Kampf an den Rändern: Urbane Politische Ökologien und externalisierte Desaster

Der Flughafen und die Innenstadt von Bangkok unter Wasser; Menschen auf der Flucht. Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Dass der Zugang zu den für ein gutes Leben notwendigen Ressourcen systematisch ungleich verteilt ist, ist nicht nur eine Folge, sondern auch eine Voraussetzung der kolonial-kapitalistischen Globalisierung. Bisher hat diese Ungerechtigkeit keine Weltrevolution ausgelöst. Doch die Klimakatastrophe – ein Aufstand der Natur? – verschärft die weltgesellschaftliche Schieflage so sehr, dass wir eine Renaissance der Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit forcieren müssen, auch um rechten und autoritären Politiken nicht das Feld zu überlassen, wie Lucas Pohl in seinem Beitrag zur Textreihe „Kin City“ argumentiert.

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Ban Khun Samut Chin ist eine Küstengemeinde etwa 10 km südlich des Stadtrandes von Bangkok. Wenn man mit dem Auto aus der Stadt kommt, stößt man auf eine Absperrung. Die Straße hört hier auf und es geht nur noch per Fuß weiter. Der Weg zum Gemeindehaus führt über einen schmalen Holzweg, der von Wasser umgeben ist. Nur ein Dach, das aus dem Wasser ragt, deutet darauf hin, dass das Wasser noch nicht ewig hier ist. An den Seiten eines schmalen Betonpfads, der sich durch die Siedlung zielt, finden sich nebst Bergen angeschwemmten Abfalls, auch zahlreiche Ruinen und andere Spuren des Verfalls. Einst zählte die Gemeinde über 600 Mitglieder. Heute seien es noch knapp 100. Die meisten von ihnen sind Garnelenfarmer. Für sie ist es möglich, die überschwemmten Gebiete landwirtschaftlich zu nutzen. Zumindest so lang das Wasser nicht so hoch ansteigt, dass die Becken permanent unter Wasser stehen.

Immer wieder verhandeln die Medien die Frage, ob die Stadt Bangkok im Zuge des fortschreitenden Klimawandels untergehen wird. Prognosen, z.B. zum klimabedingten Meeresspiegelanstieg, legen nahe, dass es nur eine Frage von wenigen Jahrzehnten sein könnte, bis die Stadt weitgehend oder ganz unter Wasser steht. Aktuelle Studien kommen zu dem Schluss, dass bereits in 15 Jahren bei einem starken Hochwasser damit zu rechnen sei, dass über 90% der Landfläche Bangkoks von Meerwasser überflutet sein könnte. Bei einer geschätzten Bevölkerung von etwa 11 Millionen Menschen ein kaum vorstellbares Szenario. Erst im Mai 2024 brachte der stellvertretende Generaldirektor des thailändischen Ministeriums für Klimawandel und Umwelt die Idee auf, den politischen Hauptsitz des Landes zu verlegen – ähnlich wie im Fall von Jakarta. Im Unterschied zu Jakarta schlug er jedoch vor, nicht den Regierungssitz, sondern den Wirtschaftssektor umzusiedeln.

Sinkt Bangkok bereits?

Den düsteren Prognosen hinsichtlich der Zukunft Bangkoks entgegnen Klimaexpert*innen immer wieder, dass die Vorhersagen zu den klimatischen Auswirkungen auf Bangkok wenig realistisch seien. Sie weisen beispielsweise darauf hin, dass die meisten Hochrechnungen, die es zu der Stadt gibt, auf Ableitungen aus globalen Klimastudien basieren, was die Vorhersagen recht spekulativ mache. Zudem betonen sie, dass Prozesse wie der Meeresspiegelanstieg lediglich zu einer Erhöhung des Wasserspiegels um wenige Zentimeter führen und daher unerheblich seien – dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass ein derartiger Anstieg im Zusammenspiel mit anderen klimatischen Einflüssen das Risiko für Hochwasserkatastrophen erheblich erhöhen könnte.

In dieser Streitfrage könnte die spannendere Antwort jedoch in einer dritten Option liegen, die von beiden Parteien unberücksichtigt bleibt: und zwar, dass Bangkok bereits sinkt. Damit ist nicht nur gemeint, dass die Stadt zusätzlich zu den steigenden Meeresspiegeln jährlich um mehrere Zentimeter absinkt – bedingt durch den weichen Lehmboden, auf dem Bangkok errichtet ist, das immense Gewicht der bebauten Umwelt und eine massive Grundwasserentnahme, die den Anstieg des Wasserspiegels weiter begünstigen. Darüber hinaus geht es darum, dass wir es im Fall von Bangkok mit einer ausgelagerten bzw. ‚externalisierten‘ Katastrophe zu tun haben, die an den Stadträndern und in den Außenbezirken bereits zur Entstehung zunehmend unbewohnbarer Zonen führt, während das Zentrum vorerst vom Schlimmsten verschont bleibt. Strommasten, die aus dem Wasser ragen und von einstigen Straßen zeugen, Schulen, die kaum noch Kinder beherbergen, und verfallene Landschaften als letzte Überreste derer, die nicht mehr da sind – all das sind Symptome einer Politik, die es bereitwillig in Kauf nimmt, ‚einzelne Gliedmaßen zu verlieren, solang das Herz intakt bleibt‘ – eine Formulierung, die in Interviews mehrfach verwendet wurde, um auf eine gewisse Opferbereitschaft hinzuweisen, die den Verlust einiger Randbezirke zugunsten des Erhalts des Stadtzentrums akzeptiert.

Die westliche Vorstellung des ‚Anthropozäns‘ und der damit verbundenen Klimakatastrophe ist von dramatischen Raumbildern geprägt: gigantische Waldbrände, Gletscherschmelze, der Müllstrudel im Pazifik, der viermal so groß ist wie Deutschland, oder auch zerstörte Großstädte infolge von Hurrikans und Überflutungen. Doch es sind die leisen, fast schon alltäglichen und doch nicht weniger existenziellen Katastrophen, die mit dem schleichenden Verschwinden von Küstengemeinden wie Ban Khun Samut Chin einhergehen, die uns einen Einblick in die räumlichen Verhältnisse der planetaren Gegenwart geben. Diese zutiefst prekären und porösen Räume sind gekennzeichnet durch Verfall, Abfall und Zerfall sowie durch die allgegenwärtige Abwesenheit von Menschen, Ressourcen, Infrastruktur, Sicherheit, Investitionen, Stabilität, Zukunftsperspektiven usw., die ihre gesamte soziale Struktur durchzieht. Diese Struktur ist jedoch kaum noch als sozial zu bezeichnen, da sie darauf hinausläuft, ein (menschliches) Zusammenleben langfristig unmöglich zu machen.

Das ‚Weniger-als-Menschliche‘

In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist seit geraumer Zeit vermehrt die Rede vom ‚Mehr-als-Menschlichen‘ – jenem Bereich also, dem diese Wissenschaftszweige bislang wenig Beachtung geschenkt haben, da sie zu sehr auf ‚das Menschliche‘ zentriert waren. In den ozeanisch geprägten Räumen am Rand von Bangkok finden wir zweifellos eine Reihe ‚mehr-als-menschlicher‘ Zusammenhänge – denken wir an die Umwelt- und Natureinflüsse, die das Leben vor Ort prägen. Darüber hinaus finden wir jedoch auch Zusammenhänge, die man als ‚weniger-als-menschlich‘ bezeichnen könnte. Dieses Weniger-als-Menschliche kennzeichnet einen Bereich des Lebens unter zunehmend unaushaltbaren und unwürdigen Lebensbedingungen. Solche Verhältnisse berauben diejenigen, die unter ihnen leben müssen, ihres Status als vollwertige Menschen und führen zu entmenschlichten oder unmenschlichen Zuständen.

In den verwitterten Überresten überfluteter Küstengemeinden wie Ban Khun Samut Chin, aber auch in den von Fluten fortgerissenen Straßen Pakistans und auf den allmählich verschwindenden Atollinseln begegnen wir diesem Weniger-als-Menschlichen. Dort manifestieren sich die zerstörerischen Auswüchse der planetarischen Urbanisierung und eines Systems, das bereits in seinen Grundzügen auf der Entmenschlichung bestimmter Bevölkerungsgruppen und der Externalisierung von Katastrophen basiert. Schließlich sind weniger-als-menschliche Verhältnisse seit Langem Teil moderner Gesellschaften, die an den Rand gedrängt und dadurch weitgehend unsichtbar gemacht wurden. Sie sind Schauplätze der ungleichen Entwicklung, in denen die bestehenden sozialen und ökonomischen Hierarchien durch Umweltveränderungen zementiert werden, statt sie aufzubrechen. Während urbane Zentren und privilegiertere Regionen Zugang zu Ressourcen, Schutz- und Anpassungsmaßnahmen erhalten, sind die Menschen in diesen Randgebieten oft sich selbst überlassen und gezwungen, die Last des Klimawandels und seiner Folgen zu tragen.

Die Verleugnung der ungleich verteilten Katastrophenfolgen hat in den letzten Jahrzehnten in den meisten Gesellschaften des Globalen Nordens ‚erfolgreich‘ ermöglicht, das soziale Leben trotz des Klimawandels weitgehend unverändert fortzuführen. Dieser Abwehrmechanismus stößt jedoch allmählich an seine Grenzen. Mit der steigenden Häufigkeit, mit der Extremwetterereignisse das Leben in Europa und anderen Teilen des Globalen Nordens direkt beeinflussen, wächst das beklemmende Gefühl, dass die Katastrophe nicht mehr nur eine entfernte Bedrohung, sondern tatsächlich Teil ‚unserer‘ Gegenwart geworden ist. Die Vorstellung, dass sich die Klimakrise in erster Linie ‚anderswo‘ abspielt, weicht nach und nach der Erkenntnis, dass kein Ort mehr völlig vor ihr sicher ist. Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen fordern auch in wohlhabenden Ländern eine neue, realistische Auseinandersetzung mit den globalen Ungleichheiten der Klimafolgen. Das bisherige System, welches Katastrophen externalisierte und bestimmte Teile der Welt als ‚Opferzonen‘ behandelte, um die Konsequenzen fernzuhalten, beginnt zu bröckeln.

Reines Überleben

Angesichts der sich zuspitzenden Klimakatastrophe stehen wir unweigerlich vor verschiedenen Kipp-Punkten – das sind nach Ansicht von Erdsystemforscher*innen Punkte, an denen sich ökologische und klimatische Prozesse abrupt oder irreversibel verändern. Es ist aber auch an der Zeit, diese Kipp-Punkte gesellschaftspolitisch zu lesen – etwa als Momente, in denen das Weniger-als-Menschliche das Menschliche übertrifft und damit zur eigentlichen Triebkraft der Weltgesellschaft wird. Das beunruhigende Zusammenspiel aus sich verschiebenden Klimazonen, steigenden Meeresspiegeln und immer häufigeren Extremwetterereignissen, verbunden mit dem gleichzeitigen Anstieg rechtspopulistischer Politik, erzwungener Migration, kriegerischer Konflikte und dem Fortbestehen kolonialer und kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, offenbart die zunehmende Dominanz des Weniger-als-Menschlichen in der politischen und ökonomischen Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Es zeugt von einem Moment, in dem das Menschliche vom Unmenschlichen buchstäblich ‚überschwemmt‘ werden könnte. In einer solchen Welt reduziert sich das Leben auf reines Überleben.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, reicht es nicht aus, sich in kleine Enklaven zurückzuziehen, in denen das Leben trotz Klimakollaps weitergeht. Ein Blick auf die umkämpften Räume an den Rändern Bangkoks genügt, um zu erkennen, dass dies keine nachhaltige Lösung sein kann – schon gar nicht für alle. Es ist notwendig, auf Lösungen zu bestehen, die an der Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens für alle festhalten, auch wenn – oder gerade weil – diese Möglichkeit immer unmöglicher erscheint. Hierfür kann eine erneute Wiederbelebung der Forderung nach einem Recht auf Stadt dienlich sein. Als Bangkok im Jahr 2011 von einer ‚Jahrhundertflut‘ heimgesucht wurde, protestierten die Bewohner*innen einiger Randbezirke gegen die ungleichen Maßnahmen zur Trockenhaltung des Stadtzentrums. Die Errichtung von Barrieren zum Schutz der Innenstadt ging auf Kosten der Außenbezirke, in denen das Wasser deshalb nicht ablaufen konnte und das Leben zum Erliegen kam. Die Bewohner*innen skandierten daraufhin, dass sie ebenfalls zu Bangkok gehörten. Sie forderten das gleiche Recht wie die Bewohner*innen des Stadtzentrums.

In der sich entfaltenden Polykrise der planetarischen Gegenwart werden sich solche Konflikte verschärfen, und der Kampf um das Recht auf Stadt wird unweigerlich immer mehr mit dem Kampf um das Recht auf Leben verschmelzen. In solchen kritischen Zeiten zu leben bedeutet, nicht nur für ein Recht auf (Wohn)Raum zu kämpfen, sondern auch für den Erhalt und gegen das Verschwinden von (Lebens)Räumen anzugehen – Räume, die von ortsgebundenen Erfahrungen, Erinnerungen, Geschichten und einem umfassenden ‚sense of place‘ geprägt sind und die im Zuge der sich weiter verändernden Umweltverhältnisse zu zerfallen drohen. Eine planetare urbane Politik kann und darf nicht länger auf dem Fortschreiten und sich Ausbreiten von ‚Opferzonen‘ bestehen und muss sich dagegen an einem grundsätzlichen Recht auf (urbanes) Leben orientieren – ein Recht, das über die bloße Existenzsicherung hinausgeht und nur aus der Forderung nach Gleichheit, Solidarität und kollektiver Verantwortung hervorgehen kann.

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