Mein Leben spielt sich zwischen Europa, den USA and Lateinamerika ab. Die Kontraste zwischen den drei Welten lassen sich folgendermassen skizzieren: In den USA, selbst in Expertenkreisen lateinamerikanischer Kultur, erlebe ich groesste Gleichgueltigkeit, Desinteresse und manchmal auch Zynismus gegenueber der tragischen Geschichte Suedamerikas. Ueber Kolonialismus darf man nicht diskutieren. Ueber die innerlich und aeusserlich unterminierte lateinamerikanische Souveraenitaet im 19. wie im 20. Jahrhundert kann man nicht reden. Selbst ueber besondere Aspekte in Literatur und Kunst, sagen wir die Einsicht in die geistigen, kosmologischen und sozialen Dramen der literarischen Welt eines Juan Rulfos, Jose Maria Arguedas oder Joao Guimaraes Rosa wird eigentlich nicht gesprochen.
An der Universitaet betreibt man eine banale, pseudowissenschaftliche Soziologie. Heute diskutiert man in der New York University oder der Duke University, ob >die Untergebenen sprechen duerfen oder nicht< - eine Diskussion, die sich nur mit der theologischen Debatte in Spanien im 16. Jahrhundert vergleichen laesst, wo man die Frage aufwarf, ob Indianer eine Seele haetten oder seelenlos seien. In Europa sieht es in diesem Zusammenhang nicht besser aus. Fuer Europaeer gilt Lateinamerika als ein nordamerikanischer >Bereich<. Mit Ausnahme Spaniens fuehlen sie sich kulturell als auch sprachlich fremd in der lateinamerikanischen Welt. Sie konsumieren gerne den so genannten Magischen Realismus, ein absurder Begriff, den einst die deutsche Kunstkritik der zwanziger Jahre gepraegt hat. Wenn sie sich progressiv praesentieren wollen, kehren sie einfach diesen exotischen Realismus um: statt sonnenhafte Palmen erotisieren sie verschiedene Gewaltszenen der Region, die teilweise europaeische Koerperschaften befuerworten. In Spanien ist es anders, weil die spanische Kultur die eigene Stellung gegenueber Amerika nie kritisch in Frage gestellt hat. Dort gelten noch immer fragwuerdige Darstellungen von Rasse und kultureller Ueberlegenheit und es herrscht voellige Ahnungslosigkeit. Was ich heute in Lateinamerika wahrnehme, ganz gleich, ob ich mit meinen Freunden in Oaxaca spreche, Oeko- und Human Rights-Aktivisten im Amazonas-Gebiet besuche oder einen Vortrag ueber Avantgarde, sagen wir in Quito, halte, ist ein verzweifelter Kampf gegen einen brutalen Druck, den die neuen Kolonialmaechte der Ersten Welt auf allen Ebenen des Lebens ausueben: Von den Denkmethoden, die die >Global Universities< Nordamerikas empfehlen, bis zu den Weltbankstrategien einer sich stetig vergroessernden Armut. Richtig, es gibt, wie die Berliner Gazette in ihrer Fragestellung zum Themenschwerpunkt >Zeitgeist< formuliert, einen >Zeitunterschied zwischen diesen Regionen, der durch die Zerstoerung der Unterschiede auf kultureller und sozialer Ebene im Zuge der sich ausbreitenden Globalisierung verloren geht<. Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich empfinde das Reden ueber die >Unterschiede< als allzu nominalistisch. Wenn ich dieses Woertchen bei meinen Kollegen hoere, die sich sonst ueber die stetige Zerstoerung von Kulturen in Lateinamerika, seien es uralte sprachlich vermittelte Mythen, seien es die intellektuellen kritischen Traditionen im 20. Jahrhundert, ueberhaupt nicht kuemmern, dann wird mir ganz uebel. Letzendlich weiss man eigentlich nicht, was man darunter versteht, und oft habe ich den Verdacht, dass man darunter ueberhaupt nichts versteht. Und troztdem gibt es sicherlich Unterschiede zwischen der zyklischen und kosmologischen Zeitempfindung der vor-christilichen und vor-kolonialen Kultur Amerikas und der christlichen Zeitkonzeption. Diese ist linear und versteht sich entweder als apokalyptischet Fortschritt zum Reich Gottes oder als eine abstrakt saekularisierte Endzeit. Als die christliche Kolonialmacht die Kulturen Amerikas eroberte, entsublimierte sich dieser >Unterschied< zu einer Katastrophe. Das erste, was die Soldaten-Missionare tatsaechlich zerstoerten, war die Zeitrechnung, die Kalender und die Symbole deren kosmologischer Ordnung. Damit ging nicht nur die beruehmte Verschiedenheit zu Grunde. Was vor allem zu Grunde ging, war etwas viel Radikaleres: der biologische und geistige Seinsgrund einer Gesellschaft, einer Kultur, oder wenn Sie es so nennen wollen: der amerikanischen Zivilisation. Das habe ich vor allem in meinem Buch >El continente vacio< [>Der leere Kontinent<] versucht nachzuvollziehen. Die Kolonisierung Amerikas wurde und wird deswegen heute noch als eine >apokalyptische< Zerstoerung empfunden. Wie auch immer, das >Ende der Welt< ist kein Phaenomen, das mit einer anderen Zeit als der des christlich-apokalyptischen Konzepts des Fortschritts zusammenhaengen wuerde. Es ist ein Phaenomen des fundamentalen Bruchs, der sich in allen erdenklichen Ebenen des Seins manifestiert – moralisch oder oekologisch. Die Hopis haben ein wunderschoenes Konzept, diese Phaenomene, die so sehr in unserer Zeit verbreitet sind, zu beschreiben: koyaanisqatsi. Es verweist auf einen Zustand, in dem Sein in seiner Gesamtheit zusammenbricht; in ein Leben in Aufruhr, Zerfall und Unordnung.