Im MORE WORLD-Interview spricht die in Bangkok lebende Forscherin Sara Vigil über die in Afrika und Asien vom Klimawandel ausgelöste Migration, die räuberische Aneignung von Land im Namen des Naturschutzes („green grabbing“) und die Rolle der Festung Europa in diesem Kontext.
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Sie haben sich mit der vom Klimawandel ausgelösten Migration aus der afrikanischen Sahelzone beschäftigt. Inwieweit hängen denn die gegenwärtigen Ursachen für Migration mit dem Klimawandel zusammen, und inwieweit unterscheidet sich diese Art der Migration von den in früheren Zeiten beispielsweise von eher „normalen“ Umweltkatastrophen ausgelösten Formen von Flucht, Migration und Vertreibung?
Der wesentliche Unterschied zwischen den früheren Umweltgefährdungen und den heute unter den Bedingungen des Klimawandels auftretenden Umweltgefährdungen ist, dass wir heute wissen, dass die Gefährdungen der Umwelt und des Klimas eindeutig auf bestimmte menschliche Handlungen zurückzuführen sind. Dadurch sind wir gezwungen, uns mit den zusätzlichen und wichtigen Aspekten von Gerechtigkeit und Verantwortung zu beschäftigen. Selbst die Vorstellung, dass solche Katastrophen „natürlichen“ Ursprungs sind oder von der Umwelt ausgehen, werden dadurch infrage gestellt.
Diese Katastrophen sind tatsächlich aus zwei Gründen nicht „Natur-Katastrophen”: Erstens fallen wegen des menschengemachten Klimawandels die Umweltgefährdungen heute stärker und heftiger aus als früher. Zweitens treten diese Gefährdungen gleichzeitig mit gesellschaftspolitisch erzeugten Ungleichheiten und einer Anfälligkeit für Risiken auf, welche erst dazu führen, dass sich Gefährdungen in Katastrophen verwandeln. Mit anderen Worten: Sowohl Stürme und Dürren als auch die die Menschen betreffenden Ungleichheiten und Anfälligkeiten sind gesellschaftlich und politisch erzeugt worden.
Inwieweit hängen denn die verschiedenen Umwelteinflüsse miteinander zusammen? Verstärken diese Zusammenhänge die Auswirkungen von Katastrophen? Verhindern sie auch, dass man die Ursachen für spezifische Formen von Flucht, Migration und Vertreibung leicht erkennen kann? Und falls dies zutrifft, auf welche Weise geschieht dies dann? Ist es immer noch sinnvoll, von einer klimabedingten Migration zu sprechen?
Man kann Umweltfaktoren nicht isoliert von all den anderen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und demographischen Faktoren betrachten, die zusammen die Realität der Migration ausmachen. Mehr als in früheren Zeiten hängen die diversen Gründe für Migration zusammen. Es ist daher nicht ganz passend, von „Klimamigranten“ zu sprechen. Selbst innerhalb einer bestimmten lokalen Bevölkerung, in der alle von den gleichen Umweltbedrohungen betroffen sind, hängt die Anfälligkeit für Migration und die Wahrscheinlichkeit einer Migration vom konkreten sozioökonomischem Status ab: Wer über mehr Ressourcen verfügt, kann sich sowohl vor Ort als auch durch Migration an die Umstände anpassen. Es gibt allerdings auch andere soziale Merkmale, die dabei eine Rolle spielen, beispielsweise das Geschlecht oder das Alter. Außerdem hängt die Wahrscheinlichkeit einer Migration auch mit dem kulturellen Kontext und den herrschenden Machtverhältnisse zusammen.
Letztlich ist es eher so, dass bereits bestehende Migrationsdynamiken durch Umwelt- und Klimaveränderungen verändert und verschärft werden als dass sie speziell dadurch ausgelöst werden. Trotz der spezifischen Komplexität und des überlappenden Charakters der Gründe für Migration ist es jedoch nicht unbedingt falsch, von „durch den Klimawandel ausgelöster Migration“ zu sprechen. Wir sollten diesen Begriff auch deshalb weiter verwenden, weil er bereits dazu gedient hat, die vorherrschende Rolle der durch den Klimawandel bedingten Umweltfaktoren zu unterstreichen. Wir müssen bei der Verwendung des Begriffes jedoch sehr vorsichtig sein, denn er kann auch dazu genutzt werden, erzwungene Migration zu „entpolitisieren“ und „natürlichen“ Ereignissen die Schuld für Vertreibungen zu geben, anstatt die Verantwortung für Vertreibungen denjenigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zuzuschreiben, auf die Umweltzerstörungen und Vertreibungen letztlich zurückzuführen sind. Außerdem kann die Versicherheitlichung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und Migration als zusätzliche Rechtfertigung für die Zementierung einer Politik der geschlossenen Grenzen dienen.
Wie passt sich denn die Sahelzone an die durch den Klimawandel ausgelöste Migration und an den Klimawandel im Allgemeinen an? Soweit ich gehört habe werden in der Sahelzone die meisten Menschen eher innerhalb ihres Landes zu Flüchtlingen als dass sie in den Reichen Norden abwandern.
Das stimmt. Wie bei jeder anderen Bewegung von Menschen, finden die meisten Wanderungsbewegungen innerhalb des jeweiligen Landes oder innerhalb der jeweiligen Region statt. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass den Menschen die sozialen und finanziellen Möglichkeiten fehlen, um längere Strecken zurücklegen zu können. Aufgrund von politischen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Barrieren ist sowohl die Migration über große Entfernungen oder Landesgrenzen hinweg als auch die „internationale“ Migration sehr schwierig geworden, vor allem für Menschen, die bereits in ihrer Heimat stark gefährdet sind.
Derzeit richtet sich die meiste Aufmerksamkeit auf die Menschen, die tatsächlich abwandern. Dagegen muss absolut betont werden, dass die am stärksten gefährdeten Menschen oft gar nicht in der Lage sind zu migrieren, selbst wenn für sie ein Wegzug lebensnotwendig wäre. In diesem Fall ist es nicht die Migration, sondern die Unfähigkeit zur Abwanderung, die für Millionen von Menschen, die besonders anfällig für den geballten wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Druck sind, zu einer lebensbedrohlichen Gefahr wird.
In Bezug auf Anpassungsstrategien lässt sich sagen, dass die Migration seit langem eine der wichtigsten Anpassungsstrategien ist, die von Bevölkerungen bei Umweltstress angewandt wird. Eine Migration über kurze Entfernungen und die jahreszeitlich bedingte Migration vom Land in die Stadt sind wesentliche Mechanismen, durch die Familien ihr Einkommen diversifizieren und Chancen wahrnehmen können. Aber es wird immer schwieriger über große Entfernungen zu migrieren, und viele städtisch geprägte Regionen in Entwicklungsländern sind nicht mehr in der Lage, die aus ländlichen Gebieten vertriebenen Arbeitskräfte aufzunehmen, die jedes Jahr zusätzlich in den Arbeitsmarkt eintreten.
Die Schwächsten arbeiten daher oft als schutzlose und ausgebeutete Gelegenheitsarbeiter, die in den Slums der Megastädte in einen komplexen Prozess der fortschreitenden Verelendung geraten. Es gibt viele unterschiedliche Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und an die Migrationsthematik. Dazu gehören beispielsweise zwischen den Herkunfts- und Zielländern abgeschlossene bilaterale Verträge im Bereich Beschäftigung und außerdem stadtplanerische Maßnahmen, die Schaffung von würdevollen Beschäftigungsmöglichkeiten oder der Kampf gegen Umweltveränderung und Klimawandel.
Die Sahelzone ist für die EU-Politik eine besonders wichtige Region, weil sie als bedeutende Quelle von Migrationsbewegungen gilt, die scheinbar schwer zu beherrschen sind. Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex hat den sogenannten „Nachrichtendienst Afrika-Frontex“ (Africa-Frontex Intelligence Community – AFIC) aufgebaut, dessen Schwerpunkt auf der Sahelzone liegt. In diesem Zusammenhang arbeitet Frontex jedoch mit Regierungen und deren jeweiligen Geheimdiensten zusammen, die häufig einen sehr üblen Ruf haben. Frontex arbeitet also genau mit denjenigen regionalen Akteuren zusammen, die – auf politischer Ebene – sehr viel dazu beigetragen, dass die Menschen dort unter unerträglichen Bedingungen leben. Wie würde aus Ihrer Sicht eine adäquate EU-Politik für den Umgang mit der in der Sahelzone stattfindenden klimabedingten Migration aussehen?
Die Sahelzone wird oft als „Ground Zero“ (Militärsprache für den Ort der größten oberirdischen Zerstörung bei einer Explosion) des Klimawandels bezeichnet, da die Region in hohem Maße von Klimaschwankungen, anhaltender Armut, demografischem Wachstum und politischer Instabilität geprägt ist. Wie ich eben sagte, findet der Großteil der afrikanischen Migration – nimmt man alle Gründe für die Migration zusammen – jedoch innerhalb von Ländern oder von einem Land in ein benachbartes Land statt. Trotz der vielen Berichte, dass im Zusammenhang mit sogenannten „Klimamigranten“ aus der Sahelzone ein „Exodus“ in Süd-Nord-Richtung nach Europa stattfindet, ist der Prozentsatz derjenigen, die sich aufgrund von Umweltauswirkungen auf den Weg nach Europa machen, vernachlässigbar. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Migration auch eine strukturelle Komponente gesellschaftlicher Transformationsprozesse ist und daher nicht verhindert werden kann. Solange es Ungleichheit, Konflikte und Umweltzerstörung gibt, werden Menschen die Migration als wichtiges Mittel zum Überleben nutzen und als Mittel, sich ein gutes Leben zu verschaffen.
Eine humane und geeignete EU-Politik für den Umgang mit erzwungener Migration im Zusammenhang mit dem Klimawandel sollte grundsätzlich versuchen, die Bedingungen zu bekämpfen, die Ungleichheit, Konflikte und Zerstörungen hervorbringen. Als kurzfristige politische Maßnahme müssen sichere und geregelte Migrationswege für diejenigen Menschen bereitgestellt werden, die um ihr Leben fliehen. Das ist der einzige humane und würdevolle Weg. Dass man Leute an der Grenze zu einem der reichsten Erdteile der Welt ertrinken lässt, ist eines der beschämendsten und dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit.
In Ihren jüngsten Veröffentlichungen beschäftigten Sie sich mit dem „green grabbing“ („grünes Ansichreißen“), das heißt mit der „Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes“. Sie weisen darauf hin, dass viele dieser marktorientierten Initiativen verheerende Auswirkungen haben, da sie unter anderem zusätzlich zu Vertreibung und zum Entzug lebenswichtiger Dinge, beispielsweise dem Entzug von Wohnung, Arbeit oder Rechten, beitragen. Letztlich könnte man folgern, dass diese Initiativen das Gegenteil von dem bewirken, was sie vorgeblich möchten. Können Sie uns dafür ein Beispiel aus Afrika geben?
Die Definition von „green grabbing“ als einer „Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes“ stammt von James Fairhead, Melissa Leach und Ian Scoones und wurde 2012 geprägt. Das Thema ist für meine Arbeit mittlerweile zentral. Paradoxerweise sind es nämlich nicht nur die biophysikalischen Auswirkungen des Klimawandels, die zu der sich derzeit verändernden Migrationsdynamik beitragen, sondern auch die politischen Maßnahmen, die im Kampf gegen ökologische Veränderung und Klimawandel ergriffen werden.
Wenn beispielsweise Projekte zur Erzeugung von Biokraftstoffen oder zur Förderung des Kohlenstoffspeichers Wald durchgeführt werden, stehen diese oft mit dem Flächenbedarf von besonders gefährdeten Menschen im Wettbewerb. Im Ergebnis werden die Menschen oft von ihrem Land vertrieben und verlieren ihren Lebensunterhalt, was dann, so könnte man sagen, zu einer Migration führt, die von der Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes ausgelöst wird.
Afrika ist eines der wichtigsten Ziele im weltweiten Wettbewerb um Land, egal ob Land letztlich für die Nahrungsmittelerzeugung, für die Erzeugung von Biokraftstoffen oder für Umweltschutzbemühungen genutzt werden soll. Es gibt zu viele Beispiele, als dass ich sie hier alle aufzählen könnte. Ein Beispiel für die Aneignung von Land, dass ich selbst im Senegal erforscht habe, mag genügen: Ein Naturschutzgebiet wurde umgewidmet und für die Erzeugung von Biokraftstoffen freigegeben, die nach Europa exportiert werden sollten.
Das Projekt scheiterte letztlich, jedoch nicht bevor in dem Zusammenhang die Lebensgrundlage von 9.000 halbnomadischen Hirten gefährdet worden war, was erhebliche soziale und ökologische Auswirkungen hatte. Ein anderes Beispiel: Viele tropische Wälder werden von Regierungen kontrolliert, die diese häufig für landwirtschaftliche oder ökologische Zwecke zur Verfügung stellen, ohne die Interessen der örtlichen Bevölkerungen zu berücksichtigen, deren Lebensgrundlage diese Wälder sind. Wenn der Zugang zu unverzichtbaren Lebensgrundlagen nicht mehr ungehindert möglich ist, bleibt vielen Menschen nichts anderes übrig, als sich dem Strom der erzwungenen Migration anzuschließen.
Was können die EU und andere große Umweltverschmutzer aus Ihren Forschungsergebnissen im Bereich der Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes lernen?
Umweltpolitische Maßnahmen müssen zu einer Reduzierung sozialer Ungleichheit führen. Außerdem müssen die aus einer Maßnahme entstehenden Vorteile den am stärksten gefährdeten Menschen zugute kommen. Ansonsten werden solche Maßnahmen nicht nur kaum zu einer Reduzierung von Emissionen führen, sondern auch zu dem, was ich als die „dritte“ Ungerechtigkeit des Klimawandels bezeichne: Die am stärksten gefährdeten Menschen sind erstens am wenigsten verantwortlich für die Veränderungen im Bereich der Umwelt.
Zweitens leiden sie am meisten darunter und drittens sind sie dann auch noch die ersten Opfer der umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen. Natürlich sind Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel notwendig, aber wenn diese mit dem Ressourcenbedarf und dem Zugang zu Ressourcen der besonders gefährdeten Menschen im Wettbewerb stehen, dann können solche Maßnahmen eben auch den Boden für Zerstörung und Vertreibung bereiten. Die wichtigste Lehre, die man aus diesem Zusammenhang ziehen sollte, ist, dass ökologische und soziale Gerechtigkeit nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Die eine Form der Gerechtigkeit ist ohne die andere nicht denkbar.
Welche historische Dimension hat aus Ihrer Sicht die Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes vor dem Hintergrund der Geschichte der europäischen Kolonialreiche in Afrika und Asien?
Der heutige Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen, der Aneignung von Land sowie der stattfindenden Migration ist das Produkt grundlegender historischer Veränderungen, die zu einem großen Teil auf den Kolonialismus zurückzuführen sind. In meiner Dissertation bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die „kolonisatorische Migration“ (Alejandro Portes) die Ursache für viele unserer heutigen ökologischen und sozialen Krisen ist. Die kolonisatorische Migration, bei der Menschen in Gebiete einwanderten, in denen Land oder Arbeitskräfte billig waren – oder sogar kostenlos –, ähnelt stark dem heutigen Prozess der Aneignung von Land durch die wirtschaftlichen und politischen Eliten.
Dass der Zugang zu natürlichen Ressourcen für eine bestimmte Gruppe beschränkt und gleichzeitig für eine andere Gruppe eröffnet wird, wird schon seit längerem häufig mit ökologischen Argumenten begründet. Dieser Vorgang ist Teil eines Prozesses, bei dem Land und Arbeit immer stärker Warenform annehmen und gleichzeitig deren Aneignung vorangetrieben wird. Das Phänomen der Aneignung natürlicher Ressourcen zum Zwecke des Naturschutzes hat daher koloniale Wurzeln. Aufgrund der Diskurse und Projekte rund um Klimaschutz und Klimawandelanpassung hat dieses Phänomen aber eine neue Dimension erhalten.
Sie leben derzeit in Bangkok und sehen die Dinge dadurch von einem anderen Blickwinkel. Hat diese neue Perspektive Auswirkungen darauf, wie Sie die Beziehung zwischen Europa und dem Globalen Süden hinsichtlich der durch den Klimawandel ausgelösten Migration sehen?
In Afrika ist die Beziehung zwischen Europa und dem Globalen Süden im Bereich Migration in der Tat sehr anders als in Asien. Das hängt vor allem mit der geografischen Entfernung zusammen, die die beiden Kontinente Europa und Asien trennt und die eine massenhafte Migration von Asien nach Europa aus praktischen Gründen kaum möglich erscheinen lässt. Die Beziehung zwischen Europa und dem Globalen Süden in Bezug auf diejenigen Bedingungen, die zu Umweltzerstörungen und der damit zusammenhängenden erzwungenen Migration führen, ist jedoch sehr ähnlich. Die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen der Industrieländer enden ja nicht an Ländergrenzen und wirken sich daher auf der gesamten Welt aus, unabhängig von der geografischen Entfernung.
Extraterritoriale Menschenrechtsverletzungen und die ökologischen Folgen einer asiatischen Produktion von für den Konsum in Europa bestimmter Waren tragen jedoch ebenfalls zur Aneignung von Land und zur Zerstörung der Umwelt bei. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist zudem ein besonderer Aspekt der Machtverhältnisse, der auch Folgen für die Frage hat, ob jemand abwandern will oder kann. Derzeit erforsche ich intensiv, in welchem Maße die Geschlechterungleichheit ein Grund für Klimawandel, Landaneignung und Migration ist und wie sich diese Phänomene wiederum auf die Geschlechterungleichheit auswirken. Die Umweltbewegung und die feministische Bewegung sind derzeit die wirkungsvollsten sozialen Bewegungen, die uns Hoffnung bieten. Aus meiner Sicht ist der Brückenschlag zwischen der ökologischen und der feministischen Agenda, sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf politischer Ebene, mittlerweile eine wesentliche Komponente unseres Bestrebens, wahrhaft transformative Erkenntnisse zu gewinnen.
Sujatha Byravan und Sudhir Chella Rajan schreiben in Bezug auf die ethische Verantwortung Europas: „Selbst wenn in Zukunft die jährliche Emissionsrate Europas und Nordamerikas auf null sänke, wären die Verpflichtungen dieser beiden Kontinente dennoch nicht null, weil deren frühere Emissionen erst verzögert wirksam werden. Außerdem sind die früheren Emittenten, also die Industriestaaten, schuld an der bestehenden unverhältnismäßig hohen Akkumulation von Emissionen, was es zusätzlich richtig erscheinen lässt, diesen Staaten besondere Verpflichtungen bei der Begrenzung der Umweltbeeinträchtigungen aufzuerlegen.“ Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema? Kann dieses nachvollziehbare Argument eine Basis für zukünftige politische Maßnahmen der EU im Zusammenhang mit der durch den Klimawandel ausgelösten Migration und Vertreibung bieten? Falls dies der Fall ist, wie könnten diese Maßnahmen aussehen?
Solche Fragestellungen sind nicht mehr wirklich Teil des von mir erforschten Wissensgebietes. Dennoch sehe ich da direkte Parallelen zu den Diskussionen um Reparationszahlungen an vormalige Kolonien. Das Problem einer allgemeinen Verantwortung, bei gleichzeitig jedoch unterschiedlichen individuellen Verpflichtungen, ist ja ein wesentliches Element der Klimaverhandlungen. Dieser Themenbereich erkennt auch an, dass unterschiedliche Länder unterschiedliche Möglichkeiten und Verpflichtungen haben, mit dem Klimawandel umzugehen. Die historische Verantwortung ist aber ein heikles Thema, da es schwierig ist, den derzeitigen Generationen die Verantwortung für die Emissionen (und Handlungen) früherer Generationen anzulasten. Wichtig ist in dem Zusammenhang ebenfalls, dass auch innerhalb von Industriestaaten die Menschen nicht in gleicher Weise für den Klimawandel verantwortlich sind.
Unterschiedliche sozioökonomische Gruppen und Menschen mit unterschiedlichen sozialen Identitäten tragen in sehr unterschiedlicher Weise zum Klimawandel bei, selbst wenn sie innerhalb desselben Nationalstaates leben. Es kann deshalb zu Ungerechtigkeiten und möglicher politischer Inaktivität führen, wenn man bestimmte Länder als Mitglieder eines „Blocks“ und die Staatsbürger dieser Länder als homogene Gruppe behandelt. Es gibt noch eine weitere Schwierigkeit: Das Emissionsniveau vieler Entwicklungsländer beginnt mittlerweile eine ähnliche Höhe wie das der Industrieländer zu erreichen. Im Bereich Klimawandel werden vielfach die grundlegendsten Menschenrechte verletzt, weshalb dringender Handlungsbedarf besteht. Ich glaube, dass es leider die politische Praxis überfordern und lähmen würde, wenn man der EU-Migrationspolitik noch eine weitere Dimension hinzufügen würde, nämlich die der historischen Verantwortung für Emissionen – obwohl ich glaube, dass dies an sich ein wichtiger Schritt wäre.
Wo sehen Sie aktuell noch Chancen für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf globaler Ebene? In welchem Bereich und in welcher Weise sollten neue Formen der Zusammenarbeit umgesetzt werden, um es der EU und Europa zu ermöglichen, die jeweilige ethische Verantwortung in Bezug auf die klimabedingte Migration zu übernehmen?
In den vergangenen Jahren hat es eine große Zahl politischer Initiativen im Bereich Klimamigration gegeben. In dem auf der UN-Klimakonferenz unterzeichneten Übereinkommen von Paris wurden die Auswirkungen der Vertreibungen in vollem Umfang eingestanden. Dieses Vertragswerk ist daher eine wesentliche Säule für den Bereich Klimamigration. Andere globale Übereinkommen, wie der UN-Migrationspakt oder die Plattform für Maßnahmen im Bereich Vertreibung bei Naturkatastrophen (Platform on Disaster Displacement) sind ebenfalls wichtig.
Obwohl es derzeit viele internationale, regionale und nationale Initiativen zum Umgang mit sogenannten „Klimamigranten“ gibt, werden solche Initiativen jedoch nur Erfolg haben, wenn sie helfen, das Problem der sozioökonomischen und politischen Gefährdung zu lösen, durch das Umweltgefährdungen erst zu Katastrophen werden. Mit anderen Worten: Es ist dringend notwendig, dass die strukturellen Gründe, die zu Umweltzerstörung und erzwungener Migration führen, angepackt werden – und nicht die Symptome. Im Rahmen meiner Arbeit habe ich gezeigt, dass Interventionen zur Lösung des Problems der Umweltzerstörung und der erzwungenen Migration, die den Machtstrukturen, durch die diese Probleme hervorgebracht werden, keine Beachtung schenken, den gegenteiligen Effekt haben können. Sie können nämlich die Umweltzerstörung noch verstärken und gleichzeitig wirklich transformative Maßnahmen blockieren.
Anm. d. Red.: Die Interviewfragen stellte die Berliner Gazette-Redaktion im Rahmen der MORE WORLD-Initiative. Vom 10. bis 12. Oktober fand die gleichnamige Konferenz im ZK/U Berlin statt, die mit Workshops, Performances und Diskussionen der folgenden Frage nachging: Wie können wir grenzüberschreitend zusammenarbeiten, um dem Klimawandel entgegenzutreten? Eine umfassende Dokumentation der Konferenz mit Projekten, Audios und Videos finden Sie hier. Übersetzt aus dem Englischen von Anna und Edward Viesel. Das Foto oben ist ein Standbild aus einem AFIC Video, das auf YouTube verfügbar ist.
Ein Kommentar zu “Am Ground Zero des Klimawandels: Green Grabbing, Massenmigration und die Rolle Europas”