Lost in Sibirien: Drei Tage im Großraum-Schlafwagen der Transsibirischen Eisenbahn

In einem Zug behält man die Zeit im Auge: Wie lange dauert die Fahrt noch? Haben wir Verspätung? Schaffe ich meinen Anschlusszug? Das Ankommen ist alles, worum es geht. Doch als die frisch gebackene Abiturientin Martina Dietz drei Tage im Großraum-Schlafwagen der Transsibirischen Eisenbahn von Nowosibirsk nach St. Petersburg fährt, zählt weder Raum noch Zeit – viel wichtiger ist das Zusammensein. Für die Berliner Gazette berichtet die 19-Jährige über ihre Reise durch drei Zeitzonen.

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Tamaras Schnarchen lässt die Ecke des Rüschenvorhangs, der vom Tisch zwischen uns herunterhängt und ihr Gesicht zur Hälfte verdeckt, leicht zittern. Wenn ich den Blick gerade nach oben richte, schwebt 30 Zentimeter über mir die hellgraue Metallunterseite von Svetlanas Liegeplatz. Ich sehe einen Streifen Fenster, hinter dem ein unendlich weißer Himmel mit unendlich weiterfallenden weißen Schneeflocken verschwimmt, und oben rechts Antons Fuß, der im Takt der holpernden Schienen wippt. Stille, Schnee, nur das Rattern der Zugräder und der allgegenwärtige Fleischgeruch.

Es ist kurz nach 12 Uhr mittags, Zeit für einen Mittagsschlaf im Transsibwaggon Nummer 00. Ich bin irgendwo im sibirischen Nirgendwo, auf der asiatischen Seite des Urals, den wir in wenigen Stunden überqueren werden, auf der Reise von Nowosibirsk nach Sankt Petersburg – quer durch drei Zeitzonen, weswegen ich mir wegen der Uhrzeit auch nicht ganz sicher bin.

Mit einer unglaublich hässlichen Sonnenbrille im Gesicht werde ich wach. Svetlana sitzt auf meinen Füßen und erzählt mir begeistert, dass es sich dabei um ein echtes Moskauer Qualitätsprodukt handelt. Genau wie bei dem grauen Ripp-Rollkragen-Pullover und einem Dutzend golden blinkender Leoparden-, Schildkröten- und Schlangen-Kettenanhänger, die ein genauso blinkend grinsender Verkäufer auf meiner Decke ausgebreitet hat. Als ich beide davon überzeugen kann, dass ich an keinem Kauf interessiert bin, zieht er mit seiner vollgepackten Sporttasche weiter.

Drinnen +27°C, draußen -28°C

Ich habe ein Ticket der dritten Klasse gekauft, was bedeutet, dass ich drei Tage lang in einem Großraumabteil schlafe, esse, lese, spreche – lebe. Wie ein großes Schlafzimmer für über 50 Menschen. Nachts wird mein Schlaf hin und wieder davon unterbrochen, dass jemand in Flip-Flops zur Toilette schlurft oder wir an einem kleinen Bahnhof anhalten. Wenn ich dann aus dem Fenster schaue, fühle ich mich wie im Polarexpress.

Jeder Waggon hat seine persönliche Schaffnerin, die tagsüber den langen schmalen Wohnzimmerteppich mit Persermuster im Gang saugt, heißes Wasser anbietet und kleine Snacks verkauft, und nachts in einer wunderschönen Uniform mit langem Wintermantel vor dem Waggon steht, mit Kolleginnen scherzt und den alten Frauen am Bahnsteig frisches Obst und Gemüse abkauft.

Die Wagenanzeige für Innen- und Außentemperatur zeigt konstant 27°C (drinnen) und zwischen -3 und -28°C (draußen) an. Kleine Dörfer und Städtchen mit Zwiebelturmkirchen ziehen vor dem Fenster vorbei. Ich sehe Männer, die zwischen gigantischen Plastikbergen im Wald eine weitere LKW-Ladung Müllsäcke abladen. Dann stundenlang nichts als weite hügelige Schneelandschaften und unendliche Birkenwälder. Ich versinke in diesen Bildern und habe verwirrende Assoziationen von Napoleons Soldaten auf dem Marsch nach Hause.

Liebeserklärung an Lenin

Am Abend kommt Leben in das Abteil. Eine Frau in der Nähe von Platz 34 hat einen kleinen Malkurs aufgemacht, eine Mädchengruppe auf den ersten vier Liegen bietet mir an, meine Haare zu flechten. Die Männer, die den ganzen Tag über schweigend mit aufgestütztem Kopf aus dem Fenster gesehen haben, drehen sich nun zu ihren Bettnachbarn um und ein bunter Lebensmitteltausch beginnt. Anton, der in Nowosibirsk studiert und rechts über mir schläft, zeigt mir stolz seine Lieblingsmusik auf seinem Handy und wir tanzen eine kleine Runde zu Aux Champs-Elysées. Svetlana bringt mir ein Gedicht bei, das in einer Liebeserklärung an Lenin endet. Tamara schenkt mir einen Magneten mit einem Teddybären.

Zwischen all der bunten Feierei fragt mich Igor aus dem Nachbarabteil, warum es in Europa eine „Katastrophe mit dem Euro“ gibt. Obwohl ich zwei Tage vorher noch der festen Überzeugung war, dass mein Russisch zu schlecht ist, um das Taxi zum Bahnhof zu bestellen, kann ich ihm mit wenigen, einfachen Vokabeln (In Griechenland – kein Geld!) und ein paar unterstützenden Zeichnungen nach viel Gelächter und Über-den-Kopf-Streichlern einen kleinen Eindruck vermitteln.

Um Mitternacht geht das Licht aus. Meine neuen Freunde bitten mich, ihnen ein Lied aus Deutschland vorzusingen. Mit so vielen Winterbildern im Kopf ist „Stern über Bethlehem“ das erste, was mir einfällt. Und als es still wird im Waggon, liege ich glücklich und mit viel neuem Essen auf meinem Platz Nummer 26. Ich weiß nicht mal annähernd, wo ich bin, ich weiß nicht, wie viel Uhr es gerade in Deutschland oder in Nowosibirsk ist. Aber ich weiß, dass ich diesen Moment und diese Reise durch das größte Land der Welt niemals vergessen werde.

Anm.d.Red.: Die Fotos in diesem Beitrag stammen von der Autorin.

14 Kommentare zu “Lost in Sibirien: Drei Tage im Großraum-Schlafwagen der Transsibirischen Eisenbahn

  1. Ein wirklich schön geschriebener Text über eine abenteuerliche Fahrt, die man sich bildlich vorstellen kann. Danke!

  2. Hört sich nach einer tollen Reise an und der Text ist großartig geschrieben. Respekt!

  3. Leider aber nichts anderes als das, was man in den tausend anderen, westlichen Berichten über die Babushkas lesen kann, die an den Gleisen Kohlpiroggen verkaufen! Hier fehlt lediglich das für den deutschen Reiseepilog konventionell erforderliche Misstrauen gegenüber den das den Seniorinnen verkaufte Nahrungssortiment, vielleicht ein kleiner Lichtblick. Ich hingegen hätte lieber etwas über die im Teaser versprochene Erfahrung gelesen, dass “Zeit und Raum” ihre Wichtigkeit verlieren, und was diese Erfahrung für den Autor (geschlechtsneutrale Form!) bedeutet. Oder etwas mehr über die “Assoziationen” zu Napoleon…

  4. Danke für die Kritik. Ich persönlich habe mein Misstrauen gegenüber dem Babushka-Nahrungssortiment schon vor einer Weile aufgegeben, da vermutlich eher das Gegenteil der Fall ist, zumindest was ihre Verkaufsstände hier in der Provinz angeht. Meist qualitativ und geschmacklich besser als Bio und alle Importprodukte.

    Was den Punkt angeht, dass meine im Text wiedergegebenen Erfahrungen vielleicht austauschbar sind: Ich denke, da ich schon zwei Monate vor der Reise in Russland gelebt habe und mich ein wenig mit meinen Nachbarn verständigen kann, bekomme ich doch einen etwas anderen Eindruck als viele westliche Transsib-Touristen. Viele Dinge, die ich im Text beschreibe, sind für mich auch schon völlig normal geworden. Ich wusste aber, dass ich einen solchen Text schreiben würde, und dass die Leser zum Großteil vermutlich keine Russlanderfahrungen haben würden, weswegen ich bewusst versucht habe, das ganze als “Abenteuer neu in Russland” wahrzunehmen.

    Wie schon im Teaser steht, “Zeit und Raum” verlieren ihre Wichtigkeit, spielen im Kopf und im Text eine geringe Rolle. Wichtiger ist das Zusammensein, das kommt im Text für mich durchaus vor.

  5. wie werden junge Menschen heute für Exotismus sensibiliesiert und für Klischees? ich habe das Gefühl, dass es ganz schwer ist, weil sie aufwachsen in einer Welt, in der alles schon Produkt, alles schon Konsumgut ist – auch wenn nciht käuflich, sondern “nur” sinnlich erfahrbar. Und in eeiner solchen Kette von Waren und (gestigen) Nahrungen eben alles auch schmackhaft wird über das Exotisieren: entweder andere tun es für mich oder ich tue es selbst, damit es schmeckt. Hier stehen also die ganz großen Ernährungesfragen auf der Tagesordnung und die Frage, wie ein Wertewandel eingeleitet werden kann.

  6. Ein wunderbarer Text! Ich höre das Rattern der Drehgestelle über die ungeschweissten Schienenstöße, rieche die würzige Luft der Taiga und den Tee aus den Samowar! Spaciba!спасибо
    @bimbo: mal nicht so schwarz sehen! Früher war auch nicht alles besser! Exotismus und Klischees stehen nicht alleine für einen notwendigen Wertewandel.

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