Vieles spricht dafuer, dass die Intelligenz der Zeitungsleser in so dramatischer Weise zunimmt, dass sich die Medienlandschaft ganz und gar veraendern wird. Der Medienaktivist und Kunstkritiker Gerrit Gohlke verschafft sich einen Überblick.
Den Lesern ist einfach mehr zuzutrauen. Man fordert sie deshalb mehr. Man bietet Faehrten statt Fakten. Man druckt, was man findet. Der Leser muss die ausgeschuetteten Informationen ordnen. Er ist sein eigener Redakteur. Das Modell des traditionellen Journalismus mit seinen skeptischen Relativierungen und Gegenperspektiven hingegen scheint ueberholt und wird nur noch in Reservaten gepflegt. Vereinzelte Zeitungen, versprengte Redakteure warnen vor Mutmassungen noch mit Konjunktiven oder halten zwischen Behauptungen und Beweisen einen Sicherheitsabstand ein.
War bis zum 11. September 2001 noch klar, dass nur die Rubrik >Vermischtes< eine erlaubte Schnittmenge zwischen Boulevard und Buergerblaettern sei, garantiert seither auch ein etablierter Mediengeschmack keine Eindaemmung der Sensationen mehr; man kauft fast nur noch Vermischtes. Nicht die Kommentarsprache hat sich dabei veraendert, sondern der Begriff der Nachricht. Es herrscht nicht nur ein >permanenter Krieg gegen den Terror<, sondern ein ununterbrochener Ausnahmezustand der Spekulation. Nebuloese Verlautbarungen werden mit Indikativen zu Fakten verwandelt. >Unspezifische< Geheimdienstwarnungen von Seite 1 werden bereits auf Seite 2 als Beweismittel fuer existierende Gefahren recycelt, und Alarmmeldungen ueber die allgemeine Gefaehrdung der Seeschiffahrt durch in Containern reisende Terroristen oder vom Grund her angreifende Taucher werden weder eingeordnet noch bezweifelt. Die >US-Regierung hat unbestaetigte und unvollstaendige Informationen, die den Schluss nahe legen, dass unbekannte Terroristen moeglicherweise einen terroristischen Vorfall planen, der eventuell Handlungen gegen die Zivilluftfahrt einschliesst<, schrieb am 17. Mai der Reuters-Redakteur in realsatirischer Notwehr aus einem Ministeriumsbulletin ab. Kurz darauf warnten die Magazinschlagzeilen vor einer Anschlagsgefahr. Im eisernen Indikativ erzaehlt uns die Frankfurter Allgemeine, wie man >Terroristen< mit kriminellen Banden durch Europa schleust, nur weil ein >Warnschreiben< auf der Grundlage >uebereinstimmender Erkenntnisse von Europol und Interpol< acht Wochen zuvor diesen Verdacht enthaelt. Dass ueberhaupt Krieg herrscht, ist unter diesen Bedingungen nicht mehr diskutierbar. Die Nachrichtendossiers werden mit der Marketingkategorie >Krieg gegen den Terror< und den New Yorker Truemmern dekoriert als sei eine solche Emblematik der Wahrheitsbeweise fuer den permanenten Verteidigungsfall. Die fotografischen Dokumente des 11. September sind wie Urbilder abrufbar und verknuepfen jeden der geheimnisvollen Feindberichte mit den Toten des Anschlags. Mythisch ist nicht das entsetzliche Schicksal der Opfer. Mythisch ist der symbolische Gebrauch, den man von ihnen macht und durch den ein weltweites apokalyptisches Szenario zu einem politischen Machtmittel wird, weil den Bildern selbst nicht zu widersprechen ist. So geraet die Berichterstattung unweigerlich unter die Praemissen des >Angriffs auf Amerika<, waehrend die Ermittlungsbehoerden noch verlegen von den >Ungewissheiten statistischer Schaetzungen< sprechen. Was bleibt dem Leser? Ich deute die apokalyptische Mythos-Stiftung der Redaktionen als Appell an meine Counterintelligence. Es ist aergerlich, dass ich nun Desk-Redakteur des Spiegel und skeptischer Dokumentarist der Sunday Times in Personalunion bin. So viele Jobs bei so wenig Zeit. Aber ich schaue mit einer mir bisher fremden Paranoia auf jede Meldung, drehe und wende sie und traue keinem Bild. Ich lese in schmerzlichem Fieber alle Meldungen nacheinander und an normalen Tagen heben sie sich abends gegenseitig auf. Nur die ganz irrsinnigen Dramen praegen sich mir unausloeschlich ein. Hat nicht die britische Presse neulich berichtet, wie die Royal Marines mangels talibanischem Feind ein Gefecht allein fuer die gelangweilte Presse als Simulation inszenierten? Der Kommandeur ist wegen offensichtlicher Regiefehler bei der Geheimhaltung auf dem Rueckweg nach London. Ich aber warte unverdrossen auf die Landung der Terroristencontainer. Meine neuen Nachbarn haben schon eine Fussmatte mit dem Aufdruck CIA. Der 11. September ist der Ground Zero der oeffentlichen Meinungsbildung. Paranoia kann uns retten.
Ein Kommentar zu “Kriegsmythen und Post-9/11: Was bleibt dem Leser?”