Kämpfe um die Gesamtschule: Spaltungen und Bündnisse in Norwegen und Deutschland

Willy-Brandt-Gesamtschule Marl. Foto: Gunnar Klack (CC BY-SA 2.0)
Willy-Brandt-Gesamtschule Marl. Foto: Gunnar Klack (CC BY-SA 2.0)

Der in Westdeutschland vorherrschende Antikommunismus war einer der Hauptgründe dafür, dass die Idee einer gemeinsamen Schule für alle Kinder als so radikal galt, dass sie außerhalb des politisch Vorstellbaren und Durchsetzbaren lag – und offenbar bis heute liegt. Katharina Sass zeichnet die Spaltungslinien nach und zeigt, warum es in Norwegen anders kam und ein Schulsystem entstehen konnte, das soziale Klassenunterschiede wenn nicht überwindet, so doch relativiert.

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Die Idee einer gemeinsamen Schule für alle Kinder ist alt. Im 19. Jahrhundert forderten viele Sozialliberale und Sozialdemokrat*innen in Europa eine solche ‚Einheitsschule‘. Den Anhänger*innen der Einheitsschule ging es um sozialen Fortschritt, um Zugang zu Bildung für alle Gesellschaftsschichten und um Chancengleichheit, aber auch um die Angleichung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land, um die Begrenzung der Kirchenmacht und die Stärkung des Staates, und um die Förderung nationaler Einheit und Solidarität.

Norwegen war das erste Land, das im Jahr 1896 eine fünfjährige und im Jahr 1920 eine siebenjährige öffentliche Einheitsgrundschule für alle Kinder einführte. Dies geschah zunächst unter dem Einfluss des Sozialliberalismus, ab 1920 durch die Initiativen der wachsenden Sozialdemokratie. In den 1950er bis 1970er Jahren wurde die gemeinsame Jugendschule eingeführt, die das vormals segmentierte Mittelschulsystem ersetzte. Heute besuchen alle Kinder die wohnortnahen Grund- und Jugendschulen von der ersten bis zur zehnten Klasse.

Soziale Klassenunterschiede im Schulsystem

Die Noten in der siebenjährigen Grundschule wurden nach und nach abgeschafft. Allerdings gab es in den 1970er Jahren einen politischen Kampf um die Noten in der Jugendschule, der mit einer Niederlage der Arbeiterpartei endete, so dass es auch heute noch Noten in der Jugendschule gibt. Die Noten der zehnten Klasse sind ausschlaggebend für die Wahl der Oberstufenschule. Auch im Schulsystem Norwegens werden soziale Klassenunterschiede reproduziert, insbesondere im Übergang zur Oberstufe und in der Hochschulbildung. Dennoch bleiben die Kinder die ersten zehn Schuljahre über zusammen und gehen in ihrer großen Mehrheit gerne zur Schule. Kooperation, Respekt und Gemeinschaft stehen pädagogisch im Vordergrund – über alle sozialen Unterschiede hinweg.

Das Schulsystem in Deutschland hingegen ist international bekannt dafür, die Kinder besonders früh auf verschiedene Schulformen aufzuteilen, die sich im Lehrplan und in der sozialen Zusammensetzung markant unterscheiden. Ein extremes Beispiel ist die Schulform Hauptschule/Mittelschule, in der heute vorrangig Kinder der untersten Gesellschaftsschichten und mit Migrationshintergrund segregiert werden. Soziale Probleme werden durch ein solches System in ‚Brennpunkten‘ offenkundig potenziert. Doch auch das Gymnasium ist sozial hochgradig selektiv – in die andere Richtung.

Obwohl Deutschland in internationalen Untersuchungen zur Chancengleichheit regelmäßig schlecht abschneidet, wagt es aktuell kaum eine Politikerin oder ein Politiker diese frühe Selektion und Segmentierung in Frage zu stellen. Wie kommt das? Wieso scheiterten Versuche der 1970er Jahre, auch in westdeutschen Flächenländern ein Gesamtschulsystem nach nordischem Vorbild einzuführen? Und wie gelang es der norwegischen Arbeiter*innenpartei, ein Bündnis für die Jugendschulreform der 1950er-1970er Jahre zu schmieden?

Spaltungsstrukturen in Norwegen und Deutschland

Die kurze Antwort lautet, dass der Schlüssel in den unterschiedlichen Spaltungsstrukturen der beiden Länder zu finden ist. Spaltungslinien (im Sinne des politischen Soziologen Stein Rokkan) sind dauerhafte politische Konfliktlinien, die materielle Grundlagen haben und ideologisch-kulturell und politisch-organisatorisch zum Ausdruck kommen. In den Nachkriegsjahrzehnten war die Klassenspaltung, der Gegensatz zwischen Arbeiter*innenschaft und Kapitaleigentümer*innen, die dominanteste Spaltungslinie in Norwegen wie Westdeutschland. Sie war jedoch längst nicht die einzige.

In Norwegen gab und gibt es daneben stark ausgeprägte Stadt-Land- und Zentrum-Peripherie-Spaltungslinien, die die Entwicklung eines starken politischen Zentrums beförderten. Dieses Zentrum (bestehend aus der agrarischen Zentrumspartei, der sozialliberalen Partei und der kleinen christdemokratischen Partei) vertrat vor allem die ländliche und religiöse Bevölkerung, aber auch Teile der Volksschullehrerschaft und der liberalen Frauenbewegung. Der Arbeiter*innenpartei gelang es, mit diesen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen Bündnisse zu schmieden.

In der Schulpolitik bedeutete das zum Beispiel Kompromisse mit Blick auf die Zentralisierung kleiner Landschulen. Die Einheitsschule war für die Repräsentanten der Peripherie nicht so wichtig, aber die Bildungsexpansion auf dem Land schon. Die Arbeiter*innenpartei erschien als zuverlässigere Partnerin als die Konservativen der urbanen Oberschicht. Auch in der Sprachpolitik zogen sozialdemokratische Reformer*innen mit den Anhänger*innen der ländlichen Dialekte an einem Strang. Gemeinsam setzten sie sich für das ‚Neu-Norwegische‘ ein, das seit Ende des 19. Jahrhunderts als alternative, auf den Dialekten basierende Schriftsprache der dänisch geprägten urbanen Schriftsprache entgegengesetzt wurde.

So wurde durchgesetzt, dass Kinder in Norwegen bis heute dazu ermuntert werden, in der Schule ihren lokalen Dialekt zu sprechen, und dass Lehrbücher in beiden Schriftsprachen erscheinen müssen. Auch die Forderungen der Frauenbewegung nach Koedukation und gleichen Lehrplänen für die Geschlechter integrierte die Arbeiter*innenpartei früh in ihr Programm. Zwar gab es Konflikte zwischen der Arbeiterpartei und den christlich-ländlichen Milieus in Bezug auf die Rolle des Religionsunterrichtes und die Finanzierung der wenigen christlichen Privatschulen. Diese Konflikte bedrohten aber nicht die Jugendschulreform.

Staat vs. Kirche

In Westdeutschland hingegen war es die CDU, die ähnliche gesellschaftliche Gruppen vertrat wie das Zentrum in Norwegen, also die religiöse Landbevölkerung, die katholische Volksschullehrerschaft und die katholische Frauenbewegung (wie den Verein katholischer deutscher Lehrerinnen). Der CDU gelang es, mit diesen Gruppen ein stabiles, interessenübergreifendes Bündnis zu bilden. Dies ist nur vor dem Hintergrund der Staat-Kirche-Spaltung zu begreifen, die bereits in Preußen die Politik dominierte. Der protestantisch geprägte preußische Staat stand im Gegensatz zur katholischen Kirche und zum politischen Katholizismus in Gestalt des Zentrums (der katholischen Partei, die einen starken Arbeiter*innenflügel hatte). Zwar wurde die CDU nach dem zweiten Weltkrieg als konfessionsübergreifendes Bündnis gegründet. Dennoch galt die CDU der katholischen Bevölkerung weiterhin als ‚ihre‘ Partei.

Für die CDU-wählende Landbevölkerung war die Bildungsexpansion durchaus ein Thema. Die CDU machte deshalb eine Bildungspolitik, die auf einem Klassenkompromiss basierte: Gründung von Realschulen und Gymnasien vor allem auf dem Land, Gründung von Abendgymnasien, Verlängerung der Pflichtschulzeit, und während der späten 1960er und frühen 1970er Jahre sogar die Bereitschaft zu Experimenten mit Gesamtschulen. Gleichzeitig setzte sich die CDU für die Bewahrung der katholischen Privatschulen und gegen eine zu weitreichende Zentralisierung der Landschulen ein, was den Interessen der katholischen Frauenbewegung und der Landbevölkerung entsprach.

Mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE), der seine Wurzeln in der katholischen Volksschullehrerbewegung hat, war die CDU zunächst ebenfalls eng verbunden, auch wenn der VBE sich graduell von der CDU emanzipierte und kein Teil der Anti-Reform-Bewegung der späten 1970er Jahre wurde. Mit dem wirtschaftlichen Umschwung ab Mitte der 1970er Jahre schwand die Reformbereitschaft in der CDU, und die Interessen der oberen Gesellschaftsschichten traten stärker in den Vordergrund. In der Bildungspolitik wurde der konservative Philologenverband für die CDU zum Stichwortgeber. In NRW setzte die CDU sich an die Spitze einer Anti-Gesamtschulreform-Bewegung, die 3,6 Millionen Unterschriften sammelte – vor allem in ländlichen und katholischen Landstrichen.

Emotionaler Antikommunismus

Neben der Staat-Kirche-Spaltung gab es eine weitere Spaltungslinie, die in Westdeutschland eine entscheidende Rolle spielte und die Hegemonie der CDU absicherte: die kommunistisch-sozialistische Spaltungslinie (das heißt, die Spaltung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften in unterschiedliche Flügel, nach dem zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der Spaltung Deutschlands in BRD und DDR). Unvereinbarkeitsbeschlüsse, Ausschluss- und Disziplinarverfahren gegen Kommunist*innen in den Gewerkschaften und gegen SPD-Mitglieder, die mit Kommunist*innen kooperierten, aber auch die berüchtigten ‚Berufsverbote‘, waren Ausdruck dieser Spaltungslinie. Sie schwächten die SPD und die Gewerkschaften von innen, weil darüber Streit herrschte.

Damit verwandt war der Antikommunismus, der als Ideologie sowohl für die Führungsebene der Sozialdemokratie als auch für die von der CDU vertretenen Gruppen der Ober- und Mittelschichten zentral war. Gleichzeitig wurde die Idee der Gesamt- oder Einheitsschule in Deutschland mit dem linken Flügel der Arbeiter*innenbewegung verbunden und als ‚kommunistisch‘ oder ‚sozialistisch‘ diskreditiert. Dass die DDR ein Einheitsschulsystem eingeführt hatte, beförderte die Ressentiments und Ängste.

Der dominante „emotionale Antikommunismus“ (Mitscherlich/Mitscherlich) bedingte es, dass eine rationale Auseinandersetzung mit der Reformidee einer Einheits- oder Gesamtschule (und mit anderen linken Reformideen) in vielen gesellschaftlichen Gruppen verhindert wurde. Die Idee einer gemeinsamen Schule für alle Kinder galt – und gilt anscheinend bis heute – vielen Menschen in Deutschland als so radikal, dass sie außerhalb des politisch Denkbaren liegt. Amüsant daran ist, dass in Norwegen der revolutionäre Flügel der frühen Arbeiter*innenbewegung die Idee der Einheitsschule lange eher zu bescheiden fand, und sich stattdessen eine Schule wünschte, die weniger an bürgerlichen Bildungsidealen und mehr an den Interessen der Arbeiter*innenbewegung orientiert sei. Bis heute gibt es in Norwegens Sozialdemokratie einen Diskurs darüber, dass praktische Fähigkeiten und praktische Aktivität in der Schule aufzuwerten seien. In Deutschland hingegen gilt selbst die differenzierende Gesamtschule, in der Kinder abermals in Leistungsgruppen aufgeteilt werden (eine Praxis, die in der norwegischen Jugendschule Anfang der 1970er Jahre abgeschafft wurde), vielen als zu radikal.

Verlängerung der gemeinsamen Schulzeit aller Kinder

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die unterschiedlichen Spaltungsstrukturen in Norwegen und Deutschland unterschiedliche politische Koalitionen beförderten. In Norwegen wurden die ländliche und religiöse Bevölkerung, die Volksschullehrerschaft und die Frauenbewegung in das Reformbündnis der Arbeiter*innenpartei einbezogen. In Deutschland gelang es der CDU, vor allem die ländliche, katholische Bevölkerung, die katholischen Teile der Volksschullehrerschaft und die katholische Frauenbewegung hinter sich zu versammeln.

Was bedeutet dies für die heutige Situation in Deutschland? Wahrscheinlich müsste es gelingen, das politische Zentrum für die Idee einer Verlängerung der gemeinsamen Schulzeit aller Kinder (erneut) zu begeistern, wenn eine solche Reform eine Chance haben soll. Historisch gelang dies zuletzt 1920, als das katholische Zentrum und die Sozialliberalen die Einführung der Grundschule als gemeinsamer Schule für alle Kinder unterstützten. In den 1960er und 1970er Jahren standen zumindest Teile der FDP hinter der Idee einer längeren gemeinsamen Schulzeit.

Aktuell ist die Linke die einzige Partei, die entsprechende Reformen laut ihren Parteiprogrammen befürwortet. Die GEW und der VBE sind ebenfalls dafür. In manchen Kreisen innerhalb der Grünen und der SPD (und womöglich sogar der FDP?) geistert die Gesamtschulidee noch herum. In der CDU scheint die Gesamtschule nicht mehr ganz so ein dramatisches Feindbild zu sein wie früher. Gleichzeitig bräuchte es offenkundig in weiten Kreisen zunächst die Erkenntnis, dass das Schulsystem in Deutschland nicht förderlich für die Bewahrung von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist, sondern sozialen Ausschluss zahlreicher Bevölkerungsgruppen und damit antidemokratische Tendenzen befördert.

Die realistischste Option für Bildungsreformen in den westdeutschen Flächenländern dürfte eine Verlängerung der gemeinsamen Grundschule sein, gefolgt von einem zweigliedrigen Schulsystem. In Bundesländern, die bereits ein zweigliedriges System haben, könnten wir den Schritt zu einer zehnjährigen Grund- und Jugendschule für alle wagen. Solche Reformen könnten junge Eltern ansprechen, die ihren Kindern eine längere Kindheit wünschen. Aus der Geschichte können wir allerdings lernen, dass es breite Bündnisse für eine kinderfreundlichere und demokratischere Schule braucht, um am Status Quo etwas zu ändern.

Anm.d.Red.: Für ihr Buch „Die Politik der Gesamtschulreform“ (2024) (auf Englisch 2022 bei Cambridge University Press) hat Katharina Sass zahlreiche Veteraninnen und Veteranen der deutschen und norwegischen Schulpolitik interviewt. Sie nimmt im Buch nicht nur die Gesamtschulfrage, sondern auch Konflikte über Religionsfragen, Stadt-Land-Konflikte, Konflikte zur Mädchenbildung, die norwegische Sprachpolitik und den deutschen Antikommunismus in der Schulpolitik genauer unter die Lupe. Das Buch ist hier gratis zum Download verfügbar.

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