Der globale Kapitalismus ist in eine Phase eingetreten, in der die treibenden (und getriebenen) Kapitalist*innen die Samthandschuhe ausziehen. Die Interessen an Profitakkumulation und Machtausweitung werden nicht mehr hinter vermeintlichen Werten versteckt, während militärische Mittel zu deren Verfolgung normalisiert werden. In seinem Beitrag zur Textreihe „Pluriverse of Peace“ diskutiert Florin Poenaru die geopolitischen Implikationen für Europa und wie in dieser Phase, katalysiert durch ein neues Wettrüsten, der Krieg gegen sowohl menschliches als auch mehr-als-menschliches Leben forciert wird, kurz: der Krieg gegen die Erde.
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Eine der tragischsten Ironien unserer gegenwärtigen Situation besteht darin, dass das Gerede vom Frieden – zumindest in Bezug auf die Ukraine – mit dem Druck einhergeht, die Militärausgaben zu erhöhen. ‚Für den Frieden zu kämpfen‘ ist daher kein Widerspruch mehr, sondern beschreibt eine Situation, in der die einzige Möglichkeit für Frieden in der Macht und Bereitschaft zum Krieg besteht. Auf dem Höhepunkt des ‚Kampfes für den Frieden‘ in Rumänien unter Nicolae Ceausescu gab es diese subversive Fortsetzung des Satzes: ‚Wir werden für den Frieden kämpfen, bis nichts mehr übrig ist‘. Die Implikation war, dass diese Friedenskonstruktion bereits in einem sehr kriegerischen Rahmen gefangen war, nämlich dem des Kalten Krieges, und als solche Teil einer geopolitischen, militärischen und ideologischen Konfrontation war.
Als Keir Starmer kürzlich eine Aufstockung des britischen Verteidigungshaushalts ankündigte, die durch Sparmaßnahmen wie Kürzungen bei der internationalen Hilfe ermöglicht werden soll, begründete er dies damit, dass Großbritannien dadurch in der Lage sei, „für den Frieden zu kämpfen“. Dies spiegelt eine ähnliche Politik in ganz Europa wider, die eine Erhöhung der Militärausgaben vorsieht – z.B. den EU-Plan Rearm Europe – angeblich um das zu bekämpfen, was als ‚russische Bedrohung‘ dämonisiert wird. Überrascht von der Kehrtwende der USA in der Russlandfrage, hat Europa bewusst auf eine frühere US-Forderung nach höheren Militärausgaben reagiert und diese Haltung als prinzipiellen Dissens dargestellt. Wieder einmal scheint der einzige Weg zum Frieden die Vorbereitung auf den Krieg zu sein.
Europas multidimensionales Kalkül
Die gegenwärtige Kriegstreiberei der EU ist paradox. Zwar ist Russland für den Einmarsch in die Ukraine verantwortlich, aber der Krieg wurde durch die Osterweiterung der NATO seit Jahrzehnten vorbereitet. Man muss kein Anhänger der realistischen Schule sein, um die grundlegenden historischen Fakten zu verstehen. Es handelte sich um ein Projekt, das maßgeblich von den Interessen der USA in der Region nach dem Ende des Kalten Krieges vorangetrieben wurde – eine Tatsache, die von vielen hochrangigen US-Beamten zugegeben wurde. Das Debakel in der Ukraine war keine politische Fehlkalkulation der USA, sondern bereits in den postkommunistischen Kurs eingeschrieben. Vor dem Krieg in der Ukraine hatte Europa nicht nur seinen Kuchen, sondern konnte ihn auch essen.
Auf der einen Seite billige Kohlenwasserstoffe aus Russland, die für den Antrieb des kontinentalen Wirtschaftskraftwerks unverzichtbar sind, auf der anderen Seite der wirtschaftlich günstige (aber politisch recht teure) militärische Schutz der NATO durch US-Stützpunkte und -Personal. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine wurde der erste Vorteil sofort zunichte gemacht, was zu exorbitanten Energiepreisen auf dem gesamten Kontinent führte, denen rasch hohe Inflationsraten folgten. Der zweite Vorteil droht zu verschwinden, wenn der Frieden in der Ukraine zu Bedingungen erreicht wird, die Washington genehm sind.
Kein Wunder, dass die Europäer*innen verwirrt sind. Sie sind dabei, einen Krieg zu verlieren, den sie nicht begonnen haben, und sie werden auch noch die Rechnung für den Wiederaufbau der Ukraine bezahlen müssen, wie Wolfgang Streeck zu Recht voraussagte, als der Brand ausbrach. In typischer Manier ziehen sich die USA aus dem Schlamassel zurück, den sie selbst angerichtet haben (von Vietnam bis Afghanistan), und überlassen es anderen, die Scherben aufzusammeln.
Der Westen ohne Europa
Die aktuelle Situation ist jedoch grundlegend anders. Erstens ist der Rückzug der USA aus der Ukraine nicht einfach ein taktischer Rückzug, der sich aus den unbeabsichtigten Folgen einer schlecht durchdachten geopolitischen Strategie ergibt. Er ist viel mehr als das. Er signalisiert eine Neuorientierung weg von Europa und dem Nordatlantik als zentralen Orten der Verteidigung und Politik. Eine starke militärische Präsenz von US-Truppen in Europa ist für die heutigen US-Interessen nicht mehr notwendig. Die gegenhegemonialen Kräfte gegen die US-Dominanz kommen nicht mehr aus Europa, wie dies im 20. Jahrhundert der Fall war (Deutschland vor 1945, UdSSR danach). In den berühmten Worten von Lord Ismay: „Die NATO wurde gegründet, um die Amerikaner drinnen zu halten“ (im Nordatlantik und in Europa), „die Deutschen unten und die Russen draußen“.
In der Tat waren die verstärkte militärische Präsenz der USA in Europa nach 1945 und ihre Politik gegenüber der Region von der doppelten Notwendigkeit bestimmt, ein Wiedererstarken Deutschlands als potentielle Gegenmacht zu verhindern und die UdSSR als Gegenmacht zumindest politisch und ideologisch, wenn nicht wirtschaftlich zu zerschlagen. Was schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion führte, war neben ihren inneren Widersprüchen die Tatsache, dass sie den USA militärisch unterlegen war.
Der Militarismus und die reale militärische Präsenz auf dem europäischen Kontinent, die vor allem gegen den sowjetischen Einfluss gerichtet war, kippten schließlich das geopolitische Gleichgewicht zugunsten der USA. Die Osterweiterung nach 1989 war lediglich das träge Ergebnis des gewonnenen Kalten Krieges, hatte aber kaum einen realen geopolitischen Wert: Russland, der Nachfolgestaat der UdSSR, war und ist – trotz mancher hetzerischer Rhetorik – ein staatlicher Akteur, der nicht in der Lage ist, eine gegenhegemoniale Bedrohung in Europa oder anderswo darzustellen. Wie zahllose Studien und journalistische Beiträge gezeigt haben, konzentrieren sich die aktuellen Interessen der USA auf den Umgang mit der sehr realen und sehr konkreten gegenhegemonialen Bedrohung, die von China ausgeht. Es handelt sich also um eine Strategie der Verteidigung der westlichen Hemisphäre, von der Europa weitgehend ausgeschlossen ist.
Der Aufstieg des militärischen Keynesianismus
Es scheint, dass die derzeitigen politischen Führer Europas die einzigen sind, die das Memo nicht erhalten haben und daher vom plötzlichen Rückzug der USA überrascht wurden. Verschärft wird das Problem – und das ist der zweite Aspekt dieser besonderen Konstellation – durch die tiefe Wirtschaftskrise, in der sich Europa befindet. Waren die BIPs der USA und der EU zu Beginn der Krise 2009 noch vergleichbar, so ist die US-Wirtschaft heute doppelt so groß wie die europäische. Der durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste wirtschaftliche Abschwung hat den seit langem bestehenden Trend eines rapiden wirtschaftlichen Niedergangs nur noch verstärkt. Beweise dafür muss man nicht lange suchen, man kann sie aus erster Hand bekommen: aus dem Draghi-Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU. In einem solchen Kontext wird die Umlenkung von Kapital in Investitionen für militärische Ausrüstung die wirtschaftlichen, sozialen und damit auch politischen Missstände in der Union nur noch verschlimmern.
Gleichzeitig könnte diese allgemeine Rückkehr zu den Waffen, die zuerst durch die Notwendigkeit ausgelöst wurde, Waffen zur Verteidigung der Ukraine und jetzt zur Verteidigung Europas nach dem Rückzug der USA zu schicken, tatsächlich mit einem umfassenderen kapitalistischen Imperativ zusammenhängen, der über strenge geopolitische Berechnungen hinausgeht. Das kapitalistische System leidet in seiner gegenwärtigen Phase unter sinkenden Profitraten, Stagflation und großen Liquiditätsüberschüssen, die mangels rentabler Investitionsmöglichkeiten brach liegen. Investitionen in die Rüstungsindustrie scheinen einen Ausweg aus dieser Misere zu bieten, denn sie versprechen die Wiederherstellung eines höheren Rentabilitätsniveaus und zugleich die Lösung eines anderen großen Problems der westeuropäischen und US-amerikanischen Wirtschaft: die rapide Deindustrialisierung.
Der Rückgriff auf diese Strategie des militärischen Keynesianismus hat Präzedenzfälle. Was die westeuropäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg ankurbelte, war nicht nur die Zufuhr von Kapital und Technologie durch den Marshallplan. Vielmehr war es der Ausbruch des Kalten Krieges, der die Nachfrage nach Rüstungsgütern erhöhte. Dies führte zu einem erhöhten Bedarf an Kohle und Stahl als Grundstoffe für den industriellen Aufschwung der Nachkriegszeit. Es ist kein Zufall, dass Kohle und Stahl am Anfang der EU standen.
Monopolismus und „militärische Metaphysik“
Ein weiterer Aspekt, der den Druck in Richtung Remilitarisierung verstärkt, ist die monopolistische Phase des heutigen Kapitalismus. Die Hauptakteure in diesem System sind internationale und vertikal integrierte Konzerne, die groß genug sind, um nicht nur Wettbewerb unmöglich zu machen, sondern auch Marktbeziehungen gänzlich abzuschaffen, wie auch Yannis Varoufakis, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel, festgestellt hat. Die Technologiemonopole in den USA stehen jetzt im Rampenlicht, weil sie sich auf die Präsidentschaft von Donald Trump vorbereitet haben, aber Monopolunternehmen sind überall die wichtigsten Wirtschaftsakteure, ob es sich nun um Investmentfonds oder Militärkonzerne handelt. Sie befinden sich in einer einzigartigen Position, um staatliche Politik zu gestalten und protektionistische Maßnahmen sowie günstige Bedingungen für den Transfer von überschüssigem Kapital zu ihrem eigenen Vorteil zu fordern. Dabei geht es nicht nur um die Abschöpfung von Renditen, sondern um die Umgestaltung des gesamten nationalen und internationalen Wirtschaftsraumes zu ihren Gunsten. Da diese Monopole dem Wettbewerb auf dem Markt strukturell feindlich gegenüberstehen, versuchen sie, die Staaten in Richtung Protektionismus statt Freihandel zu lenken, um ihre Vormachtstellung zu erhalten.
Es gibt also eine doppelte Bewegung innerhalb des kapitalistischen Systems, die gegenwärtig die Tendenz zur Militarisierung verstärkt: einerseits eine geopolitische Neuausrichtung des Staatensystems und andererseits die zunehmende Dominanz der Monopolkonzerne im Kontext der Akkumulationskrise und des darauf folgenden wirtschaftlichen Abschwungs.
Diese geopolitische Ökonomie erfordert die Verbreitung autoritärer Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, die Interessen des Staates und der Unternehmen in einem Kontext des Übergangs und der Turbulenzen auszubalancieren. Hierin liegt zum Beispiel die Bedeutung der Präsidentschaft Trumps in den USA und der Grund, warum seine zweite Amtszeit für diejenigen, die im alten Paradigma verhaftet sind, so desorientierend ist. Auf gesellschaftlicher Ebene fördert diese autoritäre Führung notwendigerweise ein soziales Klima, in dem die Mobilisierung des Volkes, die ideologische Polarisierung und die Schmittsche Freund-Feind-Dialektik von wesentlicher Bedeutung sind. Ideologisch stützt sie sich auf das, was C.W. Mills eine „militärische Metaphysik“ nannte: die Gesellschaft mit den Augen eines militärischen Generals zu betrachten. Kurz gesagt, die Gesellschaft muss verteidigt werden.
Negation des Lebens
Was bei dieser rasanten Militarisierung, bei diesem Kampf um den Frieden mit militärischen Mitteln auf der Strecke bleibt, ist natürlich das gesellschaftliche Leben selbst, genauer gesagt die Möglichkeit des Lebens auf diesem Planeten. Einer der Hauptleidtragenden dieses Rüstungswettlaufs wird das Klima und die Ökosysteme des Planeten überhaupt sein. Die EU-Kommission zieht sich stillschweigend aus der Klimagesetzgebung zurück. Und Staaten, die bisher in den Klimaschutz investiert haben, rechtfertigen ihre Kürzungen in diesem Bereich mit höheren Militärausgaben.
Aber vielleicht überrascht es nicht, dass der grüne Kapitalismus mit seinem falschen Versprechen, die Rentabilität wiederherzustellen und gleichzeitig den Planeten zu retten, trotzdem nicht aus der Welt ist. Als Instrument für einen echten Übergang zu einer besseren Welt war der grüne Kapitalismus natürlich von Anfang an eine Sackgasse – und in Wirklichkeit war er schon immer ziemlich braun, wie die Verschmelzung von Elon Musks ‚grünem‘ Monopolismus mit Donald Trumps fossilem Autoritarismus zeigt. Die Frage ist nun, wie rücksichtslos und zynisch die grüne Karte als moralische Karte ausgespielt wird, oder ob sie ganz vermieden wird. Mit anderen Worten: Wie offen wird der Kapitalismus seine Samthandschuhe ausziehen und wie viel verheerender wird die nächste Phase sein?
Es ist daher wichtig, skeptisch zu bleiben, wenn Klagen über den ‚Niedergang Europas‘ oder ‚Europas Rückstand auf dem Zukunftsmarkt der Green Economy‘ oder ‚Europas mangelnde militärische Stärke‘ zu hören sind. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich aus dieser Position der relativen Schwäche echte Alternativen entwickeln, aber es gibt sicherlich einen gewissen politischen Spielraum in dieser Situation, in der Europa nicht in der Lage sein wird, Dominanz auszuüben, indem es gleichzeitig für Frieden und Klima kämpft, mit militärisch unterstützten Marktlösungen, oder, wie Magdalena Taube und Krystian Woznicki es ausdrücken, indem es den Umweltschutz als Waffe einsetzt und Krieg als Umweltkrieg führt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die derzeitige EU-Führung versuchen wird, beides zu tun und dabei so zu tun, als sei sie moralisch auf der Höhe der Zeit.
Der Streit um die ukrainischen Seltenen Erden ist bezeichnend für den doppelten Krieg, der derzeit geführt wird: ein traditioneller Krieg zwischen Kriegsparteien, aber auch ein Krieg, der sich gegen die planetarische Umwelt richtet – ein Krieg gegen die Erde. Unabhängig vom Ausgang dieses konkreten Konflikts wird dieser doppelte Krieg weitergehen.