In einem nachgelassenen Fragment >Die Zeit bedenken< sinniert Vilem Flusser ueber die Zeitform der Informationsgesellschaft. Er unterscheidet dabei drei Formen der Zeit, naemlich die Zeit des Bildes, die Zeit des Buches und die Zeit des Bits, geometrisch ausgedrueckt, die flaechenhafte Zeit, die lineare Zeit und die punktuelle Zeit. Die Zeit des Bildes gehoert zur mythischen Zeit. Hier herrscht eine ueberschaubare Ordnung. Jedes Ding hat seinen unverrueckbaren Platz. Entfernt es sich von ihm, so wird es zurechtgerueckt. Die Zeit des Buches gehoert zur geschichtlichen Zeit. Ihr wohnt die geschichtliche Linearitaet inne. Sie ist ein Strom, der aus der Vergangenheit fliesst und der Zukunft zustrebt. Jedes Geschehen verweist auf den Fortschritt oder auf den Verfall.
Die Zeit von heute hat dagegen weder einen mythischen noch einen geschichtlichen Horizont. Ihr fehlt der umfassende Sinnhorizont. Sie wird ent-theologisiert oder ent-teleologisiert zu einem >atomaren< >Bit-Universum< oder >Mosaik-Universum<, in dem Moeglichkeiten ohne jeden mythischen oder geschichtlichen Horizont wie Punkte >schwirren< oder wie >Koerner< >rieseln< >als diskrete Sensationen<: >Diese Moeglichkeiten kommen auf mich zu: Sie sind die Zukunft. Wo immer ich hinsehe, dort ist die Zukunft. […] Anders gesagt: Das Loch, das ich bin, ist nicht passiv, sondern es saugt wie ein Strudel die Moeglichkeiten, die es umgeben.< In diesem >Punkt-Universum< gibt es kein >Bild<, kein >Buch<, das Moeglichkeiten begrenzen wuerde. Das Dasein wird vielmehr von den freischwebenden Moeglichkeiten umgeben. So verspricht das >Punkt-Universum< mehr Freiheit. Die Zukunft ist ja >ueberall dort<, >wo ich mich wende<. Moeglichkeiten erweitern sich, so sinniert Flusser weiter, wenn ich den Anderen in meine Zeit einbeziehe, das heisst, wenn ich ihn >anerkenne< und >liebe<: >[…] ich bin nicht allein auf der Welt, sondern andere sind auch dort. […] Indem ich meine eigene Zukunft dem anderen zur Verfuegung stelle, verfuege ich ueber die seine.< Moeglicherweise wuerde Flusser auch die Vernetzung als Praxis der Liebe und Anerkennung deuten wollen. Die Vernetzung erweitert ja die Zukunft, indem sie einen Hyperraum von Moeglichkeiten erzeugt. Nicht >Angst< und >Vereinzelung<, sondern Eros und Vernetzung waeren Grundzuege des Daseins, das jenes hyperkulturelle Universum bewohnt. Die zunehmende Vernetzung der Welt erzeugt, unabhaengig davon, ob sie vom >Eros< oder von einer ganz anders gearteten menschlichen Neigung vorangetrieben wird, eine Fuelle, ja eine Ueberfuelle von Beziehungen und Moeglichkeiten. Der gesaettigte Moeglichkeitsraum, der Hyperraum der moeglichen Optionen ueberbordet jene >Faktizitaet<, die den >Entwurf<, die Freiheit der Wahl, um mit Heidegger zu sprechen, auf die >ererbte Moeglichkeit< beschraenkt: >Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurueckkommt, erschliesst die jeweiligen faktischen Moeglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene uebernimmt.< Die >Geworfenheit< ist gewiss kein Kennzeichen der Existenzform von heute. Dieser entspraeche eher die Entworfenheit. Der Moeglichkeitsueberschuss laesst einen Daseinsentwurf ausserhalb des Horizontes von >Erbe< und >Ueberlieferung< zu. So wirkt er defaktifizierend, erzeugt dadurch einen Zuwachs an Freiheit. Das >Dasein< wird zu einem homo liber defaktifiziert. Der bekannte Spruch von Microsoft >Where do you want to go today?< ist genau die Chiffre fuer die Defaktifizierung des Daseins, die dieses zu einem hyperkulturellen Touristen ent-erbt. Die Defaktifizierung kennzeichnet die Kultur von heute. Sie enthebt das Dasein der >Geworfenheit<, erzeugt dadurch ein Mehr an Freiheit. Der hyperkulturelle Tourist ist ein anderer Name fuer das defaktifizierte Dasein. Er muss nicht erst physisch unterwegs sein, um Tourist zu sein. Er ist schon bei sich selbst anderswo oder unterwegs. Es ist nicht so, dass man als Tourist das Haus verlaesst, um spaeter als Einheimischer zu sich zurueckzukehren. Der hyperkulturelle Tourist ist schon bei sich zu Hause ein Tourist. Er ist bereits im Hier dort. Nirgends kommt er endgueltig an. Schon in >Sein und Zeit< ist Heidegger davon ueberzeugt, dass jede mediale Vernetzung Unterschiede nivelliert und eine >Diktatur< des >Man< hervorbringt. So heisst es in >Sein und Zeit<: >In der Benutzung oeffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens [Zeitung] ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein loest das eigene Dasein voellig in die Seinsart >der Anderen< auf, so zwar, dass die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdruecklichkeit noch mehr verschwinden.< Eine Wirkung der Medien, die Lebensformen und Moeglichkeiten vervielfaeltigt, ist Heidegger fremd. Dem Einerlei des >Man< wuerde er auch nicht die Vielfalt von Daseinsentwuerfen entgegensetzen wollen, denn Unbehagen empfindet er ebenfalls der Mannigfaltigkeit gegenueber. Gegen eine bunte Collage-Gesellschaft beschwuere er das Wir der Schicksalsgemeinschaft. Heideggers Philosophie des >Wohnens< und des >Ortes< ist letzten Endes der Versuch, das Dasein zu refaktifizieren.