Warum die “brachliegenden Landschaften” im Osten die “blühenden Landschaften” des Kapitals sind

Die Logik des Kapitals kommt paradigmatisch im Osten zur Geltung: Statt “blühender Landschaften”, gibt es “brachliegende Landschaften”. Die fast verwahrlost wirkende Unfertigkeit des Gebiets ist allerdings kein Anzeichen von Scheitern, sondern, wie der Aktivist und Autor Christoph Marischka zeigt, Ausdruck jener „schöpferischen Zerstörung“, welche der Idee von Expansion und Disruption zugrunde liegt. Eine Suchbewegung von Warschau über Leipzig bis Bergkarabach.

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Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der damals im Aufbau befindlichen EU-Grenzschutz-“Agentur“ Frontex beschäftige ich mich seit gut fünfzehn Jahren mit Wissenschaftsgeschichte und Technologie-Produktion. Denn anders als zunächst gerade von Kritiker*innen befürchtet und beklagt, war die 2004 gegründete EU-Grenzschutzbehörde v.a. in den frühen Jahren keine paramilitärisch organisierte Polizeibehörde zur Führung martialischer Grenzschutz-Einheiten, sondern primär ein Apparat zur Wissens- und Technologie-Produktion. Die Herstellung von Wissen bestand u.a. darin, Migration nicht erst an den EU-europäischen Außen- und Binnengrenzen zu detektieren, zu klassifizieren und zu illegalisieren, sondern – in bis heute andauernder, konsequenter Ausblendung von Fluchtursachen – bereits im Vorfeld der Grenzübertritte als Ströme zu konzipieren, zu kriminalisieren und Strategien zu deren Bekämpfung zu elaborieren.

Ein explizites Ziel der von Frontex wesentlich koordinierten Forschungsförderung der EU-Kommission bestand darin, große und sogenannte „mittelständische“ Unternehmen, staatliche und staatsnahe Forschungseinrichtungen, Universitäten und „Anwender*innen“ – darunter sogenannte „Grenzschutzbehörden“ und Polizei – in gemeinsame Projekte/Cluster zu integrieren. Der Wissenschaft hat dies einen Bärendienst erwiesen: Anstatt neue, von ihr entwickelte Sensorik zur Erforschung unserer Welt und ihrer Geschichte einzusetzen, wurden die Wissenschaftler*innen angehalten, sie zur Erkennung blinder Passagier*innen und Detektion von Flüchtlingsbooten nutzbar zu machen.

Die heute wieder überwiegend in die Neurologie, Kognitionswissenschaften und teilweise Bio-Informatik aufgegangene psychologische Forschung ist weniger auf neue Erkenntnisse über das tatsächliche Wahrnehmen, Denken und perspektivische Wohlbefinden von Mensch und Tier ausgerichtet, als der Ausbeutung dieser Prozesse zugunsten von Technologien der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“, die im Dienste einer ebenso vage umschriebenen „Sicherheit“ allzu oft gegen Menschen eingesetzt werden – zumindest, wenn diese den falschen oder keinen Pass besitzen. Was haben CO2-Sonden und Satelliten wirklich mit dem Phänomen der Mobilität zu tun? Erklären sie es oder transformieren sie es?

Technologie prägt nicht nur Mobilität, sondern auch Räume. Verkehrs- und Kommunikationsmittel definieren seit Jahrtausenden die Reichweite und Struktur politischer Herrschaft – und erzwingen diese. So ist die Bildung riesiger geopolitischer Blöcke im Kalten Krieg wesentlich auf die Verfügbarkeit atomarer Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen bzw. die Möglichkeit ihrer Abwehr zurückzuführen: „Um effektiv zu sein, mussten diese Infrastrukturen eine gewaltige geografische Reichweite haben, womit Allianzen über möglichst große Teile der Erdoberfläche ein essentieller Teil militärischer Strategie wurden“, so Per Högselius et al. in ihrem Buch „Europe’s Infrastructure Transition – Economy, War, Nature“.

Vom Streitwagen über die Atombombe bis hin zu den von der Bundeswehr genutzten, aber in Israel stationierten Drohnen waren Militär und Krieg stets wesentliches Vehikel der Übersetzung von Technologie in Herrschaft und Räume. Die kritische Militärgeografie veranschaulicht die Genesen und Transformation solcher „militärischer Landschaften“ sowohl großräumig z.B. anhand der räumlichen Verteilung von Militärbasen und (Kommunikations-)Infrastruktur, als auch kleinräumig, indem z.B. die Auswirkungen der Präsenz von Rüstungsunternehmen und Kasernen auf das zivile Umfeld – Stadtplanung, Freizeitangebote, Diskurse, Geschlechterverhältnisse, öffentliche Gesundheit usw. – untersucht wird. Beispielhaft sei hier das hervorragende Buch „Homefront“ von Catherine Lutz genannt, in dem sie das Wechselspiel zwischen Geopolitik, der Kaserne Fort Bragg und der sie beheimatenden Gemeinde Fayetteville (North Carolina) über neun Jahrzehnte hinweg untersucht und nachgezeichnet hat.

Technologische Landschaften

Man könnte die Frage aufwerfen, ob man im Hinblick auf Orte der Technologieproduktion analog von technologischen Landschaften sprechen könnte oder gar sollte. In den letzten Jahren ist jedenfalls umfangreich Literatur auf den Markt gekommen, welche die Entwicklung des Silicon Valley in den vergangenen Jahrzehnten nachzeichnet, das als räumlicher Ursprung technologischer Innovationen gilt, die weltweit den Alltag von Menschen verändert und erschüttert haben. Beispielsweise „The Code“ von Margaret O’Mara, „Surveillance Valley“ von Yasha Levine, „Technopolis“ von Katja Schwaller.

Aus dieser Auseinandersetzung heraus, also einerseits der „sicherheitspolitisch“ motivierten und forcierten Kooperation zwischen großen Rüstungsunternehmen und Hochschulen, Behörden und KMUs einerseits und der Vorstellung technologischer Landschaften und all ihrer subtilen lokalen Nebenwirkungen andererseits heraus habe ich verschiedene Orte besucht, die als „Cluster“, „Froschungscampi“ usw. als „Räume der Verdichtung“ und Technologieentwicklung sich anschickten, internationale „Strahlkraft“ zu entwickeln und – vergleichbar mit dem Silicon Valley – unsere Zukunft zu formen. Ich habe mich dabei leiten lassen von den Pressemitteilungen renommierter Universitäten, die im Einklang mit weltbekannten Unternehmen und oft auch einer eher unbekannten Investment-Struktur die Zukunft dieses oder jenes Technologieparks beschwört hatten.

Der wiederkehrend überraschende Eindruck vor Ort stand dazu für mich zunächst in einem scharfen Kontrast und war meist eine Mischung aus Ernüchterung und Erleichterungen: Gegenüber den großspurigen Pressemitteilungen sahen die jeweiligen Forschungscampi öde und vernachlässigt aus. Hier und da standen Neubauten (oft irgendwas mit Airbus). Dazwischen parkten Bagger und anderes Baugerät neben Schutt- und Kieshaufen sowie eingewachsenen, umgefallenen Bauzaun-Elementen.

Es dominierten Brachflächen mit dem dafür typischen, knapp unter hüfthohem Bewuchs. Irgendwo endete ein neu gebauter Kreisverkehr in drei Richtungen in Geröll. Am Rand ein Neubau mit einem (transparenten) Schild, auf dem ein oder zwei Dutzend Unternehmen Präsenz reklamieren. Die meisten sind unbekannt und werden es auch bleiben. Andere sind (neu eingekaufte) Tochterunternhemen/Abteilungen von Siemens, Bosch, Airbus, Atos, oder irgendeinem anderen, unbekannten Branchenriesen. Vieles davon sind Immobilienkanzleien und/oder Steuerberatungen. Auf ihren Briefkästen kleben dann wiederum zehn bis zwanzig Namen. Woanders würde man wohl „Briefkastenfirmen“ dazu sagen, über Korruption und Steuervermeidung herziehen. Hier ist es die Zukunft: Innovation, Disruption.

So sieht Disruption heute aus, für die entsprechende „Ökosysteme“ aufgebaut werden: sie beginnt mit öffentlich finanzierter Forschung und Seminaren zur Entrepreneurship im Grundstudium. Daraus entsteht irgendeine Geschäftsidee, die patentiert wird und damit ein Aufkleber auf dem Briefkasten einer Steuerkanzlei auf einer Brachfläche, die mal ein Technologiepark werden soll. Dann folgen Präsentationen, Fördergelder aus den Startup-Töpfen zunächst der Uni und der lokalen Wirtschaftsförderung, „Pitch Coachings“, weitere Präsentationen, Networking, Fördermittel auf regionaler, Landes- und Bundesebene. Dann folgen „Finanzierungsrunden“, das Anklopfen beim Risiko-Kapital: In der ersten geht es um ein- bis zweistellige Millionenbeträge, in der zweiten um zwei- bis dreistellige Millionenbeträge – natürlich nur für diejenigen, die erfolgsversprechend sind, sich so darstellen können oder die im nationalen Interesse liegen.

Ein wesentlicher Akteur ist dabei die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Im Auftrag des Bundes hält sie aktuell u.a. Anteile im Wert von 300 Millionen Euro am notorisch hinter seinen Ankündigungen zurückbleibenden deutschen Impfmittelhersteller CureVac. 2018 hatte die KfW die deutsche FinTech-Hoffnung Wirecard mit einem 100-Millionen-Kredit unterstützt, von dem nach Auffliegen der Bilanzfälschungen 90 Prozent abgeschrieben werden mussten. Bei der als Aktiengesellschaft aus dem Rüstungskonzern Airbus ausgegliederten Elektroniksparte (Hensoldt) ist die KfW mit einer Sperrminorität von 25,1 Prozent eingestiegen, um sie dem Zugriff „unfreundlicher Mächte“ zu entziehen. Über die KfW Capital GmbH stellt sie jährlich ca. 200 Millionen Euro für Risiko-Kapitalfonds zur Verfügung, um „jungen innovativen … (Technologie-)Unternehmen in Deutschland… besseren Zugang zu Kapital zu ermöglichen“. Mit Coparion stellt sie auch einen eigenen solchen Fonds für Risikokapital.

Fields of Disruption

Erst langsam wurde mir klar, dass die fast verwahrlost wirkende Unfertigkeit der besuchten Technologieparks kein Anzeichen von Scheitern war, sondern Ausdruck jener „schöpferischen Zerstörung“, welche der Erschließung, Entwicklung und Disruption zugrunde liegt. Das Risikokapital braucht Brachflächen, eine Tabula Rasa sozusagen. Ein Technologiepark, der vollgebaut ist, hat keinen Reiz mehr: Da ist kein Platz mehr für Ideen und Investitionen. Der Entrepreneur liebt die leere Fläche, wo seine Ideen wachsen können. Erste Neubauten am Rande allerdings unterstreichen, dass Entwicklungspotential und eine gute Anbindung an Verkehr, Wasser, Strom und Breitband zumindest in Aussicht stehen. Auf derart erschlossenen Brachflächen entstehen die „Ökosysteme“ für „blühende Landschaften“ der Technologieentwicklung. (Ob das Bundesministeriums für Bildung und Forschung dies 2010 im Sinne hatte, als es zur Förderung der Osteuropaforschung sein „Kompetenznetzwerk Institutionen und institutioneller Wandel im Postsozialismus“ aufbaute und ihm das Akronym „KomPost“ verlieh?)

Als Bundeskanzler Helmut Kohl den „neuen Bundesländern“ 1990 versprach, sich in „blühende Landschaften“ zu verwandeln, meinte er damit den Aufbau neuer Industrien und Wertschöpfungsketten und nicht die Büsche und Gräser, die sich schon bald auf den Ruinen der abgewickelten Betriebe ausbreitend sollten. Dass es zunächst doch Pflanzen waren, die sich mit der wachsenden Arbeitslosigkeit ausbreiteten, rief voreiligen Spott hervor. Andere witzelten über „beleuchtete Wiesen“ und spielten damit auf die neuen Infrastrukturprojekte an, bei denen im Straßen, Parkplätze und Laternen als Rückgrat von Dienstleistungs- und Industriegebieten aus dem Boden gestampft wurden, deren Entwicklung länger auf sich warten ließen und lassen, als zunächst in Aussicht gestellt.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie zu Beginn des Milleniums im Leipziger Umland zwischen den Ortschaften überall überdimensionierte Baumärkte, Einkaufszentren und dazugehörige Parkplätze auf Kundschaft warteten – u.a. deshalb, weil sie für die ansässige Bevölkerung kaum zu erreichen und mangels Kaufkraft auch nicht besonders attraktiv waren. Auch hier hat man voreilig über ein Scheitern spekuliert und dabei übersehen, dass das dort beschäftigte Personal mit seinen niedrigen und subventionierten Löhnen vielleicht nicht unmittelbar Profit erwirtschaftete, aber zugleich eine der wichtigsten Ressourcen – Grund und Boden – den Besitzer gewechselt hatte, privatisiert wurde.

Auch hier spielte die Kreditanstalt für Wiederaufbau eine herausragende Rolle. In einer Pressemitteilung vom 29. September 2015 feiert sich die KfW – illustriert mit einem Feuerwerk am Brandenburger Tor – dafür, in den vergangenen 25 Jahren den „Wiederaufbau in den Neuen Ländern“ mit der unglaubliche Summe von 194 Milliarden Euro gefördert zu haben. Somit stamme „jeder zehnte seit 1990 in Ostdeutschland investierte Euro“ von der KfW. Demnach flossen 22 Milliarden Euro der KfW in kommunale Infrastruktur, 68 Millionen Euro in die Moderniesierung und Sanierung von Wohnraum und 104 Milliarden Euro in die gewerbliche Wirtschaft.

Dass diese „Förderung“ eigentlich eine Enteignung und Umverteilung war, schildert Andrej Holm unter dem Titel „Parakoloniale Sonderzone“ (Telegraph #137/138) u.a. am Beispiel des Eigentums an Wohnimmobilien: Während in Westdeutschland 55 Prozent der Haushalte zur Miete wohnen, sind es in Ostdeutschland fast 70 Prozent, wobei über 40 Prozent der Mietwohnungen in Ostdeutschland von Eigentümer*innen bewirtschaftet werden, die nicht selbst in Ostdeutschland leben. 26 Prozent der Wohnungen ist Ostdeutschland werden von Unternehmen und Fonds verwaltet, während dies in Westdeutschland nur für 12 Prozent gilt. Für die gewerbliche Wirtschaft wird u.a. dargestellt, dass nicht einmal 13 der fast 1.300 Millionen, die deutsche Unternehmen im Ausland investieren, aus Unternehmen stammt, die ihren Sitz in Ostdeutschland haben.

Roboterkrieg

Eines der menschenverachtendsten Projekte, welches die EU-Kommission zur Umsetzung des von Frontex entworfenen Integrated Border Management (IBM) in Auftrag gegeben hat, firmiert unter dem Kürzel TALOS: „Transportable Autonomous patrol for Land bOrder Surveillance“. Es erforschte den Einsatz von Bodenrobotern zur Detektion und zum Abfangen illegalisierter Grenzgänger*innen. Koordiniert wurde es vom polnischen Forschungsinstitut für Automatisierung und Messung (PIAP), das seinen Hauptsitz – wie Frontex – in Warschau hat und auf der Homepage antiterrorism.eu seine zahlreichen (Kampf-)Roboter für militärische und polizeiliche Anwendungen anbietet. Polen entwickelt sich gerade bei ethisch zweifelhaften Anwendungen neuer Technologien insgesamt zu einem Spielfeld westeuropäischer Unternehmen und Grenzschutz-/Überwachungsphantasien.

Unterstützt wird dies einerseits durch ein überdimensioniertes nationales Weltraumprogramm, andererseits durch die polnische Eigenheit so genannter Sonderwirtschaftszonen, die von Köperschafts- und Gewerbesteuern weitgehend befreit sind, auf denen „Investitionen“ aus dem In- und Ausland gefördert werden und die Schneisen der High-Tech-Industrie durch landwirtschaftlich geprägte Regionen schlagen. Neben PIAP erhielten durch TALOS die türkischen und russischen Rüstungsunternehmen Aslesan und IAI (Israel Aerospace Industries) die umfangreichste Förderung von der EU-Kommission. Deutlich weiter im Osten haben deren Produkte/Technologien im Herbst 2020 eine wesentliche Rolle im Krieg um Bergkarabach gespielt: Mithilfe des Systems „Koral“ von Aselsan wurde die armenische Luftabwehr ausgeschaltet und so das Schlachtfeld vorbereitet für den Einsatz der Kamikaze-Drohnen „Harop“ von IAI, dem übereinstimmend eine Schlüsselrolle beim raschen und vernichtenden Sieg Aserbaidschans zugeschrieben wird.

Ein Kommentar zu “Warum die “brachliegenden Landschaften” im Osten die “blühenden Landschaften” des Kapitals sind

  1. sehr informativ – ich kann mit diesen runduminfos viele lücken
    in meinem wahrnehmungsarsenal schließen! inspirierend auch das
    buch über den geplanten techpark in tübingen. da mein ich mein
    englisch vernachlässigte, hänge ich am tropf vertauenswürdiger
    infos wie diesem. vielen dank…
    …aus dem schwarzroten staub
    subberkuhl

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