Von der Straße in die Parlamente: Munizipalismus und ökosozialistische Politik in Zagreb und Belgrad

Vielschichtige Collage: Demonstranten protestieren gegen die Belgrade Waterfront vor dem zentralen Punkt des Projekts, der Kula Belgrad, einem neuen Wahrzeichen der Stadt. Kunstwerk: Colnate Group, 2024 (cc by nc).
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Im ehemaligen Jugoslawien haben die vielfältigen Krisen des Kapitalismus neue Bewegungen an der Schnittstelle von sozialen und ökologischen Anliegen hervorgebracht. Zu den wichtigsten Schauplätzen dieser Kämpfe in der Region gehören Zagreb und Belgrad, die Hauptstädte Kroatiens und Serbiens, wo nicht nur die Krisen ihre kritischen Knotenpunkte haben, sondern auch die politischen Möglichkeiten für Veränderungen bestehen, wenn die autoritäre Verhärtung im Staat aufgebrochen werden kann, wie Norma Tiedemann feststellt.

*

Ab 2015 breitete sich von Spanien ausgehend weltweit eine Welle demokratiepolitischer Kämpfe auf kommunaler Ebene unter dem Namen “Neuer Munizipalismus” aus. Die hybriden Akteure aus Bewegungen, Gewerkschaften, einzelnen Aktivist*innen und Parteien sind als Reaktion auf die multiplen Krisen kapitalistischer Gesellschaftsformen und ihr autoritäres Management entstanden. Sie versuchen, den (lokalen) Staat zu demokratisieren, Politik zu feminisieren und ökonomische Strukturen zu verändern, um Ungleichheiten zu beseitigen. Munizipalistische Plattformen regierten beispielsweise in Barcelona und Madrid mit dem Ziel, linke Politik zu machen und die städtischen Institutionen zu verändern, ohne zur klassischen Partei zu werden. Dieses Modell fand nicht nur in West- und Südeuropa Anhänger*innen. Auch in den Hauptstädten Kroatiens und Serbiens in der südosteuropäischen Peripherie entstanden nach jahrelangem außerparlamentarischen Aktivismus in verschiedenen Bereichen munizipalistische Plattformen. Diese ursprünglich lokalen, städtischen Akteure haben sich in jüngster Zeit zu grün-linken Parteien entwickelt, die die autoritären, klientelistischen Regime herausfordern, die in den letzten Jahren ihre Position in den Staatsapparaten gefestigt haben.

Zagreb Je NAŠ! (ZJN, Zagreb gehört uns) und Ne Da(vi)mo Beograd (NDB, Wir werden Belgrad nicht aufgeben/Wir werden Belgrad nicht untergehen lassen) wurden Mitte der 2010er Jahre gegründet und haben es seitdem geschafft, in die staatlichen Institutionen zu gelangen, oppositionelle und progressive Arbeit im Parlament wiederzubeleben und die politische Landschaft zu verändern. Seit 2021 regieren ZJN (oder jetzt: Možemo! – Wir können!) die kroatische Hauptstadt. Und seit 2022 sind NDB (oder jetzt: Zeleno-Levi-Front – Grün-Linke-Front) als Teil des Bündnisses Moramo (Wir müssen) sowohl in der Stadt Belgrad als auch im nationalen Parlament als kleine Opposition vertreten. Dies ist das erste Mal seit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und den Bürgerkriegen der 1990er Jahre, dass grün-linke Kräfte, die ihre Wurzeln in sozialen Bewegungen haben, in Kroatien und Serbien in die Institutionen des lokalen und nationalen Staates eingezogen sind.

Linke Ideen und Werte wiederaneignen

Die beiden Plattformen und ihr Erfolg – im Vergleich zur fast völligen Abwesenheit linker, emanzipatorischer Akteure im institutionellen Bereich zuvor – kamen nicht aus dem Nichts. Ihre Geschichte geht zurück auf die sogenannte Neue Linke auf dem Balkan, die um 2008 aus der bisher tiefsten Krise des Spätkapitalismus hervorging. Seitdem haben sich der politische Diskurs und die Gruppen, die ihn artikulieren, im Kontext verschiedener Protestzyklen und -spitzen entwickelt. Verschiedene Bewegungen haben den so genannten demokratisch-kapitalistischen Übergang in den Jahrzehnten nach dem Zerfall Jugoslawiens politisiert. Im Rahmen der Studierendenproteste gegen die Neoliberalisierung des Bildungssystems, der “Recht auf Stadt”- und feministischer Bewegungen sowie der transnationalen Netzwerke, die sich für den Aufbau einer solidarischen Ökonomie und für Commons-Projekte einsetzten, haben sich viele derjenigen, die das Rückgrat des Munizipalismus in Kroatien und Serbien bilden, linke Ideen und Werte gegen die diskreditierten Überreste linker Parteien wiederangeeignet.

Der spezifische Kontext und die Geschichte der munizipalistischen Plattformen in Südosteuropa sind wichtig, um den Charakter dieser neuen Akteure und die Art der Staatlichkeit zu verstehen, mit der sie nun konfrontiert sind. Während die Neuen Munizipalismen oft als radikaldemokratische Experimente im Kontext einer Krise der repräsentativen Demokratie beschrieben werden, sind die munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad auf diese Weise nicht adäquat charakterisiert. Obwohl bürgerlich-liberale Demokratie in den Nachfolgestaaten der sozialistischen Föderation formal etabliert wurde, hat sie nie wirklich existiert, weswegen sich die „Krise der Demokratie“ anders gestaltet als in Westeuropa. Staat und Gesellschaft sind in beiden Ländern durch die klientelistischen Netzwerke der Regierungsparteien konstituiert, die weit hineinreichen in die Strukturen organisierter Kriminalität. Serbien und Kroatien zeichnen sich durch große Demokratiedefizite, eingeschränkte Pressefreiheit und systemische Korruption aus.

Für meine Doktorarbeit, die kürzlich als Buch erschienen ist, habe ich zwischen 2018 und 2022 bei regelmäßigen Besuchen in Zagreb, Belgrad und einigen anderen Orten 56 Interviews mit munizipalistischen Akteuren geführt. Die Gesamtanalyse umfasst auch eine lange historische Rekonstruktion und einige theoretische Überlegungen zum Verständnis postjugoslawischer Staatlichkeit, die viel mit anderen Formen peripherer Staatlichkeit, zum Beispiel in Lateinamerika, gemeinsam hat. Die Forschung gestaltete sich als ein Dialog mit der materialistischen Staatstheorie und der Frage, wie sie an einen Kontext angepasst werden kann, der andere soziale und politische Bedingungen aufweist, als jene staatlichen Einheiten, mit denen sich materialistische Staatstheorie häufig befasst, nämlich mit den Staaten des kapitalistischen Westens oder der europäischen Kernländer. Dieses Bemühen bildet den impliziten Hintergrund der folgenden sehr kurzen Rekonstruktion dessen, was die munizipalistischen Plattformen sind.

Zagreb Je NAŠ!

Nach mindestens zehn Jahren außerparlamentarischer Organisation, die mit Studierendenprotesten im Jahr 2009 begann, betrat die Gruppe von Personen, die ZJN in Zagreb gründete, zunächst als kleine Oppositionskraft zwischen 2017 und 2021 das lokale institutionelle Terrain. Als im Jahr 2021 der langjährige autoritär-populistische Bürgermeister Milan Bandić starb, gewannen ZJN die regulär angesetzten Kommunalwahlen.

In ihrem ersten institutionellen Zyklus als „linker Block“ im Stadtparlament versuchten die ehemaligen Aktivist*innen, ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihren politischen Stil auf ein Feld zu übertragen, das sie hauptsächlich von außen als eine Sackgasse kannten, die Korruptionsskandale produzierte ohne Konsequenzen für die herrschenden Eliten. In diesen Jahren schwankten sie zwischen der Rolle als ’troublemaker‘, um eingefahrene Routinen aufzubrechen, und der Präsentation als die bessere Regierungsoption, d. h. sie trugen mit konstruktiven politischen Vorschlägen zu den Parlamentsdebatten bei. Sie brachten auch neue Dynamiken in die Nachbarschafts- und Bezirksräte, generierten Wissen über die klientelistischen Adern des lokalen Staatssystems und gewannen kleinere Abwehrkämpfe durch das Zusammenspiel von Institutionen und Selbstorganisation. Sie unterstützten beispielsweise Bewohner*innen, die gegen die Zerstörung der letzten Grünfläche in ihrem Viertel demonstrierten und versuchten, das aus jugoslawischen Zeiten stammende basisdemokratische Instrument der Nachbarschaftsversammlung wiederzubeleben. Die dadurch ausgelöste Resonanz in der Stadtgesellschaft spiegelte sich in den Ergebnissen der Wahlen 2021 wider. Seitdem regieren ZJN die Hauptstadt in einer Koalitionsregierung.

Der Übergang zur führenden Rolle an der Spitze der kommunalen Hierarchie bedeutete eine weitere Transformation von ZJN als politischem Akteur: vom Aktivismus über die parlamentarische Opposition zur vollen Regierungsverantwortung. ZJN sahen sich mit neuen Problemen konfrontiert, die nach Lösungen verlangten. Zum Beispiel die bröckelnde Bausubstanz, deren jahrelange Vernachlässigung bei den Erdbeben in und um Zagreb im März 2020 eklatant zu Tage trat. Aber auch die undurchdringliche Maschinerie, als die sich der lokale Staat erwies, forderte ZJN und ihr Ziel heraus, den lokalen Staatsapparat so umzuprogrammieren, dass die Institutionen einem öffentlichen und gemeinsamen Interesse dienen. Sie änderten die Struktur der neuen Stadtverwaltung, die nun deutlich weniger Dezernate aufweist. Diese versuchen sie mit Personal zu besetzen, das nicht mit der ehemaligen Regierungspartei von Bandić verbunden ist. Sie haben auch neue Kommunikationskanäle zwischen der zentralen Bürokratie der Stadt und den Nachbarschafts- und Bezirksräten geschaffen, um den unteren Ebenen mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme zu geben. Doch solche strukturellen Veränderungen kosten Zeit und Energie und führen kaum zu den sichtbaren Ergebnissen, die ihre Wähler*innen erwarten. Die Mainstream-Presse diskreditiert derweil ihre Bemühungen kontinuierlich, weswegen es abzuwarten bleibt, ob sie ihre Wahlerfolge bei den nächsten nationalen und lokalen Wahlen wiederholen können.

Ne Da(vi)mo Beograd

Die ursprünglich kleine zivilgesellschaftliche, stadtpolitische Initiative NDB hatte sich innerhalb von acht Jahren zu einer weithin beachteten und ernstzunehmenden Oppositionskraft innerhalb des breiteren grün-linken Bündnisses Moramo entwickelt. Auch die Wurzeln von NDB gehen auf die Studierendenproteste Mitte der 2000er Jahre und spätere Kämpfe für urbane Commons zurück, die sich gegen die Kapitalisierung des städtischen Raums wendeten. Die Initiative unter dem Namen NDB wurde 2014 als eine Bewegung gegen ein gigantisches Stadterneuerungsprojekt gegründet. Ihre aktivistische Praxis vor dem Eintritt in die institutionelle Arena im April 2022 reichte von der Herstellung einer alternativen Öffentlichkeit durch Zeitungen, Podcasts und Lärmdemonstrationen während der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Lockdowns über den Einsatz von öffentlichen Konsultationen, Beschwerdemechanismen und Rechtsstreitigkeiten bis hin zur Organisation auf nachbarschaftlicher Ebene und der Unterstützung ökologischer Kämpfe in ländlicheren Gebieten und in den Bergen. Angetrieben durch den Optimismus, den der Wahlsieg von ZJN auslöste, ebneten NDB den Weg für die Hoffnung, dass eine breite Organisierung von Widerstand gegen das autoritär-neoliberale Regime Serbiens reale Auswirkungen haben könnte.

Vielschichtige Collage: Galerija Belgrade Einkaufszentrum in der Belgrader Waterfront vor dem Belgrader Stadtbild, eingerahmt und durchbrochen von einem Protest gegen die Belgrader Waterfront, der durch einen Tunnel führt. Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc).
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Bei den Kommunalwahlen im Dezember 2023 waren es auch ihre Stimmenanteile, die die regierende Mehrheit beinahe zu Fall brachte. Wie im Fall von Zagreb kämpfen also in Belgrad ehemalige Aktivist*innen nun seit zwei Jahren auf dem Terrain des lokalen und nationalen Staates für eine demokratische, soziale und ökologische Transformation. Sie nutzen die der Opposition von der Verfassung garantierten Instrumente, um die öffentliche Kontrolle über die Regierung zu etablieren, und setzen zugleich weiterhin auf Straßenproteste und Selbstorganisation. Um ihre Basis zu verbreitern und ihre internen Strukturen zu demokratisieren, gründeten sie im Sommer 2023 ihre eigene Partei – die Zeleno-Levi-Front.

Seit ihrer Entstehung haben sie den politischen Diskurs in Serbien verändert und die zutiefst antipluralistischen und undemokratischen Praktiken der regierenden Serbischen Fortschrittspartei entlarvt. Bezüglich der Wahlen im Dezember wurde, auch von NDB, massive Kritik an einem möglichen Wahlbetrug artikuliert. Sowohl von Protestierenden auf der Straße als auch von verschiedenen Gruppen und Institutionen. Aufgrund dieser Kritik sowie der Schwierigkeit eine stabile Regierung zu bilden, wurden für Juni 2024 Neuwahlen in der Hauptstadt angekündigt. Das heißt, dass die permanente Wahlmobilisierung im Land nicht so schnell abreißen wird. Das zehrt einerseits die Ressourcen kleinerer politischer Kräfte auf, macht jedoch andererseits dem Präsidenten und seinen Verbündeten das Leben schwer.

Eine demokratische Notbremse

Die politische Praxis der beiden neuen grün-linken politischen Akteure in Kroatien und Serbien ruht auf zwei zentralen Säulen. Die eine ist der Versuch, die tiefe Spaltung der kroatischen und serbischen Gesellschaft zu überwinden – eine Spaltung, die auf Religion, ethnischer Zugehörigkeit, historisch-politischer Zugehörigkeit oder nationaler Identität beruht. Als Gegenargument stellen sie die materielle Qualität des Lebens in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Sie betonen immer wieder, dass eine gute Gesundheitsversorgung, eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur, gute Arbeitsplätze, die Gleichstellung der Geschlechter, eine intakte Umwelt, sauberes Wasser und saubere Luft usw. wichtiger sind, als darüber zu streiten, wer im Zweiten Weltkrieg Recht hatte.

Die zweite Säule ist die Demokratie. Die Demokratie steht im Mittelpunkt der munizipalistischen Plattformen und der neuen Parteien, weil sich in Serbien und Kroatien weder der Staat als relativ autonome Sphäre noch politische Demokratie tatsächlich herausgebildet haben, auch wenn die Voraussetzungen für eine parlamentarische Demokratie formal gegeben sind. Demokratie ist das unerfüllte Versprechen der kapitalistischen Transition geblieben.

Die neuen grün-linken Parteien bewegen sich dabei zwischen Transformation und Affirmation des liberal-demokratischen Rahmens. Beide sind kein Projekt des radikalen Bruchs, an dessen Horizont eine post-kapitalistische Zukunft aufscheint. Sie treffen auf eine spezifische Form von Staatlichkeit und politischer Landschaft und entwickeln ihren ganz eigenen Umgang mit diesen Formen. Angesichts der autoritären Verfestigung und der ungebrochenen Korruptionsnetzwerke, die Serbien und Kroatien prägen, liegt das emanzipatorische Potenzial daher in der Verteidigung der politischen Demokratie gegen die unvermittelte Durchsetzung partikularer Interessen der herrschenden Eliten. Sie könnten damit als Notbremse gegen den demokratischen Verfall in der südosteuropäischen Peripherie wirken.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.