Projekt umgewandelt werden, bei dem diejenigen, die die Lasten vergangener Ungerechtigkeiten geerbt haben (Olúfẹ̀mi O. Táíwò, 2022), der Schlüssel zum Aufbau einer gerechteren Welt sind? Wie können wir angesichts der planetarischen Herausforderung durch den ökologisch-ökonomischen Komplex planetarische Antworten finden, die von lokalen Basis- und Solidaritätsnetzwerken ausgehen? Wie können wir Kräfte bündeln, die nicht zuletzt in der Lage sind, Druck auf Regierungen (und Konzerne) auszuüben, um sowohl den zwischenstaatlichen Wettbewerb sowie die Abhängigkeit vom Extraktivismus radikal zu minimieren? Wenn auf diese Weise eine Grundlage für eine gemeinsame Zukunft geschaffen werden kann, müssen wir uns auch fragen: Wie können wir die Ungleichheiten und Widersprüche unserer Zeit produktiv machen, anstatt zuzulassen, dass sie alle Bemühungen um den Aufbau grenzüberschreitender transition movements zunichte machen?
Anm.d.Red: Quellen der Zitate und Hinweise finden sich hier. Diese Skizze des BG-Projekts After Extractivism dient als Einführung in die Textreihe, die die BG in diesem Zusammenhang in Zusammenarbeit mit mehr als 50 Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden entwickelt. Neben der Textreihe, die in der Berliner Gazette und bei ihren internationalen Medienpartner*innen veröffentlicht wird, umfasst das Projekt eine multimediale Website, Partnerveranstaltungen und eine dreitägige Konferenz im Herbst in Berlin. Mehr info: https://after-extractivism.berlinergazette.de
Ein Kommentar zu “Der ökologisch-ökonomische Komplex, grüner Kapitalismus und Übergangsgerechtigkeit”