Wie können “wir” mehr Zeit gewinnen, um diesen Planeten noch zu retten? Und wer ist eigentlich “wir”? Mit Astro-Blackness ist in der jüngsten Zeit eine Denkform und künstlerische Praxis entstanden, die die großen Themen unserer Zeit – Klimawandel, Migration, Digitalisierung – zusammen denkt. Im zweiten Teil des Interviews denkt der Kulturwissenschaftler tobais c. van Veen darüber nach, wie unter diesen Bedingungen Zukunft imaginiert werden kann.
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Die 1990er Jahre waren ein entscheidender Moment: Das erste Mal, dass der Begriff Afrofuturismus in unser Blickfeld rückte, war durch die Arbeit des Kulturkritikers Mark Dery. Damals wurde uns auch bewusst, dass die Geschichte des Afrofuturismus eine komplexe und komplizierte ist – vor allem durch John Corbett. Dery’s “Flame Wars” (1994) und Corbett’s “Extended Play” (1994) sind immer noch unverzichtbare Bücher. Wie ist es bei dir?
Hier möchte ich kurz auf die Geschichte und Rezeption des Begriffs “Afrofuturismus” zurückkommen, der 1992 zwar zunächst von Mark Dery geprägt wurde, aber bereits damals, mit ganz verschiedenen Begriffen von Greg Tate, Amiri Baraka, Mark Sinker, Tricia Rose, Octavia E. Butler und Samuel R. Delany diskutiert wurde. Diese Kulturtheoretiker*innen und Schriftsteller*innen sprachen oftmals vom “schwarzen Futurismus” – wegen der Persistenz von schwarzen Science-Fiction-Motiven in Literatur, Comix und Musik – insbesondere ging es dabei um die performative schwarze Technopoesie von Sun Ra, Lee “Scratch” Perry, Parlament/Funkadelic, Grace Jones, Ramm:ell:zee und Afrika Bambaata.
Dery hat den Begriff Afrofuturismus als ein Provisorium eingeführt. Ich las seinen Aufsatz damals so, als würde er den Begriff “Afrofuturismus” als vorläufigen Titel für eine noch kommende Bewegung verstehen, die die verschiedenen Ausdrucksformen der schwarzen spekulativen Kunst aus der gesamten Afrodiaspora umfassen würde. Sein Begriff findet durchaus Anklang in Amiri Barakas Schriften von 1974 über AfroSurrealismus. Der Begriff Afrofuturismus lenkt unsere Aufmerksamkeit vor allem auf Sci-Fi-Aspekte.
Die zeitgenössische Popkritik begnügt sich oft mit Derys vorläufiger Definition und stellt kaum eigene Nachforschungen an, die darüber hinausgehen würden. Doch Derys Begriff muss im Entstehungskontext gesehen werden – er beruht auf einer Reihe von Interviews mit Tate, Rose und Delany. Heute sollten wir Afrofuturismus nicht als bloße Beschreibung sehen, sondern als energetisches Verb, welches die Ausformung einer schwarzen agency vorantreibt – er wurde von sich entwickelnden Bewegungen, Künsten und Menschen übernommen, überall von Praktizierenden eingesetzt, in verschiedenen Kontexten neu definiert und für bestimmte Zwecke mobilisiert. Er wurde auch immer wieder modifiziert und in Frage gestellt.
Wie genau sieht dieses Weiterdenken des Afrofuturiusmus aus?
Zum Beispiel hat etwa D. Scot Miller die Denkweise Barakas in The AfroSurreal Manifesto (2009) weiterentwickelt, und Valorie Thomas spricht von Afrxfuturism, um sich mit dem intersektionellen, queeren schwarzen Feminismus und dem “diasporischen Schwindelgefühl” auseinanderzusetzen (vgl. Thomas 2018).). So beherbergt Afrofuturismus alle möglichen historischen und kulturellen Spannungen, die für seine Dynamik konstitutiv sind – entstehende politische Spannungen zwischen schwarzem Nationalismus, Panafrikanismus und Kosmopolitismus zum Beispiel, sowie Kämpfe um Gerechtigkeit und Gleichheit, Anerkennung und Identität, die sich entlang der Achsen von Essentialismus, Beschleunigung und Konstruktivismus abspielen.
Die erneute globale Mobilisierung spekulativer Schwarzheit im 21. Jahrhundert wurde von Reynaldo Anderson als Afrofuturismus 2.0 (2015) bezeichnet. Wenn ich von Anderson zusammenfassen darf, sind drei Punkte entscheidend für die 21C-Formierung des Afrofuturismus: (1) er trägt zur Entfaltung einer Posthumanität bei, die sich weigert, an den Universalismus der weißen Aufklärung gebunden zu sein (mit oder ohne Fortschrittserzählungen); (2) er funktioniert in Form von Chronopolitiken, was Eshun das afrofuturistische “Programm zur Wiederherstellung der Geschichten von Gegenzukünften” (2002, 288) nennt, wobei der Afrofuturismus die Vergangenheit neu erfindet, um schwarze Zukünfte in die Entfaltung der Gegenwart zu integrieren; und (3) er beinhaltet eine Erweiterung des Begriffs, welche die “Sklavenmentalität” hinter sich lässt und die schwarze Existenz für eine Posthumanität im Allgemeinen öffnet – das wird bei John Jennings “Astro-Blackness” genannt (Anderson and Jones 2016, vii). Integriert werden hier die Modi eines kosmischen schwarzen Bewusstseins, sowie schwarze feministische, queere und intersektionale Identitäten.
Tatsächlich positionieren Anderson und Jones Astro-Blackness als eine Auseinandersetzung mit dem Übergang von einem “nationalstaatlich gebundenen analogen Begriff der Schwarzheit” hin zu “einer digitalisierten Ära in Richtung und im Spannungsfeld postdigitaler Perspektiven als globale Antwort auf die planetarischen Herausforderungen des schwarzen Lebens” (2016, viii). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Anderson und Jones den Afrofuturismus 2.0 bereits als mit “Migration, menschlicher Reproduktion, Algorithmen, digitalen Netzwerken, Softwareplattformen, biotechnischer Augmentation und rassifizierten Identitäten, die sich zunehmend gegenüber dem aktuellen technologischen Fortschritt materialisieren” verwoben betrachten und behandeln.
Die Bewältigung dieser planetarischen Herausforderungen war für die Philosophie, die Politik und die Künste rund um den Afrofuturismus von zentraler Bedeutung – gerade weil sich seine Perspektive auf den exoplanetaren Bereich verlagert, sei es Dr. Octagons Jupiter oder Sun Ra’s Saturn. Hier wird die Welt sowohl als Zuhause sowie als selbstgemachte Hölle betrachtet. Afrofuturismus betreibt in diesem Sinne exoplanetarische Politik. Er distanziert uns davon, der angenommenen besonderen Funktion des Menschen verpflichtet zu sein. Wie Sun Ra einmal über Nuclear War (1983) sagte: “don’t you know / if they push that button / your ass gotta go / what you gonna do / without your ass?”
Um auf den Zusammenhang zwischen Klimawandel, Migration und Digitalisierung zurückzukommen: Welche Impulse aus dem Kontext des Afrofuturismus hältst du für die innovativsten, um Alternativen und Kooperationsformen in der Ära der planetarischen Unruhen zu schaffen?
Wenn wir darüber nachdenken, Alternativen zu schaffen, beginnt die afrofuturistische Alternative auf der Ebene dessen, was es bedeutet, ein Wesen auf diesem Planeten zu sein – das heißt, was es bedeutet, etwas anderes zu werden als ein Objekt der weißen Vorherrschaft, etwas anderes als eine verbrauchbare Ressource für das Kapital.
Hier bietet der Afrofuturismus nicht nur wichtige theoretische und künstlerische Impulse, sondern auch eine Praxis in der Entwicklung des schwarzen Posthumanismus – oder besser gesagt, des Exhumanismus. Ebenso im Hinblick auf die Forderung nach innovativen Formen der Zusammenarbeit: Wir müssen darüber nachdenken, wer sich welcher Kooperative anschließt und unter welcher Maßgabe über liberale Gleichheitsgrundsätze oder sozialistische Grundsätze der wirtschaftlichen Gerechtigkeit gesprochen wird.
Durch die Infiltration des Afrofuturismus in das populäre Unbewusste durch schwarze Popmusik, Remix-Kultur und Science-Fiction wird nur eine der gesellschaftspolitischen Kräfte seiner vielseitigen Imagination offenbar. Doch genau das ist vielleicht die stärkste: Er sät Afrofutures, dort, wo noch gar nicht darüber nachgedacht wird, wessen Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn der Afrofuturismus, auch als “Ästhetik”, in den populären Diskurs eintritt, neigen seine schwarzen spekulativen Zukünfte und revisionistischen Geschichten dazu, zu hinterfragen, von wessen Weltbild “wir” sprechen – von wessen sozialen Bewegungen, wessen Politik, wessen “wir”?
Natürlich muss diese Frage immer gestellt werden!
Ich sage das zumindest, um zu signalisieren, wie der Afrofuturismus die Aufmerksamkeit auf die Zukunft lenkt, aber auch auf Vergangenheit und Gegenwart von Schwarzheit, der schwarzen Imagination und race im Allgemeinen auf den politischen Kampf, der alles zu kritischen Fragen der Klasse zusammenführt – nämlich wer hat eigentlich Zugang zu angeblich universellen Idee der Zukunft? Der Afrofuturismus hinterfragt Klasse als Grundlage für gesellschaftspolitische Organisation, indem er Rasse kritisch als eine weiße supremazistische Ordnungsfunktion versteht, die das Anthropozän in Menschen, Untermenschen und Nicht-Menschen einteilt. Kurz gesagt, man kann nicht Teil einer revolutionären Klasse sein, wenn man von vornherein von der Kategorie des Menschen ausgeschlossen ist.
Der Afrofuturismus weist auf den ungleichmäßigen Einsatz der Rassifizierung als strukturelles Mittel hin, um festzustellen, wer oder was zur Verfügung steht. Wenn man also darüber nachdenkt, wie man die Klasse positioniert – nicht ihre analytische Negation, sondern ihre strategische Ergänzung, wie es ihre ausschließende Geschichte erfordert -, bietet der Afrofuturismus so etwas wie einen Fluchtplan aus der Hierarchie des Humanismus und seiner Großen Kette von Wesen, von denen die meisten in der “Arbeitsfalle” schmoren. “Break the chains of being – embrace becoming” mag ein eher schwerfälliges philosophisches Meme sein, aber es bedeutet eben, dass wir alle an uns selbst arbeiten müssen. Bevor du mit den anderen zusammenarbeitest, wer/welches Andere wirst du? An wessen Zukunft arbeiten “wir” alle mit? Anstatt dem Afrofuturismus die Last aufzubürden, auf diese Frage zu antworten, sollten wir uns vielleicht fragen, wie die gegenwärtigen europäischen Sozialbewegungen ihrerseits Zukunft jenseits der Parameter Migration, Klima und Digitalisierung angehen können.
Wenn ich also hier über den Afrofuturismus spreche, dann im Kontext der kulturellen und gesellschaftspolitischen Kämpfe einer Afrodiaspora, die über Jahrhunderte europäischer und amerikanischer Sklaverei und Kolonisierung zwangsläufig verstreut ist. Der Afrofuturismus setzt sich mit dieser Geschichte auseinander und versucht, ihren destruktiven Auswirkungen durch die unzähligen Praktiken der spekulativen blackness entgegenzuwirken, die in erster Linie das Imaginäre dekolonisieren.
Alles in allem geht es doch darum, die kapitalistische Dezimierung der planetarischen Zeit so zu begrenzen, dass es mehr Zeit gibt, eine andere Zeit (für den Anderen), um anders zu handeln, anders zu sein und zu werden. Es geht um nichts Geringeres als den Abbau des Kapitalismus, des Patriarchats, der weißen Vorherrschaft, in dem radikalen Traum von einem zukünftigen Planeten Erde, auf dem wir nicht mehr an die Idee gebunden sind, Mensch zu sein.
Anm. d. Red.: Lesen Sie den ersten Teil des Interviews hier. Die umfangreichen Literaturhinweise finden Sie hier. Die englische Originalversion können Sie hier lesen. Das Foto oben stammt aus “Lost Alien” von tobias c. van Veen und ZiggZaggerZ the BASTARDXXX. Es steht unter einer CC-Lizenz.