Die Debatte um erneuerbare Energien hat seit Fukushima eine neue Sichtbarkeit erreicht. Und doch geht der Wandel in diesem Bereich langsamer denn je vonstatten. Auch die aktuelle Regierung scheint daran nichts ändern zu wollen. Die Umwelt-Ingenieurin Tatiana Abarzua kommentiert die Kurzsichtigkeit von Politik und Wirtschaft.
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Als Myopie bezeichnet man eine bestimmte Form von optischer Fehlsichtigkeit des Auges. Sie ist zumeist Folge entweder eines zu langen Augapfels oder einer für seine Länge zu starken Brechkraft der optisch wirksamen Bestandteile. Das Ergebnis ist ein Abbildungsfehler, der weit entfernte Objekte unschärfer erscheinen lässt als nahe gelegene – der Betroffene sieht also in der Nähe (daher die Bezeichnung „kurz-sichtig“) besser als in der Ferne. (Wikipedia)
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung werden bei der energiepolitischen Ausrichtung neben Klima- und Umweltverträglichkeit auch Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit als gleichrangige Ziele bewertet. Konventionelle Kraftwerke werden sogar als „auf absehbare Zeit unverzichtbar“ bezeichnet.
Ob die Gespräche zwischen Bundesregierung und Vertretern der Energiewirtschaft während der vergangenen Legislaturperiode diese Sichtweise beeinflusst haben? Der Koalitionsvertrag kann nicht eingeklagt werden. Die Bundesländer sind nicht daran gebunden. Somit ist offen, ob er tatsächlich so umgesetzt wird.
Wo bleibt die Bewertung der Klimabelastung der Braunkohle?
Ein Beispiel für den Einsatz des klimaschädlichen Energieträgers ist das Kraftwerk Jänschwalde (Spree-Neiße). Es verursacht etwa 3% der energiebedingten Kohlendioxid-Emissionen und rund 10% der Quecksilber-Emissionen in Deutschland. Dennoch ist der Betrieb länger als bis 2020 geplant und mehrere Gemeinden sollen für die Tagebauerweiterung weichen.
Die Abregelung von Kohlekraftwerken läuft schwerfällig. In Zeiten, in denen besonders viel elektrische Energie durch Solar- und Windkraftwerke bereitgestellt wird, und weiterhin Kohlekraftwerke betrieben werden, führt das zu volkswirtschaftlichen Verlusten. Tatsächlich wurde in 2013 mit 162 Milliarden Kilowattstunden fast so viel Braunkohle in elektrische Energie umgewandelt wie in 1990.
In der aktuellen Novelle zur Änderung des Gesetzes für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) wird ein Ausbaukorridors für Erneuerbare Energien angekündigt: „40 bis 45 Prozent im Jahre 2025, 55 bis 60 Prozent im Jahr 2035“. Dies würde die bisherige Dynamik stark ausbremsen.
Das neue Gesetz ist umstritten
Besonders kritisch ist die geplante Erweiterung der EEG-Umlage auf Anlagen an denen der Strom direkt vor Ort verbraucht wird. Diese Eigenverbrauchsumlage soll ab August dieses Jahres gelten. Zudem müssten Mieter bei solarer Direktversorgung die volle EEG-Umlage zahlen. Das gefährdet die Rentabilität von gewerblichen Projekten.
Ein weiterer Markteinbruch würde erneut zehntausende Arbeitsplätze in Deutschland vernichten. Dabei ist der Eigenverbrauch von Solarstrom kostengünstig und wichtiger Bestandteil einer authentischen Energiewende. Gemäß Gesetzesentwurf der Bundesregierung sollen stattdessen der Kraftwerkseigenverbrauch in Kohle- und Atomkraftwerken weiterhin umlagefrei bleiben.
Angekündigt wurde auch ein Ausbau der weitgehenden Befreiung von der EEG-Umlage für energieintensive Unternehmen. Während in Deutschland der Strompreis für die Industrie so billig wie lange nicht mehr ist. Aus juristischer Sicht bestehen Anhaltspunkte, dass die Eigenverbrauchsumlage gegen das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 GG) und gegen den Gleichheitssatz (GG Art. 3) verstößt. Die Verfassungsmäßigkeit der Belastung solaren Eigenverbrauchs mit der EEG-Umlage wird wohl das Bundesverfassungsgericht prüfen lassen müssen. Denn der Bundesverband der Verbraucherzentrale (vzbv) und der Bundesverband Solarwirtschaft e.V. (BSW-Solar) möchten eine Klage gegen die im Bundeskabinett beschlossene EEG-Novelle einreichen.
Kurzsichtigkeit überwinden: Schritte für die Energiewende
Wichtig für die Gewährleistung von Planungs- und Investitionssicherheit beim Ausbau der Erneuerbaren Energien ist die Einführung eines Mindestziels für den Ausbau – anstelle des von der Regierung favorisierten strikten sogenannten Korridors.
Kritiker der aktuellen Energiepolitik fordern eine Begrenzung der Strommenge, die durch die Verbrennung von Kohle bereitgestellt wird. Für die Übergangszeit zum Ausbau der Erneuerbaren Energien ist es sinnvoller Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerke (GuD-Kraftwerke) einzusetzen weil sie flexibel einsetzbar sind.
Es muss sichergestellt werden, dass im Laufe der Legislaturperiode das AKW Grafenrheinfeld wie geplant abgeschaltet wird. Denn auch wenn der Kraftwerksbetreiber E.ON SE bereits eine Stilllegungsanzeige vorgelegt hat, kann dieses Kraftwerk seitens der Bundesnetzagentur als systemrelevant bezeichnet werden. Das hätte eine Untersagung der Abschaltung zur Folge sowie eine Entschädigungsanspruch an den AKW-Betreiber, welcher über eine Umlage auf die Strompreise finanziert werden würde. So eine Entscheidung würde im drastischen Widerspruch zum Ziel der Energiewende stehen.
Die im Auftrag der Bundesregierung geleisteten Kreditgarantien (Hermes-Bürgschaften) für den Bau von Kernkraftwerken im Ausland müssen beendet werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll u.a. zur Sanierung von maroden Atommülllagern, die in 2016 auslaufende Brennelementesteuer weiterzuführen. Eine Forderung die von der SPD noch letztes Jahr vertreten wurde. Zudem ist es wichtig, dass Rückstellungen der Kernkraftwerksbetreiber in einen öffentlichen Fonds überführt werden, da diese Gelder bisher nicht vor Insolvenz geschützt sind.
Anm.d.Red.: Das Foto hat der Künstler und Anti-Nuklear-Aktivist Noritoshi Hirakawa aufgenommen.