Seit Ende der 2000er Jahre wird (Neo-)Extraktivismus aus wirtschaftlichen Gründen in rohstoffreichen Ländern wie Chile und Ecuador gefördert. Christine Löw und Tanja Scheiterbauer dekonstruieren diesen Trend als gewalttätiges Erbe des Kolonialismus und argumentieren, dass extraktivistische Gewalt als geschlechtsspezifisch verstanden werden muss.
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Im März 2016 wurde die honduranische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres in ihrem Zuhause von Soldaten des Militärs ermordet. Die gezielte Tötung dieser wichtigen ‚Verteidigerin des Lebens‘ (span.: defensora de la vida) und Mitbegründerin des Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras (COPINH) ist kein tragischer Einzelfall. Bekannt wurde ihr Widerstand gegen das Wasserkraftprojekt Agua Zarca am Fluss Gualcarque, der für die indigene Lenca-Gemeinschaft sowohl ökonomisch als auch spirituell und kulturell bedeutsam ist. Der geplante Staudamm hätte den Wasserzugang eingeschränkt, landwirtschaftliche Flächen zerstört und Lebensgrundlagen bedroht.
Dieser Feminizid steht in einer Kontinuität von Einschüchterung, rassialisiert-sexistischer Kriminialisierung und Gewalt gegen jene Umweltaktivist*innen und indigenen Gemeinschaften im Globalen Süden, die Wälder, Flüsse, Berge und Land gegen extraktivistische Großprojekte verteidigen. Gewaltsam vorangetrieben werden letztere von transnationalen Konzernen, Regierungen, lokalen Eliten und privaten bzw. staatlichen Sicherheitskräften im Namen von ‚nationaler Entwicklung‘ oder in jüngster Zeit von ‚grüner Transformation‘. Feministische Aktivist*innen, Forscher*innen und NGOs weisen auf die spezifischen Gewaltformen gegen Frauen* hin, die mit Bergbauprojekten, Erdölförderung, großflächiger industrieller Agrarproduktion (Soja- oder Palmöl), also mit Rohstoffproduktion für Export und Weiterverarbeitung in neuen (z.B. China) und alten (z.B. Europa) industrialisierten Zentren verbunden sind. Extraktivistische Gewalt muss als vergeschlechtlicht verstanden werden, um die strukturellen Gewaltmuster adressieren zu können, denen diese Aktivist*innen ausgesetzt sind.
In unserer Forschung beschäftigen wir uns damit, wie Extraktivismus als Entwicklungsmodell vergeschlechtlichte Macht- und Gewaltverhältnisse hervorbringt und die Kolonialität von Natur in veränderter Weise fortschreibt. Wir begreifen geschlechtsspezifische Gewaltformen in extraktivistischen Territorien ausdrücklich nicht isoliert als Elemente lokaler patriarchaler Kultur, als Folgen national-autoritärer Rohstoffausbeutung oder gar als Begleiterscheinung lokaler militarisierter Konflikte, sondern als Ausdruck einer historischen und andauernden Verflechtungsgeschichte von Kolonialismus und patriarchalem Kapitalismus.
Engendering Extraktivism
Seit Ende der 2000er Jahre wird (Neo-)Extraktivismus in rohstoffreichen Ländern ökonomisch vorangetrieben und ist äußerst umstritten. Er bezeichnet eine nationale und wachstumsorientierte Entwicklungsstrategie, in der die Generierung von Renten durch massiven An- und Abbau sowie Export von Mineralien, Öl, Gas, aber auch durch monokulturell angebaute Agrarrohstoffe politisch und ökonomisch bestimmend ist. Die Rohstoffe sind dabei vor allem für Weiterverarbeitung und Konsum in industrialisierten Zentren wie den USA, der EU, aber auch in China bestimmt.
Der jüngste ‚grüne Extraktivismus‘ fokussiert die Erschließung von Rohstoffen wie Lithium, Kobalt oder Seltene Erden für eine vermeintlich klimaneutrale Transformation der Wirtschaft und setzt dabei auf den Aufbau eigener nachhaltiger Industrien (z.B. Wasserstoffproduktion in Chile und Marokko), mit dem Ziel exportabhängige Positionen auf dem Weltmarkt ökonomisch sowie geopolitisch aufzubrechen. Extraktivistische Ökonomien erfordern enorme Land- und Waldflächen sowie Wassermengen und beruhen auf einer „Produktion ohne Reproduktion“. Land, Wälder und Wasser werden angeeignet, in dem gemeinschaftlich, kollektiv oder staatlich organisierte Besitz- und Nutzungsrechte in exklusive private Eigentumsrechte umgewandelt werden. Oft gehen diese Prozesse einher mit gewaltsamen Vertreibungen und Verschmutzung von Gewässern, Böden, Luft, die die Gesundheit und Ernährung der Communities in den extraktivistischen Territorien bedrohen. Forschungen und Aktivist*innen sprechen von systematischer Enteignung von Gemeingütern (dispossession).
Extraktivismus befördert ungleiche Geschlechterverhältnisse, geschlechtsspezifische Gewalt sowie die „(Re-)Patriarchalisierung der Territorien“: Häufig führen extraktivistische Unternehmen Verhandlungen über Landfragen vor allem mit den männlichen Mitgliedern der betroffenen Territorien und beschäftigen anschließend vor allem Männer* in Lohn- oder informellen Arbeitsverhältnissen. Die Entscheidungsmacht von Frauen* in den Gemeinden und in den Haushalten wird dadurch verringert und die finanzielle Abhängigkeit von entlohnter Arbeit oder staatlichen Unterstützungsleistungen steigt . Natur stellt jedoch mehr als abbaubare und verwertbare ‚Ressourcen‘ dar. Land ermöglicht z.B. Nahrungsmittelanbau für Eigenbedarf, Wälder liefern Tierfutter und Holz für Energieversorgung. Sauberes, zugängliches und kostenloses Wasser ist zentral für Ernährung und Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen.
Untersuchungen zeigen, dass 77 Prozent der Haushalte im Globalen Süden, darauf angewiesen sind, dass Land, Wasser und Wälder für die Nahrungsversorgung als commons zugänglich sind. Frauen* werden für diese Tätigkeiten der sozialen Reproduktion gesellschaftlich zuständig gemacht. Extraktivistische Projekte zerstören also durch Land- und Wassergrabbing oder Wasserverschmutzung nicht nur ökologische Grundlagen, sondern auch die Voraussetzungen für bedarfsökonomische (und weiblich konnotierte) Praktiken und damit verbundenes ökologisches Wissen.
Extraktivistische Gewalt und Widerstand
In lokalen anti-extraktivistischen Kämpfen stehen Frauenbewegungen und Frauen*netzwerke deshalb an vorderster Front zur Verteidigung von Lebensgrundlagen, Ressourcen und Rechten. So ist es dem National Network of Women in Defence of Mother Earth in Bolivien gelungen, das Achachucani Gold Mining Project zu stoppen. Die panafrikanische ökofeministische Allianz WoMin, 2014 als African Women against Mining gegründet, ist äußerst erfolgreich darin, umfassend Auswirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt von Bergbau und extraktiven Industrien zu politisieren sowie alternative Formen von Entwicklung zu fordern.
Frauen* werden aufgrund ihrer politischen Widerstandsformen zu Zielen geschlechtsspezifischer Formen von Gewalt wie körperliche Angriffe, sexualisierte Gewalt, Stigmatisierung, Online-Belästigung, Bedrohungen, sexualisierten Demütigungen. Auch UN Women oder NGOs wie Frontline Defenders belegen, dass Repressionstechniken systematisch geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind. Sie zeigen zudem, dass Unternehmen, Staaten und verbündete lokale Eliten dabei eine zentrale Rolle spielen. Der Begriff „extraktivistische Feminizide“ benennt diese tödliche, gegen Frauen* gerichtete Gewalt als strukturell und grundlegend für Konflikte um Extraktivismus.
Kolonialität der Natur
Die Kolonialität der Natur wird dabei auf zwei Ebenen sichtbar: Materiell beruhen die v.a. durch Investitionen aus den industrialisierten Zentren vorangetriebenen Transformationsvisionen zur Energiewende oder Dekarbonisierung auf globalen Stoffkreisläufen. Naturstoffe, die überwiegend aus ländlichen Regionen in den Ländern des Globalen Südens stammen – aber auch aus den Peripherien der BRICS-Staaten oder der EU – schreiben ungleiche internationale Arbeitsteilungen, finanzielle und technologische Abhängigkeiten und innergesellschaftliche Ungleichheiten bis in die Territorien, Körper und Arbeitsformen. Der Umwelthistoriker Héctor Alimonda schlägt deshalb den Begriff der Kolonialität der Natur vor, um auf die historische Gewordenheit und fortdauernde Wirkmächtigkeit der engen Verflechtung von kolonialer Raubökonomie, versklavter Arbeit, internationaler kapitalistischer Arbeitsteilung und dem modernen Naturverständnis zu verweisen.
Alimonda denkt damit neben der materiellen Ebene in der Zurichtung von Natur entlang kapitalistischer Inwertsetzungen auch die epistemische Ebene mit. Erst durch die Trennung von Mensch (als weißer Mann) und Natur als unterscheidbare Sphären, die mit der Etablierung moderner Wissenschaft begründet wurde, kann Natur zu einem unterscheidbarem Objekt und zu einer Ware werden. In dieser Sichtweise können Natur(en) samt der mit und in ihnen lebenden Gemeinschaften als Ware und als kommerzialisierbares Objekt geplündert, ausgebeutet und vernichtet werden. Territorien verkümmern in dieser Sichtweise von Lebensräumen zu Rohstofflagern. Deren Verheerungen durch extraktivistische Ökonomien erscheinen in den industrialisierten Zentren lediglich als externalisierbare ‚Kosten‘.
Dekolonial-feministische Ökologien
Angesichts der ökologischen Vielfachkrise ist jedoch die Verbundenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur nicht mehr zu leugnen. Marginalisierte und verdrängte Naturverständnisse, wie z. B. indigene Kosmovisionen und buen vivir (Gutes Leben für alle) in Abya Yala oder das auf dem afrikanischen Kontinent entwickelte Verständnis von ubuntu sowie verschiedene Formen von ökologischem Wissen, in denen Natur als lebendig, verwandt, mit den Menschen verbunden oder heilig gilt, sind deshalb essenziell für post-extraktivistische Zukünfte.
Gemeint sind damit Praktiken und Wissensformen, die von ontologischen Relationalitäten ausgehen, mehr-als-menschlichen Entitäten intrinsische Werte zusprechen und diese als kollektive Gemeingüter zur Sicherung der Lebensgrundlagen aller Menschen und der nicht-menschlichen Umwelt wahrnehmen können. Aktuelle Beispiele dafür sind Indigene, populare und communitario Feminismen im globalen Süden, die fordern, Erdölförderung im Nationalpark Yasuní im Amazonas Ecuadors als einem der artenreichsten Gebiete weltweit zu stoppen oder Trinkwasser für Lithiumabbau in der Atacama-Wüste Chiles nicht zum Versiegen zu bringen oder auch transnationale Netzwerke, wie WoMin, die in der Provinz Nordkap in Südafrika kollektives Land gegen grüne Wasserstoffprojekte europäischer Firmen und Staaten wie Deutschland verteidigen.
Diese anti-extraktivistischen Kämpfe von diversen Frauen*- und feministischen Bewegungen vereint der Widerstände gegen eine Kolonialität von Natur im 21. Jahrhundert. Diese zu überwinden gelingt nur, wenn menschliches Leben als verbunden mit und abhängig von nicht-menschlichem Leben betrachtet und als Voraussetzung für ein Überleben Aller anerkannt wird. Dieses NEIN zum Extraktivismus, das sich einer ‚grün‘ kaschierten Neuauflage der geschlechtsspezifischen Kolonialität von Natur widersetzt, gilt es in Allianz mit emanzipatorischen feministischen Bewegungen auch und gerade im globalen Norden laut und hörbar zu machen.