Oft wird geleugnet, dass die zivile und militärische Nutzung der Atomenergie zwei Seiten derselben Medaille sind. Gleichzeitig werden die ungelösten sozial-ökologischen Probleme – vom Rückbau bis zur Endlagerung – zunehmend verdrängt und damit mögliche Veränderungen unserer Welt zum Besseren sabotiert. Wie können angesichts dessen Bewegungen für Umweltgerechtigkeit und Antikriegsinitiativen ihre Kräfte bündeln und bestehende Bündnisse erweitern? Was können sie voneinander lernen? Wie kann ‚Anti-Atom‘ wieder zu einem gemeinsamen Nenner für Friedensaktivist*innen und Umweltschützer*innen werden, die sich den postkolonialen Herausforderungen stellen und internationale Solidarität praktizieren wollen? Ursula Schönberger zeigt in ihrem Beitrag zur Textreihe „Pluriverse of Peace“ vielfältige Perspektiven auf.
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Die Debatte um den Wiedereinstieg in die Kernenergienutzung in Deutschland hat einmal wieder an Fahrt gewonnen – befördert durch die traditionell atomfreundliche Internationale Energieagentur, die einen weltweiten Ausbau der Kernenergienutzung prognostiziert. Begleitet wird die Debatte von vermehrten Forderungen nach einer atomaren Bewaffnung Deutschlands. Dabei erwecken die Protagonist*innen den Eindruck, dass ihre Phantasie dort endet, wo sie über das Scheitern einer potentiellen Abschreckungswirkung nachdenken müssten: Millionen von Toten, langfristige Verstrahlung ganzer Regionen, gesundheitliche Folgen für künftige Generationen.
Beeindruckend ist die umfassende Abwesenheit von Realitätstauglichkeit der Argumentationslinien in der Pro-Atom-Debatte: Unabhängigkeit von Rohstoffimporten, billige Energieproduktion, gelöstes Abfallproblem. Die Realität sieht anders aus: Bei Uran gäbe es eine 100-Prozent-Abhängigkeit von Rohstoffimporten. Während Birkenholz auf der Sanktionsliste gegen Russland steht, sucht man Uran dort vergeblich. Im Gegenteil, im nordrhein-westfälischen Gronau wird russisches Uran angereichert und im niedersächsischen Lingen sollen in einem Joint-Venture der französischen Framatome mit der russischen Rosatom Brennelemente produziert werden. Beide Anlagen produzieren trotz deutschem Atomausstieg zeitlich unbefristet weiter für den internationalen Markt.
Die Kostendebatte haben Kabarettist*innen kurz vor der Bundestagswahl mit der Aktion Söder-Challenge treffend auf den Punkt gebracht. Doch nicht nur Bau und Betrieb sind mit enormen Kosten verbunden. Im Jahr 2017 hat sich die Energiewirtschaft mit einer Einmalzahlung von 24,1 Milliarden Euro in den neu gegründeten Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (KENFO) von allen weiteren finanziellen Verpflichtungen für die Zwischen- und Endlagerung freigekauft. Dazu kommen Projekte, für die allein die öffentlichen Hand aufkommen muss: Sanierung der Wismut circa 9 Milliarden Euro, Stilllegung der Forschungszentren circa 1,9 Milliarden Euro, Stilllegung der AKW Greifswald und Rheinsberg mindestens 7,5 Milliarden Euro, Stilllegung Endlager Morsleben circa 3 Milliarden Euro, Sanierung der ASSE II allein bis zur Rückholung der Abfälle circa 4,7 Milliarden Euro. Kostensteigerungen absehbar.
Lösungen aus der Hand einer Zauberfee
Was im Februar durch die Presse ging – Atommüll kann durch eine Transmutationsanlage unschädlich gemacht werden – klingt wie die Lösung aus der Hand einer Zauberfee. Tatsächlich verbirgt sich hinter der Idee einer solchen Transmutationsanlage die Kombination eines Teilchenbeschleunigers, einer Wiederaufarbeitungsanlage und eines Atomreaktors. Sollte Transmutation tatsächlich jemals technisch funktionieren könnte sie aber nur einen Teil der hochradioaktiven Abfälle in kurzlebigere Radionuklide umwandeln. Für den Rest braucht es weiterhin eine tiefengeologische Lagerung und die Menge an schwach- und mittelradioaktiven Abfällen würde sogar vergrößert.
Man darf die Augen vor den realen Problemen nicht verschließen: 65 Jahre Atomenergienutzung in Deutschland hinterlassen zigtausende rostende Atommüllfässer, 1.900 Behälter mit hochradioaktiven Abfällen, Zwischenlager ohne Genehmigungen und Endlager in katastrophalem Zustand.
Ende Oktober 2024 habe ich gemeinsam mit Anti-Atom-Organisationen deshalb erstmals einen lückenlosen Überblick über die Atommülllagerung in Deutschland vorgelegt: „Atommüll. Eine Bestandsaufnahme für die Bundesrepublik Deutschland – Sorgenbericht des Atommüllreports“. Auf 468 Seiten dokumentiert der Bericht, wo Atommüll produziert wurde und wird, wo er lagert und welche Sicherheitsprobleme es gibt. Eigentlich wäre dies eine originäre Aufgabe der Bundesregierung und der Atomaufsicht. Es ist leider symptomatisch, dass diese Gesamtschau von Umweltverbänden, Anti-Atom-Organisationen und Bürgerinitiativen vorgelegt werden musste, weil die Verantwortlichen erst dann handeln, wenn sie entweder durch massive Proteste und Medienberichte dazu gezwungen werden oder wenn die Probleme so offensichtlich sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können.
Rückbau aller Atomkraftwerke hat begonnen
Nachdem am 15.04.2023 die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet wurden, haben Stand heute alle Reaktoren eine Stilllegungsgenehmigung, mit den Rückbauarbeiten wurde bei allen Anlagen begonnen. Sie werden noch viele Jahre dauern. Bisher wurden von den 36 Reaktoren erst drei soweit zurückgebaut, dass sie aus dem Atomgesetz entlassen sind, das Versuchsatomkraftwerk in Kahl, der Heißdampfreaktor in Großwelzheim und das AKW Niederaichbach. Das AKW Würgassen und das AKW Gundremmingen A werden weiterhin als Abfallbehandlungsanlage bzw. zur Zwischenlagerung genutzt.
Weitere Brennpunkte bei der Stilllegung und dem Rückbau von Atomanlagen sind die Forschungszentren, in denen neben Forschungsreaktoren auch neue Reaktorlinien entwickelt und betrieben wurden, wie der Hochtemperaturreaktor in Jülich oder der Schnelle Brüter und die Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe. In Dresden-Rossendorf stand die drittgrößte kommerzielle Isotopenproduktion der Welt. Meist unbeachtet von der Atomaufsicht und der Öffentlichkeit kam es in den Forschungszentren zu schweren Störfällen, die oft erst Jahre später aufgedeckt wurden. Übrig geblieben sind Bauteile, Abfall- und Abwassersysteme mit hohen Kontaminationen und Radionuklidzusammensetzungen, deren Lagerung besondere Probleme hervorrufen. Dekontamination, Rückbau und Sanierung der Standorte gestalten sich wesentlich langwieriger und kostspieliger als erwartet.
Baustellen Zwischenlager
Selbst wenn die Reaktoren im Laufe der Jahre zurückgebaut werden, bleibt die örtliche Belastung. Zusätzlich zu einigen wenigen zentralen Zwischenlagern stehen neben den Leistungsreaktoren Zwischenlager für Brennelemente. Mit dem Rückbau der Brennelementlagerbecken in den Atomkraftwerken entfällt die Möglichkeit, undichte Behälter zu entladen, zu reparieren oder auszutauschen. Die Brennelementlager in Jülich und Brunsbüttel werden seit Jahren ohne Genehmigung, nur aufgrund staatlicher Anordnungen, betrieben. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein dem SZL Brunsbüttel wegen nicht nachgewiesenem Terrorschutz die Betriebsgenehmigung entzogen hatte, wurde das Atomgesetz dahingehend geändert, dass es in vergleichbaren Fällen künftig einfach keine Klagemöglichkeit mehr gibt.
Die Genehmigungen laufen nach 40 Jahren Betriebszeit, also lange vor einer möglichen tiefengeologischen Lagerung, aus. Jülich und Brunsbüttel sind warnende Beispiele, dass es auch ohne Betriebsgenehmigung unverändert weitergehen kann. Nur mit erheblicher öffentlicher Einmischung könnte erreicht werden, dass notwendige sicherheitstechnische Anforderungen an eine Langzeit-Zwischenlagerung auch tatsächlich umgesetzt werden und der Staat nicht weiter seine ‚pragmatischen Lösungen‘ verstetigt. Der Atommüllreport und sein Fachbeirat haben deshalb anlässlich einer Fachtagung am 23.06.2023 ein Forderungspapier mit politischen, behördlichen und sicherheitstechnischen Anforderungen an die Zwischenlagerung vorgestellt.
An fast allen Rückbaustandorten verbleiben zudem Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle bzw. werden derzeit neu errichtet. In vielen älteren Zwischenlagern gibt es keine gerichtete Luftführung zur Ableitung radioaktiver Stoffe, keine Entlüftung über Mess- und Filtereinrichtungen, keine Klimatisierung zur Vermeidung von Korrosion. Das älteste Zwischenlager stammt aus dem Jahr 1964 und befindet sich auf dem Gelände des Forschungszentrums Karlsruhe. Dieses Lager ist – wie alle anderen auch – nicht für eine Langzeitzwischenlagerung ausgelegt. Trotzdem stehen dort viele Behälter seit Jahrzehnten. In den alten Zwischenlagern wurden die Behälter einfach von hinten nach vorne eingelagert, ohne Gassen, ohne die Möglichkeit, den Zustand der einzelnen Behälter durch Sichtkontrollen zu überprüfen.
Blinder Fleck Uran
Die Betrachtung des Atommülls in Deutschland hat einen blinden Fleck: Der weitaus größte Teil des Atommülls, der im Zusammenhang mit der Nutzung der Atomenergie entsteht, verbleibt in den Ländern, in denen Uran abgebaut wird, auf Halden oder in radioaktiven Schlammbecken mit den entsprechenden ökologischen Folgen.
Auch die Uranabbaugebiete der Wismut AG bzw. ab 1954 SDAG Wismut (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut) in Thüringen und Sachsen, die zwischen 1946 und 1990 zum weltweit viertgrößten Produzenten von Uran avancierte – auch dieses ‚nukleare Erbe‘ wird im Kontext der Atommülldebatte in der Bundesrepublik kaum wahrgenommen, da es als Relikt eines anderen Staates und einer anderen Zeit nicht Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind. Abgesehen von dem immensen Aufwand, die alten Bergwerke, Halden und Absetzbecken in einen – zumindest vorübergehend – ökologisch einigermaßen stabilen Zustand zu versetzen, werden die strahlenden Halden und Absetzbecken ohne Planfeststellungsverfahren, ohne Langzeitsicherheitsnachweis und ohne Öffentlichkeitsbeteiligung als oberflächennahe Endlager für radioaktive Abfälle genutzt.
Nachdem der Atommüllreport diesen Missstand 2013 thematisierte, antwortete die Bundesregierung auf eine Bundestagsanfrage im Jahr 2013: Da für die Sanierung der Wismut-Standorte das Strahlenschutzrecht der DDR weiter gelte „… handelt es sich bei dem eingelagerten Schrott nicht um radioaktive Abfälle im Sinne des Atomgesetzes.“ Der heutige Umgang mit den Altlasten der Wismut ist ein Lehrbeispiel, das man sich sehr genau ansehen sollte, an allen Orten, an denen Atommüll lagert sowie bei der weiteren Standortsuche für tiefengeologische Lager.
Nuklearer Fallout
Die zivile und die militärische Nutzung der Atomenergie sind zwei Seiten derselben Medaille. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte bei seinem Besuch in der Atomschmiede Le Creusot im Jahr 2020: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“ Wer heute leichtfertig nach nuklearer Aufrüstung ruft, sollte bedenken, dass die Probleme der Entsorgung, also der Endlagerung des spaltbaren Materials aus Atomwaffen, ebenso wenig gelöst sind wie im zivilen Bereich. Außerdem: Atomwaffentests werden vorzugsweise externalisiert – so wie die mit ihnen verbundenen sozial-ökologischen Probleme. Wer will schon wissen, dass für ‚unsere‘ nukleare Aufrüstung der Globale Süden zum Testlabor mutiert?
Der Atommüllreport hat im Oktober 2024 eine Fachtagung „Nuklearer Fallout“ durchgeführt, um die Zusammenhänge zu vertiefen und die sozialen Auswirkungen insbesondere auf den Globalen Süden zu thematisieren. Letzteres drängt sich nicht zuletzt deshalb auf, weil in einer postkolonialen Welt die Verseuchung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Atomwaffentests, aber eben auch durch Uranabbau und Atommülllagerung allzu oft unserer Wahrnehmung entgeht und als hinzunehmender Kollateralschaden ignoriert wird. Wer die vielfältigen ökologischen Aspekte der Kolonialität – etwa im ‚uranreichen Afrika‘ – thematisieren will, muss daher auch im Globalen Süden den gesamten nuklearen Kreislauf in den Blick nehmen.
Der vorliegende Beitrag macht deutlich, dass das Atommüllproblem nicht an irgendeinen Ort in irgendeiner Zukunft delegiert werden kann, sondern längst überall akut ist. Und er zeigt, dass jede und jeder von uns schon heute unmittelbar betroffen ist. Der Beitrag gibt damit Anlass, sich mit den im wahrsten Sinne des Wortes nahe liegenden Gefahren des Atommülls auseinander zu setzen und eigene Ansprüche an den Umgang damit zu entwickeln. Schließlich führt er vor Augen, dass nur durch Einmischung ein verantwortungsvoller Umgang mit den Problemen erreicht werden kann.