Ich bin umgezogen. Von Friedrichshain in die Naehe des Potsdamer Platzes. Noch am Tag des Umzugs ergab ich mich frohen Mutes den Besorgungen des Alltags und untersuchte ausgiebig meine neue Umgebung. Obwohl ich fuer meine Reise in den Westen letztlich nur 20 Minuten im oeffentlichen Nahverkehr investieren musste, glaube ich nun doch eine veritable Pazifikueberquerung per Dampfschiff hinter mich gebracht zu haben.
Ulan Bator und San Francisco in einer Hand voll Minuten, wer haette das gedacht? In meinem angestammten Metier, dem Film, waere alles sonnenklar. Parallelmontage, fertig, aus. Hier der aufstrebende Studentenkiez im Osten, auf dem Sprung der neue Prenzlauer Berg zu werden. Dort der Problemkiez mit Strassenstrich, ehemalige Endstation vor dem Potsdamer Platz.
Hier prallten einst die Heroin-befeuerten Traeume eines David Bowie, Nick Cave und Iggy Pop direkt an die Mauer. Endstation von Schoeneberg, Zonenrandgebiet inmitten der Stadt, mit der legendaeren Schwulenbar >Kumpelnest 3000< als letzter Leuchtreklame vor der finsteren Schiessbefehltristesse. In Friedrichshain hingegen, raubten mir nachts groehlende Gruppen stets kollektiv singender Spanier den Schlaf, liefen amerikanische Studenten, des Zu-Fuss-gehens wohl kulturell entwoehnt, meist mitten auf der Revaler Strasse. Schnorrende Punks und verwirrte Altautonome auf dem Weg zu ihrem letzten freien Bauwagenplatz sind als possierliche Grossstadtdekoration inbegriffen. Es wird Sonntags nach Anti-G8- Demos kollektiv anti-imperialistisch gebruncht, >all you can eat< natuerlich und Englisch ist die Sprache der Wahl in den Strassencafes. In meinem neuen Kiez gibt es durch die Naehe zum Sony Center auch viele Touristen die Englisch sprechen, aber so >amazing< finden sie es dort wohl nicht wirklich. Jedenfalls koennen sie es im Angesicht Speedball zerfressener Ostblocknutten vor dem Woolworth gut verbergen. Ansonsten spricht man recht haeufig Tuerkisch dort. Die immer noch ansaessigen alten Westberliner trinken ebenso viel Alkohol wie die Party-Studenten im Osten, nur schon viel frueher am Tage. Aber nicht um des Wollens, sondern eher um des Muessens wegen. Diese seltsame Mischung aus verirrten Touristen, Drogenstrich, Anatolien, Transen, Altgays, Verlagshaeusern, Varietes und in heiliger Harald Juhnke-Verehrung erstarrter Diepgen-Berliner, macht den sehr eigenen Charme der Gegend aus. Irgendwie schillert die Gosse dort so ganz anders als etwa in Neukoelln, Wedding oder Moabit. Damit sind wir auch schon dem Faustschen Kern dieser sehr eigenen Stadtteil-Dialektik auf der Spur. In Friedrichshain ist man adoleszent, ergibt sich der immer gleichen Individualitaet Anfang Zwanzigjaehriger, deren Schicksal sich erst noch fuegen wird. Alles ist Spiel, oft von Eltern aus westdeutschen Kleinstaedten zumindest teilfinanziert. Die immer gleichen Berliner Illusionen werden frisch aufgesogen, sogar kollektiv uebernommen, wie auch die Fahrraeder der vorherigen WG-Bewohner. Alles ist letztlich >irgendwie voll komisch, ich weiss auch nicht und so…<. Das Schicksal dreht im Hintergrund sanft laechelnd das Schnurr-Rad, unschluessig ob Sieg, Kompromiss oder Niederlage. In Tiergarten sind dergleichen Entscheidungen laengst gefallen. Da ist es nun wirklich nicht sehr weit fuer die polnische Studentin in der Schlange an der Kasse hinter mir, wenn sie ihren Joghurt, mich verschaemt anlaechelnd, mit unzaehligen Kupfermuenzen bezahlt. Der Strassenstrich ihrer bulgarischen Altersgenossinnen ist von ihrem grotesken Plattenbauwohnheim und dem polnischen Kulturzentrum maximal 300 Meter entfernt. Am Monatsende sicher durchaus eine Ueberlegung wert. Diese Art der Realitaet bleibt Nele, Lena oder Paul im aufstrebenden Paradies jenseits der Spree meist erspart. Wenn es von Haus aus neben dem Bafoeg sehr schlecht laeuft, kann man immer noch in der Gastronomie, unter seinesgleichen von Sozialabgaben befreit, Kellnern. Selbst die Kassiererinnen in Friedrichshain machen einen relativ ausgeglichenen Eindruck. Fuer Ostberliner Verhaeltnisse natuerlich. Die meisten Arbeitskraefte sind dort Importe aus anderen Stadtteilen. Kioske werden von Tuerken aus Neukoelln betrieben, das Personal im Supermarkt kommt aus den nahen Hochhaeusern Marzahns und Lichtenbergs. Alle sind zufrieden, denn man lebt indirekt recht auskoemmlich von der Alimentierung durch schwaebische Eltern. Und so schwoert dieser Kiez im Grunde taeglich auf die alte, spiessige Maxime der Swingerszene: >Alles kann, nichts muss!< Meine neue Heimstatt hingegen scheint der komplette Antagonist dazu zu sein. Dort bin ich eher einer der juengsten Menschen auf der Strasse - zumindest mit deutschem Pass seit Geburt. Die Angestellten der zahlreichen Ein-Euro-Shops und sonstiger seltsamer Infrastruktur wohnen wohl auch vor Ort. Obschon zum Teil Altersgenossen der Friedrichshainer Studenten, strahlen sie im Gegensatz zu ihren Antipoden keinerlei Zuversicht aus. Durchweg mit Gesichtern wie laengst zerknuellte Fahrkarten ins Jenseits. Leere Augen. All die spaerlichen Illusionen schon weit vor der Zeit am Eingang abgegeben. Zukunft? Nur ein Wort fuer das Leben Anderer! Irgendwie beschleicht mich dort das unbestimmte Gefuehl, der grauenhafte Verdacht, das die hedonistische Berlin-Feier der einen und deren damit unmittelbar verbundener Schicksals-Energieverbrauch, heimlich vom Lebensmut der anderen abgezapft wird. Per Direktleitung. Quasi wie Fernwaerme. Also beileibe kein Fair Trade. Deshalb gilt in meinem neuen Kiez nur die spiegelverkehrte Maxime: >Nichts kann hier, denn alles muss!<
“laengst zerknüllte Fahrkarten ins Jenseits”…love it!
Mit grösstem Interesse und spitzbübischem Schmunzeln lese ich regelmässig die Kolumnen des Herrn Jörg Offer.
Just great!
chapeau für die maxime.
Ich darf den großen, vom noch größeren Matias Faldbakken zum Leben erweckten Simpel zitieren: “Zustimmung ist der Satan.”
Hail, Hail, General!
Habe meinen neuen Kiez heute noch einmal ausgiebig bei bestem Wetter und voller Helligkeit bis an die Grenzen Kreuzbergs durchwandert. Musste dabei feststellen, das bei genauer Betrachtung der Verhältnisse mein Vergleich mit Ulan-Bator sehr unschicklich war und möchte mich daher offiziell bei der Mongolei entschuldigen! Das ist hier mehr so einer der verrostetenen, vergessenen russischen Aussenposten in der Arktis, die früher als Atomwaffentestgebiet benutzt wurden, hehe! Nova Zemlja könnte passen…
Ick hab`s mit Interesse gelesen, also diesen durchaus zum Schmunzeln (ja) doch sehr gelungenen Artikel…
Der Spiegel der Stadt..(man)könnte schon oder is ja nun mal realistisch…
P.S. bin im Friedrichshain geboren, aufgewachsen und lebe immer noch hier
LG der 79er