Mein Buch des Jahres

Der Stil: Elegant und schnoerkellos-oekonomisch zugleich. Der Inhalt: Den ewigen Durst des Geistes nach neuen intellek- tuellen Abenteuern zugleich stillend und vergroessernd. Die Darstellung: Ein kuehner kulturhistorischer Streifzug von der Antike bis in die Postmoderne.

Da ist mehr: Denn warum Joseph Vogls >Ueber das Zaudern< mein Sachbuch des Jahres ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es meine persoenliche Auseinandersetzung mit dem Tsunami vom 26.12.04 tangiert und in diesem Zusammenhang einen wichtigen Dialogpartner darstellt, den ich an dieser Stelle weiterempfehlen moechte. Doch worum geht es im Vogl-Buch eigentlich?

Es geht um das Zaudern. Und damit um einen Moment, den man als blinden Fleck eines Weltbildes beschreiben koennte, in dem alles auf reibungslose Ablaeufe hin konstruiert ist. So laesst jener, der zaudert, die verborgene Struktur der Welt sichtbar werden. Mehr noch: Der Zauderer stellt die Welt in Frage, somit auch deren Gesetz und Sinnganzes. In einem solchen Moment wird also immer auch das Verhaeltnis des Subjekts zur Welt erschuettert, dessen Einbettung ploetzlich fragwuerdig und ungesichert erscheint. Die abendlaendische Kultur hat solche Subjekte immer wieder hervorgebracht: Schillers >Wallenstein<, Kafkas >K.<, Musils >Ulrich< etc. Je beziehungsreicher Vogls Ziehharmonika der Verweise geistesgeschichtliche Zauder-Diskurse auffaechert, desto draengender tritt die aktuelle und politische Dimension des Zauderns zu Tage. War die Welt nach dem Tsunami vom 26.12. nicht etwa ebenfalls einen Moment lang im Zaudern suspen- diert? Was waere passiert, wenn man dem Zaudern nachge- geben haette, statt alles reflexartig dem Diktum der >Schlag- fertigkeit< zu unterstellen? Heute kann man allenfalls darueber reflektieren, welche Risse im Weltbild sich in diesem Moment angedeutet haben, ueber die Transformationen innerhalb unserer Kultur, die diese Risse hervorgebracht haetten, kann man nur spekulieren. Zusammen mit Vogl und seinem Buch. Weitere Top of the Pops 07:

Album:

Myth Takes, !!!
Hahnenkampf, KIZ
Pocket Symphony, AIR
Play with the changes, 4Hero
Trees Outside the Academy, Thurston Moore

Ausstellung:

Sean Snyder, Galerie NEU
Douglas Gordon, Kunstmuseum Wolfsburg
Luchezar Boyadjiev, Galerie Feinkost
Pavel Braila, Neue Nationalgalerie
Nina Fischer/Maroan el Sani, Galerie Eigen & Art

Film:

Yella, Christian Petzold
Zodiac, David Fincher
Gefahr und Begierde, Ang Lee
Death Proof, Quentin Tarantino
Angel, Francois Ozon

Konzert:

Schneider TM, 5Meter
Konono No. 1, HKW
The Boredoms, Volksbuehne
The Whitest Boy Alive, Tape
The Red Crayola, Roter Salon
Jonny Kornhauser, Dr. Pong

Podium:

Marcus Steinweg, Kunst Werke
Carl Hegemann und Christoph Menke, Volksbuehne
K.D. Wolff und Klaus Theweleit, Buchhandlung Leipzig
John Holloway, Gemeindehaus Rostock
S. D. Curtis, British Coucil Zagreb

Prosa/Lyrik:

Waffenwetter, Dietmar Dath
The Prodigal, Derek Walcott
Minibar, Kolja Mensing
Das andere Gesicht Rock Hudsons, Guillermo Fadanelli
Geschichten vom Kino, Alexander Kluge

Theater:

Wachsfigurenkabinett, Thorsten Coelle
Das Kapital, Rimini Protokoll
Nord, Frank Castorf
Captain Berlin vs. Hitler, Joerg Buttgereit
Im Ausnahmezustand, Falk Richter

Theorie:

Ueber das Zaudern, Joseph Vogl
Das Paradox des Nationalen, Saskia Sassen
The Shock Doctrine, Naomi Klein
Zero Comments, Geert Lovink
European Universalism, Immanuel Wallerstein

4 Kommentare zu “Mein Buch des Jahres

  1. Naja, manchmal ist schnelles Handeln aber auch gefragt – das zeigt die aktuelle Ausstellung “Ohne zu zögern” in der Akademie der Künste. Es geht um den Journalisten Varian Fry, der während des zweiten Weltkrieges viele deutsche Emigranten in die USA gerettet hat. Die USA hätten lieber einen zaudernderen Fry gehabt, weil sie die ganzen Flüchtlinge nciht aufnehmen wollten.

  2. es scheint aber nicht darum zu gehen, schnelles, zielgerichtetes handeln von grund auf in abrede zu stellen, sondern das potenzial des so genannten “zauderns” herauszustellen – ist das nicht auch etwas anderes als das zögern?

  3. jospeh vogl würde sicherlich auch nicht zögern mit zaudern gleichsetzen; ist ersteres doch eher ein moment, in dem die handlung nicht ganz so grundsätzlich in frage gestellt wird; sowie eben reaktionsschnelligkeit auch nicht gleichzusetzen ist mit schlagfertigkeit -letzteres impliziert beschleunigung der handlung und damit vielleicht auch schnelle reaktionen, aber eben noch viel mehr: die unhinterfragbar richtige antwort/handlung und gleichermaßen eine demonstration von macht (des handelnden) sowie eine huldigung/bestätigung der vorherrschenden macht und gesetze

  4. Mhh, da muss ich euch beiden Recht geben, da hab ich wohl etwas vorschnell geschossen – aber interessant ist es schon, dass es diese zwei Worte im Deutschen gibt, “zögern” und “zaudern” – beide beginnen mit Z. Im Englischen gibt es in dieser Hinsicht auch viele Varianten, über die es sich nachzudenken lohnt (dither, tarry, hesitate) – wenn ich das nächste Mal eines dieser Verben einsetze, dann werde ich bestimmt lange überlegen …

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