Nach den Trends: Das digitale Mode-Magazin “less” verabschiedet sich von der ständigen Erneuerung


Foto von The Arches (cc-by)
Bei “Modejournalismus im Internet” denkt man an lange Klickstrecken mit den neusten Promi-Trends oder an die Blogs junger Fashionvictims. WAS BLEIBT in so einer flüchtigen Welt? Das Online-Modemagazin “less” versucht darauf eine Antwort zu geben. Es wird nur einmal jährlich aktualisiert und berichtet in ausführlichen Beiträgen über langfristig interessante Themen, statt sich flüchtigen Trends hinzugeben. Chefredakteur und Herausgeber Ralf Würth erklärt uns wie das funktioniert.

Spätestens mit dem Web 2.0 hat sich das Verlagsgeschäft demokratisiert, weitgehend auf der Strecke geblieben sind dabei jedoch einige journalistische Filter wie die professionelle Dokumentation, die sorgfältige Recherche, der richtige Themenmix. Die meisten Verlags-Plattformen stürzen sich im Kampf um Klicks und Marktanteile auf kleinteilige Meldungen, große Text- und Bildstrecken bleiben der Printausgabe vorbehalten.

Im Internet soll alles der Aktualität untergeordnet werden. Warum eigentlich? Wieso sollen längere Features, Essays und Interviews den digitalen Lesern vorenthalten bleiben? Mit less wollen wir den Lesern, die sonst eher als User gefordert werden, Lesevergnügen bieten und die Geschichte hinter der Geschichte erzählen. Wir vermeiden den Duktus des Digitalen, erfreuen uns an Schachtelsätzen, emanzipieren uns von der Schnelllebigkeit der Nachricht.

Und doch ist unser Magazin mehr als der Versuch, die alte Verlagswelt 1:1 in digitale Sphären zu retten. less möchte die Vorteile des Printmarkts mit denen des Fernsehens kombinieren. Kein noch so talentierter Autor kann eine Situation so plastisch beschreiben wie dies ein Film vermag. Sprache, Musik, Geräusche, Farbe und Bewegtbild – Film wirkt multisensorisch. Dank schnellem Internet ist diese Kombination von Text, Bild und Film problemlos möglich.

Die Blogger als Wegbereiter

Unser Magazin zielt auf die Modeindustrie. Interessanterweise eine Branche, die durch die digitale Revolution weit mehr verändert wurde als manch andere. Vor Jahren bereits wurde ich Zeuge, wie eine der mächtigsten PR-Damen auf einer Schau die Aristokratie der internationalen Modemagazine in die vierte Reihe setzte, um die gerade mal volljährigen BloggerInnen aus Japan und der alten Welt ganz vorne zu platzieren.


Foto von The Aches (cc-by)
Sie hatte Recht! Mit mehreren Posts täglich waren die Freidenker nicht nur interessierter, sondern dank stetig wachsender Jüngerzahl auch weit meinungsbildender als die elitären Zirkel, die sich vor allem ihren Werbekunden verpflichtet sahen. In diese Welt positionieren wir less.

Wir machen uns frei von den gnadenlosen Erneuerungszyklen der Branche und schreiben über das, was bleibt. Wir schreiben über 100 Jahre Cartier in Amerika, wohl wissend, dass die meisten Gestalter sich heute gerade mal drei bis vier Saisons halten können, bevor die Logik des Geschäftsbetriebs sie vom kreativen Chefsessel spült. Wir notieren auch, dass Lacroix am Ende ist und legen dann dem Leser nahe, ihn an neuer Wirkungsstätte wieder zu treffen.

Modenschau als Vernissage

Was macht Mode denn aus? Niemand braucht zwei mal im Jahr ein neues Koordinatensystem: was, wann, wie getragen werden soll. Keiner (bis auf wenige sklavisch dem Trend folgenden Fashionistas) ist wirklich daran interessiert, ob Lindgrün auf Pfirsich folgt. Was also ist unsere Haltung? Für uns ist Mode ein Spiegel der Gesellschaft, wir nähern uns den Ateliers der Haute Couture in Gestalt des neugierigen Kunstliebhabers. Für uns ist eine Modenschau eine Art Vernissage, der Beruf des Designers artverwandt mit dem des Architekten, des Bildhauers, des Malers.

Es gibt wohl kein treffenderes Bild für unser Interesse an der Modeszene, als das von Miguel Adrover, dem Liebling der New Yorker Kunst- und Modeszene. Einer, der als Autodidakt den Etablierten das Fürchten lehrte, einer, der der patinierten Matratze seines verstorbenen Nachbars Quentin Crisp neues Leben in Form eines kunstvollen Mantels einhauchte. Der Mantel ist heute in der MET zu sehen, doch wo ist Miguel Adrover geblieben? Demnächst wird er in einem großen Dokumentarfilm auftauchen, less hat die Dreharbeiten begleitet.

8 Kommentare zu “Nach den Trends: Das digitale Mode-Magazin “less” verabschiedet sich von der ständigen Erneuerung

  1. @pontyo: Warum schräg? Ich find’s mutig! Mich würde interessieren, wie viele Klicks das Projekt hat, denn es geht ja deutlich am Mainstream vorbei. Oder?

  2. ich habe mir die seite schon angeschaut – und finde es ist auch alles sehr gut gemacht. aber was ist für mich der grund noch einmal wieder zu kommen? wenn in einem Jahr dann die neue Ausgabe online geht, dann habe ich es doch schon längst wieder vergessen, oder? in bezug auf nachhaltigkeit finde ich das dann nicht ganz überzeugend, oder?

  3. was ist schon “der richtige Themenmix” wenn nicht die Mischung, die man/frau sich selber zurechtfilert…?

  4. warum “vermeiden den Duktus des Digitalen”? wenn man ihn nicht einfach auch erweitern und weiterentwicklen kann? noch lange ist nicht alles im Netz GLEICH, nicht alles ist auf Aktualität hin getrimmt.

    “Und doch ist unser Magazin mehr als der Versuch, die alte Verlagswelt 1:1 in digitale Sphären zu retten.”

    ein Glück!

    “Niemand braucht zwei mal im Jahr ein neues Koordinatensystem: was, wann, wie getragen werden soll.”

    wohl wahr!

  5. Ein wahnsinnig interessantes Konzept – und seltsamerweise höre ich ständig von Menschen aus der Modebranche, dass sie den zwei mal jährlichen Modezyklus für schwachsinnig halten – warum bleibt es dann so?

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