Die moderne Wissenschaft war nie neutral. Vielmehr war sie stets mit Krieg, Waffenproduktion und Umweltzerstörung verflochten. In ihrem Beitrag zur Reihe „Pluriverse of Peace“ reflektieren Jade Arbo und Marina Pereira die Schattenseiten der westlichen Fortschrittserzählung. Sie verfolgen die Spuren von europäischen Labors bis hin zu lateinamerikanischen Dörfern, wo sich die zerstörerischen Folgen wissenschaftlicher ‚Entdeckungen‘ und der alltägliche Widerstand dagegen entfalten.
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Was passiert, wenn ausgerechnet die Wissenschaft, die das Leben verbessern soll, zu einem Motor der Zerstörung wird? Wer trägt die Last des ‚modernen Fortschritts‘ und wer profitiert davon? Diese Fragen stellen sich in einer Zeit der Klimakrise, der toxischen Kontamination und der globalen Ungleichheit. Diese zeigt sich in chemikalienbelasteten Böden, in fragilen, aber widerstandsfähigen Gemeinschaften und in den alltäglichen Kämpfen von Menschen, die oft von den globalen ‚Fortschrittserzählungen‘ ausgeschlossen sind.
Das Versprechen des modernen Fortschritts wird seit Langem als Geschichte universeller Verbesserung erzählt. Doch es ist auch eine Geschichte der Spaltung. Die westliche Moderne hat scharfe Trennungen zwischen Natur und Kultur, Vernunft und Emotion sowie Mensch und Nicht-Mensch geschaffen. Diese Trennungen prägen bis heute unsere Lebensweise und unser Denken. Diese Trennungen werden durch drei mächtige Systeme verstärkt, die zusammenwirken. Der Kapitalismus hat die Welt zu etwas gemacht, das ausgebeutet werden kann. Der Kolonialismus dehnte die Kontrolle Europas sowohl geografisch als auch symbolisch auf Länder und Völker aus. Die moderne Wissenschaft reduzierte in ihrem Bestreben, Vorhersagen zu treffen und die Welt zu kontrollieren, diese oft zu einem Studienobjekt. Im Gegensatz zu Kapitalismus und Kolonialismus kann und sollte die Wissenschaft jedoch auch neu gedacht und anders praktiziert werden.
Politik der Spaltungen
Trennung bestimmt auch die Geografie der Moderne. Die Geschichten von Eroberung und Fortschritt wurden größtenteils aus der Perspektive des Globalen Nordens erzählt, während der Globale Süden die Folgen tragen musste. Diese Spaltung zwischen Zentrum und Peripherie ist kein Zufall, sondern ein strukturelles Merkmal der kolonialen und kapitalistischen Moderne. Indem er Ausbeutung, Umweltverschmutzung und Enteignung ausblendete, ermöglichte der moderne Kapitalismus den ‚entwickelten‘ Nationen, Fortschritt zu feiern, während er die Kosten dafür auf ferne Länder und schutzbedürftige Gemeinschaften abwälzte.
Alle drei Systeme – Kapitalismus, Kolonialismus und moderne Wissenschaft – funktionieren durch Trennung: Sie trennen Objekte von ihrer Umgebung, Produktion von Fürsorge, Leben von seinen Erhaltungsbedingungen und den globalen Norden vom globalen Süden. Das Ergebnis ist eine Reihe von Krisen, die fragmentiert erscheinen – ökologisch, politisch, sozial und epistemisch –, die aber tatsächlich eine gemeinsame Struktur haben. Die Moderne ist demnach nicht nur ein Marsch des Fortschritts, sondern auch eine Maschinerie der Spaltung. Genau in dem Moment, in dem sie Beherrschung verspricht, erzeugt sie Verwundbarkeit.
Ein schreckliches Grün
Benjamin Labatuts 2020 erschienenes Buch „Un verdor terrible“, auf Englisch 2021 unter dem Titel „When We Cease to Understand the World“ veröffentlicht, dient als Brücke zwischen den Narrativen des Fortschritts im Globalen Norden und den Auswirkungen der damit verbundenen ‚Fortschritte‘ im Globalen Süden. In einer Mischung aus Biografie, Wissenschaftsjournalismus und Fiktion zeichnet Labatut nach, wie zufällige Entdeckungen und mit dem Nobelpreis gekrönte Durchbrüche in Chemie, Physik und Mathematik die moderne Welt geprägt haben. Labatut lüftet den Vorhang über den Wissenschaftler*innen selbst, den Schöpfern von Substanzen, die sowohl lebensspendend als auch lebenszerstörend sein können. Seine Erzählung spürt den Geistern der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts und ihrer Rolle bei der Gestaltung der heutigen Welt nach.
Dabei deckt Labatut ein Paradoxon auf. Wissenschaft kann nicht als rein gut oder rein schlecht verstanden werden. Sie kann beides gleichzeitig sein – und ist es oft auch. Labatut beginnt seine Erzählung mit einer Genealogie der Farbe ‚Preußischblau‘ und führt uns durch die Geschichte zufälliger Entdeckungen zur ersten Massenvernichtungswaffe der Welt: Chlorgas, das im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. In diesem Kapitel erzählt er von der Arbeit des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Chemikers Fritz Haber, der als ‚Vater der chemischen Kriegsführung‘ bekannt ist. Im Jahr 1909 entdeckte Haber, wie sich Stickstoff aus der Luft in Dünger umwandeln lässt. Dies ermöglichte die Synthese von Ammoniak und somit die großtechnische Produktion von Düngemitteln. Diese Entdeckung führte zu einem dramatischen Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität und versorgte Millionen von Menschen mit Nahrung. Wie Labatut feststellt, wären ohne Haber „Hunderte Millionen Menschen, die bis dahin für ihre Ernten auf natürliche Düngemittel wie Guano und Salpeter angewiesen waren, an Unterernährung gestorben“.
Die Geister der modernen Wissenschaft
In seinem Werk verbindet Labatut Fiktion mit biografischen Skizzen berühmter Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Norden und hinterfragt die Logik des Fortschritts sowie die Gefahren exceptionalistischer Diskurse. Wie der Mathematiker Karl Schwarzschild im zweiten Kapitel warnt: „Wir haben den höchsten Punkt der Zivilisation erreicht. Uns bleibt nur noch der Verfall und Untergang.“ Ab hier folgen wir einer Erzählung, in der wissenschaftliche Entdeckungen und ihre Schöpfer von der Monstrosität ihrer Schöpfungen heimgesucht werden und Spuren hinterlassen, die weit über das hinausgehen, was sie sich hätten vorstellen können.
Diese gespenstischen Spuren durchziehen das Buch: von der Entwicklung von Düngemitteln über den Mathematiker Mochizuki, der erklärte, dass „nicht Politiker, sondern Wissenschaftler wie sie den Planeten zerstören würden, da sie ‚wie Schlafwandler auf die Apokalypse zusteuerten‘“, bis hin zu Persönlichkeiten wie Grothendieck, der sich in radikaler Kritik an der militärischen Nutzung der Wissenschaft aus der Forschung zurückzog, um ein einfacheres, gemeinschaftliches Leben zu führen. Er fragte sich: „Welche neuen Schrecken würden aus dem vollständigen Verständnis, das er suchte, hervorgehen? Was würde die Menschheit tun, wenn sie zum Kern des Kerns vordringen könnte?“
Alle Wissenschaftler*innen sind miteinander verbunden. Ihre Geschichten sind zu einer Erzählung von Denker*innenn verwoben, die von ihren Schöpfungen heimgesucht werden. Dies ähnelt der Art und Weise, wie Victor Frankenstein mit der zerstörerischen Kraft seines eigenen Werks konfrontiert wurde. Obwohl Labatuts Text nur wenige formale Merkmale der Science-Fiction aufweist, knüpft er an die von Mary Shelley angestoßene Diskussion an: das Streben nach rationaler Beherrschung der Natur, das unkontrollierbare Folgen nach sich zieht. Was Klarheit bringen sollte, führt zu tieferer Unsicherheit.
Der Fußabdruck des Globalen Nordens im Globalen Süden
Das Buch mündet in der Erkenntnis, dass wir in einer komplexen Welt leben, die weit von den einst von der Wissenschaft verkündeten Versprechungen fertiger, objektiver Wahrheiten entfernt ist. Diese Unsicherheit anzuerkennen, erfordert eine andere Haltung gegenüber der Welt – sowohl individuell als auch kollektiv. Die Meistererzählung des Fortschritts aus dem Globalen Norden und der Ausschnitt aus dem Leben des langsamen Widerstands des Globalen Südens sind durch denselben Faden verbunden: den Faden, der uns in die Krisen gebracht hat, mit denen wir heute konfrontiert sind.
Im Epilog werden die Auswirkungen menschlichen Handelns in einem kleinen chilenischen Dorf in der Nähe der Anden sichtbar. Es ist, als schwebten die Geister aller zuvor erzählten Entdeckungen über diesem Ort und heimsuchten die Stadt, wodurch sich die Geschichte des Wissens mit einer Horrorgeschichte verflechtet. In diesem letzten Bericht wechselt die Erzählung in die Ich-Perspektive. Sie bewegt sich von der Perspektive der Entdeckungen des Globalen Nordens zu ihren Folgen in Lateinamerika. Diese Region wird von extraktivistischen Politiken heimgesucht, die die für den globalen wissenschaftlichen Fortschritt notwendigen Ressourcen garantieren – sehr zum Nachteil des Lebens der lokalen Bevölkerung.
Dieser Abschnitt beginnt mit einem Rückblick auf das erste Kapitel und die Entdeckung von Arsen, das nun die Hunde des kleinen Dorfes tötet, in dem die Figuren leben. Arsen kommt auch in einem nahe gelegenen See vor, der „überlebt hat, obwohl sich das Klima erwärmt hat und sich kein Eis mehr bildet“, sowie im Boden des Hauses des Erzählers. Dieser ist mit Abfall gefüllt: „Der ehemalige Besitzer, der die Hütte gebaut und mir verkauft hat, musste das Gelände mit Schutt und Bauschutt ebnen. Wenn ich heute in den Boden grabe, um Blumen und Bäume zu pflanzen, finde ich hin und wieder Dosen, Flaschenverschlüsse und Plastikfetzen.“ So wird auch die Lebensgeschichte des Gärtners deutlich: Einst Mathematiker, gab er alles auf, um auf dem Land zu leben und sich um Pflanzen zu kümmern – wohl wissend, dass wissenschaftliche Entdeckungen niemals neutral sind, sondern mit Krieg, Waffen und Zerstörung verflochten sind. Auf diese Weise wird die Heiligkeit der Figur des Wissenschaftlers infrage gestellt.
Im Boden dieser Stadt erscheinen Kulturgeschichte und Naturgeschichte als miteinander verflochten. Die Erdschichten im Garten des Erzählers sammeln Spuren des kolonial-kapitalistischen Fortschritts: Dosen, Verschlüsse, Plastik. Sie bleiben wie Geister des Anthropozäns zurück – materielle Erinnerungen an eine zerstörerische Produktion und die von ihr verkörperte Gewalt. Auffällig ist, dass in diesem Ergebnis des Fortschritts nicht mehr Europa, sondern Lateinamerika in den Vordergrund tritt.
Der Boden will nicht vergessen
Indem er seine Erzählung mit Geschichten über westliche wissenschaftliche Triumphe beginnt und mit einer Szene in einem chilenischen Dorf beendet, verwandelt Labatut sie in einen Spiegel und ein Portal: Sie reflektiert die Rolle des Globalen Nordens bei der Gestaltung der modernen Welt und eröffnet gleichzeitig einen Blick auf eine oft ignorierte Welt, in der die Geister des modernen Fortschritts im Boden, im Wasser und im Rhythmus des Alltagslebens weiterleben. Um dies zu verstehen, müssen wir das Alltägliche in der lateinamerikanischen Literatur ernst nehmen. Das Alltägliche ist nicht trivial. Es ist der Raum, in dem Gewalt verkörpert wird und in dem Widerstandsfähigkeit Wurzeln schlägt. Im Epilog von Labatuts Buch wird offenbart, dass Abfälle und chemische Rückstände im Boden verbleiben, in dem später Blumen gepflanzt werden. Der Boden weigert sich buchstäblich zu vergessen.
Das Alltägliche trägt das Gewicht der globalen Geschichte: Die Plastikschichten und der Schutt in einem chilenischen Garten sind Denkmäler kapitalistischer Ausbeutung. Indem sie diese Erfahrungen verarbeitet, verwandelt die lateinamerikanische Literatur den Alltag in einen Ort kritischen Wissens. Sie offenbart, dass Kolonialismus und Kapitalismus keine abstrakten Systeme sind, sondern materielle Machtkonstrukte, die die „langsame Gewalt“ (Rob Nixon) aufrechterhalten, die täglich am eigenen Leib, zu Hause und in der Gemeinschaft erlebt wird.
Entscheidend ist, dass diese Werke auch auf Formen des Widerstands hinweisen. So leistet der Gärtner, der sich von der Mathematik abwendet und sich der Pflege von Pflanzen zuwendet, stillen Widerstand gegen die Logik, die Verwüstung hervorgebracht hat. Figuren, die beharrlich für andere sorgen, Verbindungen knüpfen und überleben, verkörpern Formen der Solidarität, die sich der Auslöschung widersetzen. In diesen Erzählungen wird das Alltägliche zu einem Boden, auf dem man sich andere Lebensweisen vorstellen kann: weniger spektakulär als Revolutionen oder Durchbrüche, aber nicht weniger bedeutend.
Widerstand in Gärten, Küchen und Nachbarschaften
Literatur in Lateinamerika ist oft selbst eine Form der Handlungsfähigkeit – sowohl in ihrer Vermittlung als auch in ihrem Ausdruck. Sie kann einen ‚langsamen Widerstand‘ gegen ‚langsame Gewalt‘ verkörpern: eine geduldige, beharrliche Ablehnung, die sich in der täglichen Praxis des Erzählens und Wiedererzählens der Auswirkungen von Meistererzählungen auf das Leben der Menschen, die von der Geschichte des globalen Fortschritts betroffen sind, entfaltet.
Wie sieht der Kapitalismus aus, wenn man ihn durch eine Küche, eine Straßenecke oder einen durch Umweltverschmutzung geschwächten Körper betrachtet? Wie überschneidet sich das globale Streben nach ‚Entwicklung‘ mit den täglichen Kämpfen einfacher Menschen? Die Literatur Lateinamerikas bietet ein Vokabular, um anders über Fortschritt nachzudenken. Sie verankert abstrakte Systeme im konkreten Leben. Sie macht die Verbindungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen, dem Spektakulären und dem Alltäglichen sichtbar. Während imperiale und kapitalistische Logiken eine großartige Zukunft versprechen, erinnert uns die lateinamerikanische Literatur daran, dass die wünschenswerte Welt von morgen nicht allein aus Laboren oder politischen Verträgen hervorgehen wird.
Sie wird auch in Gärten, Küchen und Nachbarschaften gepflegt werden, nämlich in den alltäglichen Praktiken, die sich der Herrschaft widersetzen und Solidarität fördern. Wenn wir diese Erzählungen verstärken, beginnen wir, die langsamen, stetigen Beiträge zu hören, die uns in eine lebenswerte Zukunft führen könnten.