Krisenreflexe

Wenn ich mich in das Bild der >Verfluessigung des Sozialen< hineintreiben lasse, dann trifft mich die ganze Wucht eines Strudels der Aufloesung hierarchischer Ordnungen, die ich in meinem Buch >Dystopia< beschrieben habe. Die gegenwaertige Finanz- und Wirtschaftskrise macht dies noch einmal verstaerkt deutlich: Weder nationale Schutzwaelle noch andere Autoritaeten koennen die Flut der globalen Verstrickungen aufhalten. Ploetzlich sitzen alle in einem Boot, welches ohne Steuermann und scheinbar auch ohne Ruderer dahin treibt, und sie sehen sich der unbegriffenen Dynamik eines Malstroms ausgesetzt.

Vielleicht haben wir alle nicht begriffen, dass dies die laengst faellige Sintflut ist, welche die Hybris einer Verfestigung der Welt in konsolidierte Nationalstaaten in Frage stellt und die Option einer Verfluessigung eroeffnet. Auf festem Boden erscheinen die Orte noch wichtig, aber seit dem Ende des physiokratischen Zeitalters koennte die Einsicht reifen, dass Ortlosigkeit nicht Bedrohung meint, sondern Befreiung von der Schwere des Bodens und territorialer Gewalt. Manuel Castells beschreibt die >flows<, welche die fliessende Basis einer Informationsgesellschaft bilden, die erst beginnt zu begreifen, dass es dieses Fliessende ist, was ihr Form und Richtung gibt, und nicht mehr das vermeintlich Stabile des Territoriums. Nimmt man hinzu, dass eine globale Wissensgesellschaft ihre Gestalt fundamental den frei fluktuierenden Stroemungen des Wissens schuldet, dann koennte einleuchten, dass es wieder einmal darum geht, die Gesellschaft von bleiernen Fuessen auf den Kopf zu stellen und ihr die Freiheitsgrade zuzugestehen, die sie sich mit der Loesung von der Dominanz des Territoriums eroeffnet hat. Dies ist der Kern einer atopischen Gesellschaftsidee. Sie macht denkbar, dass die verhaengnisvolle Bindung von Gesellschaft an die Grenzen von Territorien aufgeloest werden kann, wenn wir die Angst ueberwinden, uns auf die Weite des Meeres zu wagen. Diese Angst ist umso realer, je schlechter die Erfahrungen mit Wasser sind. Ich selbst bin als 17-jaehriger Austauschschueler mit dem Schiff ueber den Atlantik gefahren und habe die Ankunft in New York als verstoerende Ambivalenz erlebt: die froehliche Anarchie des Schiffes und eines endlosen Horizontes schien bedroht von den Zwaengen des festen Bodens, obwohl dieser doch mit einer Freiheitsstatue ausgezeichnet war. Viel spaeter hat mich der Film >Waterworld< mit Kevin Costner daran erinnert, wie schwer es fuer Landbewohner ist, sich der Ortlosigkeit des Meeres und dem Atopia einer fluiden Netzwerkgesellschaft auszusetzen. Die gegenwaertige Ordnungskrise verstaerkt diesen Reflex der Wasserscheuen. Sie scheint denjenigen Recht zu geben, die auf die Verlaesslichkeit des territorial Abgegrenzten pochen, obwohl es doch der ueberaus leichtsinnige und skrupellose Umgang mit dem Wert der Hypotheken auf Territorien war, der als Ausloeser der Finanzkrise gelten muss. Genau dies ist das Dilemma aller Wasserscheuen: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Will heissen: lass mich von den fluiden >global flows< von Ressourcen und Wissen profitieren, aber befreie mich von allen Risiken, die damit verbunden sind. Ich begleite oefters meine Enkelkinder [im Alter von knapp ueber einem Jahr] zum Babyschwimmkurs. Das hat mich gelehrt, diese ganz unmittelbare Gleichzeitigkeit von schrecklicher und erschrockener Faszination zu sehen, wenn sie ploetzlich den Boden unter den Fuessen verlieren - und dennoch nicht untergehen, weil sie gehalten werden. Vielleicht geht es angesichts von Atopia darum, Einrichtungen zu schaffen, die das Vertrauen in neue Haltepunkte geben koennen - auch dann, wenn der so vertraute Boden nachgibt.

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