Der Begriff “Lehrkörper” kommt etwas spröde daher. Im Amtsdeutsch wird damit die Gesamtheit aller Lehrenden an einer Schule oder Universität bezeichnet. An die Körperlichkeit des Unterrichtens denkt dabei vermutlich niemand. Doch genau darum geht es dem Philosophen Federico Ferrari. Seiner Meinung nach spielt die Verkörperlichung von Gedanken im Zeitalter des körperlosen “virtuellen Lernens” eine zentrale Rolle.
Ich bin mir selbst zum Trotz Professor geworden. Ich unterrichte Philosophie der Künste an der Académie des Beaux-Arts de Brera in Mailand. In diesem Rahmen leite ich den Fachbereich “Visual Cultures and Curatorship”. Wenn ich “mir selbst zum Trotz” sage, dann, weil ich in meinem ganzen Leben niemals daran gedacht hätte, Professor zu werden.
Ich habe mich oft gefragt, warum ich mich dazu entschloss, einen großen Teil meines Lebens dem Unterrichten zu widmen. Durch meinen Charakter, dem eine gewisse Schüchternheit inne ist, fällt es mir schwer, vor anderen zu sprechen. Vermutlich haben mich andere Menschen inspiriert. Denn ich hatte stets das starke Gefühl, vor allem im lebendigen Kontakt mit ProfessorInnen das gelernt zu haben, was ich heute als meine eigentliche Profession begreife: das Denken.
Wissen verkörpern
Was ich als Student erstaunlich fand: Ich habe viel mehr von den “kleinen” Professoren gelernt, als von den großen Stars an den Universitäten in Italien und Frankreich, wo ich studiert habe.
Ich glaube, das kommt daher, dass man sich als Student nicht nur bloßes Wissen aneignet, sondern etwas, das sich den gängigen Kategorien der Wissensvermittlung entzieht. Was an den Universitäten oft nicht beachtet wird: Unterrichten geht nur im Modus der Beziehung.
Man baut eine Beziehung zu einer Person auf. Zu ihrer Sprache, ihrer Stimme, ihrer Haltung, ihrem Schweigen, ihren Sicherheiten und Unsicherheiten, ihrem Elan und ihrer Güte aber auch ihren Ängsten, ihren Sorgen, ihrer Ironie. So hat mir das Unterrichten ein sehr genaues Gefühl davon vermittelt, wie Denken und Leben zusammenhängen.
Es ist, als bräuchte der Gedanke einen Körper, um sich zu realisieren. Und es ist, als endeten die Kurse nicht wirklich mit dem Ende der wissenden Sprache, sondern als gingen sie immer weiter. Beispielsweise in jenen Augenblicken, die dem Verstummen der Sprache folgen: dem Schweigen und den Blicken in Cafés und auf den Fluren. Die Erfahrung der Verkörperlichung eines Gedankens – das ist es, was mir das Unterrichten gegeben hat.
Auf diese Erfahrung bezogen, scheint es mir wichtig, sich auch mit Wahrheit zu beschäftigen. Vielleicht nicht direkt mit Wahrheit, aber ganz sicher mit einer untergeordneten, nicht weniger wichtigen Frage: die Frage einer gewissen Ehrlichkeit.
Unterrichten: wahr und ehrlich
In den ersten Jahren des Lernens gibt es einen unerschütterlichen Glauben an das Wissen und ein fast bedingungsloses Vertrauen in die, die wir unsere Meister nennen. Natürlich gibt es auch Transfers in dieser Schüler-Meister-Beziehung (und heute, ich weiß, auch Gegentransfer).
Es handelt sich also um eine brüchige Beziehung, in der es nur zwei fundamentale Anforderungen gibt, die wir an die ProfessorInnen haben: Sag mir die Wahrheit und sei ehrlich. Genau das ist es, was wir vom Unterricht erwarten.
Diese maßlose Beziehung zum Wissen und zur Wahrheit muss ehrlich sein. Es gibt ProfessorInnen, die es schaffen, uns die Idee zu vermitteln, dass es nicht nur um ein Spiel geht, um eine Karriere. Sie vermitteln uns, dass in dieser Sprache, die an uns adressiert ist und in dem Schweigen, das ihr folgt, wir – Professoren und Studenten – die tiefste Sphäre unseres Lebens berühren. Dort, wo Lügen nicht mehr möglich sind, oder wo wir ehrlich sind (mit uns selbst und mit den Gedanken) oder wo wir gar eine Karikatur werden, ein einfacher Beamter.
In diesem Sinn muss über das virtuelle Lernen ernsthaft nachgedacht und diskutiert werden. Das Internet hat mit seinem körperlosen Körper eine fundamentale Bedeutung für die Verbreitung von Wissen. Doch es wird wohl nie in irgendeiner Weise diese Beziehung zwischen Körper und Gedanken, die ich beschrieben habe, berühren.
ich verstehe schon, die Körperlichkeit des Unterrichtens. Doch alles wird jetzt immer unter dem Vorbehalt der sexuellen Belästigung und des Überschreitens von Grenzen gesehen, so dass Lehrerinnen und Lehrer extrem vorsichtig sind, ihre eigene Körperlichkeit in den Unterricht zu tragen (und ich meine Körperlichkeite und nicht Sexualität).
@Emil: Du hast recht, andererseits: Der Beruf des Lehrers ist sehr verantwortungsvoll. Wenn Leute das ausnutzen und ihre Schützlinge belästigen, muss darüber diskutiert werden. Diskutieren kann nerven, aber alles andere wäre noch falscher.
Und: ein superschöner, poetischer Text über das Dasein des Lehrenden/Lernenden!
Ich finde es erfrischend, einen Text zu lesen, der mal nicht vom “dialogischen Lernen” spricht, sondern konkret die Beziehung beschreibt, die Lehrede und Lernende eingehen. Die Hochschuldidaktik könnte mehr solcher Texte vertragen!!