Im Zuge der kolonial-kapitalistischen Urbanisierung sind Städte zu Wachstumsmotoren avanciert. So ist es nicht verwunderlich, dass sich angesichts der ökologischen Polykrise die Aufmerksamkeit von Medien, Wirtschaft und Staat auf die Metropolen konzentriert und die Lebensbedingungen der Landbevölkerung vernachlässigt werden, die immer noch rund 40 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht und in vielerlei Hinsicht die Ressourcen für die städtischen Wachstumsmotoren bereitstellt. Besonders problematisch ist dieses Stadt-Land-Gefälle im Fall der Palmölplantagen in Indonesien, wie Tania Li in ihrem Beitrag für die Serie „Kin City“ zeigt.
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Im Jahr 2022 hielten mein Co-Autor Pujo Semedi und ich einen Vortrag bei der indonesischen National Research and Innovation Agency in Jakarta. Es war eine von mehreren Präsentationen, die wir organisierten, um die indonesische Übersetzung unseres Buches „Plantation Life: Corporate Occupation in Indonesia’s Oil Palm Zone“ vorzustellen. Nach der Präsentation wandte sich ein Sozialwissenschaftler im Publikum mit den Worten an uns: „Danke, dass Sie mich auf diese Situation aufmerksam gemacht haben. Ich hatte keine Ahnung“. Der indonesische Titel des Buches bedeutet übersetzt „Leben mit Riesen“ und greift eine Metapher auf, die häufig verwendet wird, um übermäßige und unverantwortliche Macht zu kritisieren. Ein Riese ist gierig und rücksichtslos; er ist fast menschlich, aber es ist unmöglich, eine normale menschliche Beziehung zu ihm aufzubauen. Der Buchtitel traf einen Nerv; wir konnten spüren, wie die Zuhörer*innen unserer Vorträge erschauderten, wenn sie sich vorstellten, neben einem Riesen zu leben, der sie nach Belieben niedertrampeln könnte.
Mit dieser Vortragsreihe wollten wir die Aufmerksamkeit der Medien erregen und eine öffentliche Debatte über das Schicksal von Millionen Indonesier*innen anregen, die in den ländlichen Gebieten der Ölpalmplantagen unter Bedingungen leben, die wir als ‚korporative Besatzung‘ bezeichnen. Ölpalmenplantagenunternehmen verfügen heute über verlängerbare Konzessionen der Regierung, die ein Drittel des Ackerlandes Indonesiens abdecken. Ehemalige Landbesitzer*innen, die in den Plantagengebieten leben, leiden nicht nur unter der Besetzung von Ackerland und Wäldern durch die Unternehmen, sondern verlieren auch den Zugang zu ihren Bürger*innenrechten, da die Unternehmen lokale Institutionen untergraben, Dorfvorsteher*innen und Regierungsbeamte zu Kollaborateur*innen machen und ungestraft Gesetze brechen. Die Dorfbewohner*innen sind gezwungen, mit den Riesen zu leben, haben aber keine Möglichkeit, diese für die von ihnen verursachten Schäden zur Rechenschaft zu ziehen.
Korporative Besatzung
Die Teilnehmer*innen unserer Vorträge waren von unseren Ergebnissen überrascht. Bei der Nationalen Forschungsagentur in Jakarta war die Unkenntnis über die Auswirkungen von korporativen Besatzungen unter den Laien groß. Als wir in den Hauptstädten von Provinzen sprachen, die von Ölpalmenplantagen bedeckt sind, wussten die Zuhörer*innen, dass der Landerwerb durch Unternehmen manchmal Landkonflikte auslöst, die dazu führen können, dass Demonstrant*innen von Polizei und Armee verhaftet, verletzt oder getötet werden. Solche Berichte finden ihren Weg in die Provinzzeitungen. Sie gehen jedoch davon aus, dass solche Fälle die Ausnahme sind – das Werk böswilliger Akteur*innen.
Die meisten städtischen Indonesier*innen besuchen nie Ölpalmenplantagen und wissen nicht, was dort vor sich geht. Wenn sie sich doch dafür interessieren, sind ihre Hauptinformationsquellen Berichte in den nationalen Medien, die die Vorteile von Palmöl für Indonesien anpreisen. Diese sind zweifellos beträchtlich: Der Export von Palmöl ist Indonesiens größte Devisenquelle und wird dem Land im Jahr 2022 fast 30 Millionen US-Dollar einbringen. Befürworter*innen der Industrie zitieren unbestätigte, aber optimistische Statistiken über Millionen von Arbeitsplätzen, die durch die Industrie geschaffen werden. Kurzum, die Nachrichten sind überwiegend positiv.
Die positiven Nachrichten über Palmöl in Indonesien sind kein Zufall. Sie sind Teil einer von der Regierung unterstützten Medienkampagne, die dem entgegenwirken soll, was die Befürworter*innen der Palmölindustrie als ‚schwarze Kampagne‘ von Umweltschützer*innen in Europa bezeichnen. Diese Umweltschützer*innen, so der Vorwurf, kümmerten sich mehr um das Schicksal der Orang-Utans als um die Armutsbekämpfung in Indonesien, oder, noch unheimlicher, sie seien eine Fassade für europäische Speiseölproduzenten, die das Alibi der Sorge um den Waldverlust nutzten, um ihre eigenen, weniger wettbewerbsfähigen Produkte zu schützen. Angesichts der Andeutung, dass die Europäer*innen wieder ihre neokolonialen Tricks anwenden und Indonesien kritisieren, während sie ihre eigenen gierigen und zerstörerischen Gewohnheiten fortsetzen, stellen sich die meisten Indonesier*innen mit patriotischem Stolz hinter die Industrie und schauen nicht weiter.
Land-Stadt-Gefälle
Die tiefe Kluft zwischen dem, was im ländlichen Indonesien geschieht, und dem, was die Stadtbevölkerung über den ländlichen Raum weiß, hat mehrere Ursachen. Die räumliche Trennung ist eine davon. Plantagen sind nicht einfach zu besuchen. Die meisten liegen weit von den Städten entfernt und sind über holprige, kaum befahrbare Straßen zu erreichen. Die Plantagen selbst sind riesig – im Durchschnitt 3.000 Hektar –, so dass allein die Fahrt von einer Seite zur anderen einen ganzen, anstrengenden Tag in Anspruch nehmen kann. Da es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, ist ein Besuch teuer: Besucher*innen brauchen einen Lastwagen oder ein Motorrad und Geld für den teuren Treibstoff.
Die Plantagenbesitzer*innen achten auch auf ihre Privatsphäre und lassen keine Besucher*innen herein, es sei denn, es handelt sich um offizielle Angelegenheiten. Die Tore der Plantagen werden bewacht, und wenn man erst einmal drinnen ist, gibt es keine Schilder, die einem den Weg weisen. Alle Plantagenblöcke sehen gleich aus, die Plantagenstraßen sind nummeriert, nicht benannt. Die Wohnblöcke für die Arbeiter*innen sind ebenfalls nummeriert, liegen weit auseinander und sind schwer zu finden. Ein Teil der Trennung zwischen Stadt und Land ist also infrastrukturell bedingt, sie ist in die räumliche Anordnung der Plantagenzone eingebaut.
Ein zweiter Grund für die Trennung zwischen Stadt und Land ist kultureller und politischer Natur. In Indonesien gibt es keine kulturelle Tradition, in der die Landbevölkerung als Repräsentantin des nationalen Geistes einen Ehrenplatz einnimmt. Von der Stadt aus gesehen sind die Bäuer*innen unschuldig, ehrlich und fleißig; leben sie in abgelegenen Teilen Borneos und Papuas, sind sie primitiv, irrational und wild. In der Stadt produzierte Gegenerzählungen können versuchen, diese Bilder umzukehren (z.B. die Landbevölkerung als Umweltschützer*innen oder Hüter*innen der Tradition), aber diese Erzählungen können nach hinten losgehen.
Als Semedi und ich Dutzende von Student*innen der Gadjah Mada Universität nach Borneo brachten, um an unserer Plantagenforschung teilzunehmen, waren diese javanischen Stadtbewohner*innen der Mittelschicht enttäuscht. Auf unserer Bootsfahrt flussaufwärts kamen wir an riesigen schwimmenden Holzflößen vorbei, die für Sägewerke, Bauxitminen und endlose Ölpalmenfelder bestimmt waren. Ihre ländliche Traumwelt wurde von einer Industrielandschaft verdrängt, die sie den Sinn einer Reise so weit weg von zu Hause hinterfragen ließ.
Die politische Geschichte Indonesiens verstärkt die Entfremdung. In den 1950er Jahren begann eine starke kommunistische Partei – die drittgrößte nach China und der Sowjetunion – die sozialen und räumlichen Grenzen neu zu ziehen. Eine der größten Mitgliedsgewerkschaften, die Bäuer*innenfront, hatte sieben Millionen Mitglieder, und die Parteizeitungen brachten den Städter*innen die Probleme der Landbevölkerung näher. Sie wurden ermutigt, sie als Verwandte zu betrachten, als Brüder und Schwestern, die in ein gemeinsames nationales Projekt eingebunden waren, in dessen Mittelpunkt die soziale Gerechtigkeit stand. Tragischerweise endete all dies 1965-66, als die Armee eine halbe Million Menschen massakrierte, die nicht als Verwandte, sondern als ‚Tiere oder Teufel‘ behandelt wurden; und seitdem, so Benedict Anderson, werden die ländlichen und städtischen Massen weiterhin als bloße ‚Objekte‘, ‚Besitztümer‘, ‚Diener‘ und ‚Hindernisse‘ für das Ungeheuer der räuberischen Macht betrachtet.
Die hier beschriebene Diskrepanz ist nicht nur in Indonesien zu beobachten. Einige Stadtbewohner*innen, vor allem in China, haben in den letzten Jahrzehnten ihre Dörfer verlassen und wissen, was dort vor sich geht. Für andere Städter*innen ist das ländliche Asien – wo die Hälfte der Bevölkerung lebt – aus den Augen und aus dem Sinn. Von Europa aus betrachtet ist das ländliche Asien noch undurchsichtiger und wird meist durch die Brille der Umweltrisiken (brennende Wälder, überschwemmte Flüsse) gesehen. Das alltägliche Leben der Menschen, die in diesen ländlichen Gebieten leben, kommt in den Nachrichten nicht vor.
Keine Verwandtschaft ohne Anerkennung
Wenn wir nichts über eine Gruppe von Menschen wissen, ist es schwierig, sie als verwandt anzuerkennen. Was bedeutet Anerkennung? Der Anthropologe Johannes Fabian geht dieser Frage nach, indem er sich mit dem Begriff der Anerkennung beschäftigt, der im Englischen mit einem Wort, im Deutschen aber mit drei Wörtern ausgedrückt wird: „Erkennen… wie in ‚Ich kenne diese Personen oder Gegenstände, wenn ich sie sehe‘ (ein Akt des Erkennens); Wiedererkennen wie in ‚Ich kenne diese Personen oder Gegenstände, weil ich mich an sie erinnere‘ (ein Akt des Erinnerns); und Anerkennen wie in ‚Ich gebe diesen Personen oder Gegenständen die Anerkennung, um die sie bitten und die sie verdienen‘ (ein Akt des Anerkennens)“.
Anders als Klassifikation oder Erinnerung, die als feste Schemata und Vorurteile mitgebracht werden (z.B. Landbevölkerung ist primitiv), setzt Anerkennung Wissen voraus, und Wissen kann für Fabian nur von ‚gleichaltrigen Teilnehmer*innen‘ im kommunikativen Austausch erzeugt werden. Anerkennung kann nicht ‚wie politische Unabhängigkeit oder Entwicklungshilfe verteilt‘ oder per Gesetz festgeschrieben werden. Sie ist das Ergebnis eines Austauschs, der Menschen verändert und Beziehungen neu definiert.
Die Überbrückung der Kluft zwischen Stadt und Land und die Herstellung von Verwandtschaft erfordern einen solchen kommunikativen Austausch. Die in der Stadt geprägten Schemata wiederzuverwenden und auf Ausflüge aufs Land mitzunehmen, schafft kein neues Wissen. Der Austausch, auf den es ankommt, erfordert viel mehr Arbeit.
Anm.d.Red.: Weitere Texte zur Palmölindustrie in der Berliner Gazette von Max Haiven, Salma Rizkya und Hariati Sinaga.