Es ist schwierig in der deutschen Sprache eine Bezeichnung für kritische Formen des Lernens und der Wissensproduktion zu finden, ohne sich dabei zahlreiche Problemfelder aufzuhalsen. Der Begriff der Erziehung erzählt eigentlich bereits im wörtlichen Sinn viel von seiner Geschichte als Herrschaftstechnik und Instrument der Disziplinierung. Während Antonio Gramscis Überlegungen noch mit diesem Begriff übersetzt wurden, erscheint er heute (vielleicht auch nach seiner Funktion in der Nazipädagogik) eher diskreditiert.
Demgegenüber steht der Bildungsbegriff in einem etwas anderen Bezugsrahmen. In den letzten Jahren wurde er als Ausdruck eines bürgerlichen Ideals humboldtscher Prägung immer wieder in Grund und Boden kritisiert, nicht ohne, dass er zugleich – als Gegenbegriff zum Trend neoliberaler Vorstellungen von Ausbildung – rehabilitiert wurde.
Lernen findet überall statt
So haben etwa auch die Studierendenbewegungen im Herbst 2009 unter anderem “Bildung statt Ausbildung” gefordert. Dennoch bleibt die Frage offen, inwiefern dabei immer auch eine ganze Geschichte deutscher bürgerlicher Bildung miterzählt wird. Gerade in einer darin propagierten scheinbaren Zweckfreiheit lagen historisch selbstverständlich auch bürgerliche Zwecke und Werte begründet, die nicht für alle gleichermaßen offen stehen und befreiend wirksam werden.
Insofern ziehe ich es vor – wenn ich die anderen Begriffe auch nicht ganz vermeiden kann und will – auf den aktiveren Begriff des Lernens zurückzugreifen: als Substantivierung dessen, was im Prozess der Aneignung und Produktion von Wissen geschieht. Lernen findet überall statt – nicht bloß (aber auch) in Institutionen, im Alltag, bei der Arbeit, im Aktivismus und auf der Straße. Das was dabei gelernt wird, ist allerdings nicht immer emanzipatorisch – meistens ist es vielmehr innerhalb des hegemonialen Wissenskanons oder des Alltagsverstands. Deshalb spricht Gayatri Spivak auch von der Notwendigkeit eines aktiven “Ver-lernens” mächtiger Wissensformen, wenn es darum geht, sich mit dem Apparat der Wertekodierung anzulegen.
Prozesse des Ver-lernens auslösen
Als Kunstvermittlerin und Kuratorin geht es mir darum Prozesse auszulösen, in denen der mächtige Wissenskanon herausgefordert und das was sagbar, sichtbar und machbar ist, verändert werden kann. Dies kann in Ausstellungen ebenso stattfinden, wie in edukatorischen Projekten (wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen und Bedingungen).
Hier kann gerade der unglamouröse Aspekt des Lehrens und Lernens jenem der stärker an Repräsentation orientierten Ausstellungswelt etwas voraus haben: In der Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen Renate Höllwart und Elke Smodics im Büro trafo.K haben wir in den letzten zehn Jahren viele Erfahrungen in diesem Zusammenhang gesammelt.
In unseren Projekten stellen wir immer wieder aufs Neue die Frage “Ist das so?” und versuchen einen Prozess des Ver-lernens unserer Selbstverständlichkeiten ebenso wie jener unserer AdressatInnen auszulösen. Dabei stellen wir Kontexte her und stellen Fragen an uns, an die Institutionen in und mit denen wir arbeiten und an die Gesellschaft.
Schleichendes Lernen…
Diese Fragen scheinen manchmal mehr und manchmal weniger aufrüherisch. Manchmal provozieren sie unsere AdressatInnen, manchmal die Institutionen. Sie sind nicht sehr spektakulär, geben nicht immer vorzeigbare Bilder ab, sind oft unsexy, brauchen Zeit. Wir können uns dabei nicht einmal sicher sein, ob sie tatsächlich nachhaltige Wirkungen erzeugen. Und dennoch scheint gerade dieser mühsame Aspekt des Edukatorischen den Ort des Alltags zu erreichen, in dem Kämpfe um Einverständnis und Hegemonie mindestens genau so angesiedelt sind, wie im Spektakulären.
Die Arbeit mit Leuten, die nicht notgedrungen unsere Meinung haben sowie die Arbeit mit gesellschaftlich relevanten Themen bringt uns selbst oft auf unsicheres Terrain. Wichtig scheint hier eine ständige Auseinandersetzung mit unseren eigenen Verstrickungen. Dabei bringen unsere Ansätze, die Recherchen die in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen AkteurInnen entstehen und ihre Fragen, ständig neue Fragen mit sich. Die mühsame Arbeit besteht darin, die gemeinsame Unabschließbarkeit der kritischen Prozesse auszuhalten.
…statt permanenter Wissensproduktion
Nicht immer sind Projekte so treffsicher und kritisch wie wir und/oder unsere AuftraggeberInnen das gerne hätten. Insofern es sich dabei um offene Prozesse handelt, können diese sehr unerwartete Ergebnisse zeitigen. Diese sind nicht immer vorzeigbar, manchmal peinlich, oft Themenverfehlungen. Manchmal ergeben sich gerade daraus sehr interessante Überlegungen, Infragestellungen von Selbstverständlichkeiten, Neuformulierungen, Handlugsräume. Manchmal ergibt sich nichts.
An diesem Punkt ließe sich frei nach Derrida sagen: Nur wenn es möglich ist, dass nichts Produktives geschieht, kann etwas Produktives geschehen. Und vielleicht kann der Trend zur permanenten Wissensproduktivität der neuen kuratorischen Diskurse gerade das von den leisen, zähen, unvorzeigbaren Prozessen des Edukatorischen lernen.
(Anm. d. Red.: Wenn Sie mehr über Nora Sternfeld, die Verfasserin des Protokolls, erfahren möchten, klicken Sie einfach auf den Autorenlink unten links.)
Ich bin sehr dankbar auf diese tiefergehend Reflexion des Begriffs “ver-lernen”. Ich komme mir manchmal wie jemand vor, der in den USA aufgewachsen ist und kaum Ahnung hat von Geografie bzw. “Weltkunde”, weil alles so fokussiert ist auf “unser Land”: Geschichte, Sprache, Literatur, man kennt das immer nur aus der nationalen Brille, obwohl sich nichts davon unabhängig von Nachbarn entwickelt hat und bestensfalls im Vergleich wirklich verständlich wird.
Wenn es Lehrer gibt, die das Ver-Lernen unterrichten, müsste es dann nicht auch genauso Lehrer geben, die das Verlernen des Verlernens unterrichten? Ich meine, warum sollten wir davon ausgehen, das wir die falsche Version durch einen eindeutigen Korrekturprozess aus der Welt schaffen?
ich kann dieses grundsätzliche Misstrauen an unseren Bildungsinstitutionen nur bedingt nachvollziehen. Es klingt so als seien sie im Geschäft der Gehirnwäsche. Schaut uns an: wir sind alle in die Schule gegangen und können dennoch unabhängige, kritische Gedanken entfalten.
Wie kann die Strategie des Ver-Lernens für konkrete Politik, konkreten Widerstand und Protest wie zum Beispiel vis a vis Bologna wirksam werden? Anders gefragt: kann diese Strategie die offiziellen Institutionen der Bildung von Innen reformieren?
Ich frage mich: Wie (auf welche Art und Weise) löst Kunst oder die Auseinandersetzung mit Kunst Bildungsprozesse aus? Das können gleichermaßen Prozesse des lernens oder verlernens sein. Sind Bildungsprozesse, die durch Kunst ausgelöst werden, ein Luxuszustand, den sich nur die “erste Welt” leisten kann oder sind diese Prozesse so grundlegend, dass sie auch anderen zugänglich gemacht werden müssen? Luxus hin oder her?
Brunopolik hat gestern in der Diskussion über den Beitrag zur Globalisierungskritik ein brauchbares Stichwort in die Runde geworfen: “Unsere Demokratie ist inzwischen eine teuflische Chimäre, die nur dazu dient, reale Macht, staatlich oder privat und auch kriminell, zu verschleiern.” Vielleicht sollte man den Begriff der Bildung und des Ver-Lernens von der Demokratie her denken bzw. von dem, was von der Demokratie übrig geblieben ist.
Natürlich können wir uns ver-lernen nicht einfach vorstellen wie auf den delete knopf zu drücken und dann sind mächtige wahrheitsprodukionen und herrschaftsgeschichten einfach weg. das wäre allerdings absurd und wahrscheinlich auch ziemlich gut vereinbahr mit den logiken von mächtigen diskursen, die sich über geschichte hinwegsetzen zu können glauben. also: kein eindeutiger korrekturprozess ist möglich oder wünschenswert. aber ein lernen, das mächtige privilegierte, ausschließende und gewalttätige wissensformen – die wir nicht selten für bildung und oft für selbstvderständlich halten – einklammern, hinterfragen, zurückweisen und auch manchmal ruhig stellen will und sich das auch herausnimmt.
Also wenn man Ver-lernen anderen Menschen systematisch beibringt, entsteht eine Schule des Ver-lernens. Ein solche Schule kann kaum das sein, was die Praxis des Ver-lernens will. Wenn ich es richtig verstanden habe, will sie gerade KEINE Schule sein.