Hier in Berlin, im Gewimmel der Hipster, Touristen und Ex-Ossis, öffnet der Blogger Aidin Halimi Asl seine Augen und blickt einen Moment lang durch den Vorhang der Erinnerung auf seine Kindheit im Iran. Eine literarische Reise.
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Ohne die Luft anhalten zu müssen, tauche ich manchmal tief in meine Kindheit. Genauer gesagt in die Erinnerungen von meiner Kindheit. Sie sind voller Staub. Die Staubschicht ist aber so dick, dass sie zu einer samtenen Matratze wird, auf der es sich liegen und nachdenken lässt. Es herrscht eine angenehme Hitze, die einen erschlägt und gleichzeitig vitalisiert.
Ich atme durch die Nase und lasse den Geruchssinn in die Vergangenheit schweifen. Es riecht nach geräuchertem Fisch, nach Kräuterreis. Ich rieche alte Schulbänke, die in der Luft tanzende Kreide, den in der Luft wogenden Duft aus der Bäckerei, die auf dem Schulweg liegt. Ich rieche den Teer, den die Mittagssonne geschickt dem Asphalt entlocken kann.
Ich schließe die Augen und schaue zurück. Die Straßen sind voller Bewegung, die man Leben nennt. Viele Händler versuchen ihr Glück. Oder vielleicht doch ihr Unglück? Ein menschliches Wesen, das von einem pechschwarzen Tschador verpackt ist, geht schnellen Schrittes über die Straße, mit einem ungewöhnlich großen Radius der Kopfbewegung, weil die Sicht eingeschränkt ist. Der dogmatischen Geschlechterrolle zufolge müsste es eine Frau sein, aber die Ganzkörperbedeckung erlaubt keine Bestimmung des Geschlechts.
Vielleicht ist es ein Mann, der sich verkleidet, oder eine Frau, die gerne ein Mann sein möchte, oder ein Mann, der sich nicht auf ein Geschlecht festlegen will. Ich sehe schreiende, lachende, weinende und vor allem laute Kinder, die die Gassen zu ihren autonomen Spielplätzen erklären und Steine, Äste, Mauer und Bäche in ihre Spielzeuge umfunktionieren. Ich sehe Kalligraphie auf Transparenten, sich windende ringelnde Buchstaben.
Lyrik arrangiert sich mit dem Alltag, ist unübersehbar, unüberhörbar. In der Kartographie meines Gedächtnisses stolpere ich oft über poetische Überbleibsel. “Cheshmha ra bayad shost, jure digar bayad did … Chatrhara bayad bast, zire baran bayad raft” (Sohrab Sepehri: “Die Augen müssen ausgewaschen werden, vielleicht öffnen sich dann andere Perspektiven… Die Regenschirme müssen zugeklappt werden. Im Regen müsste man stehen bleiben.”) Ich sehe einen kleinen Jungen. Seine Kleider sind alt und zerrissen. Er strahlt Armut aus. Wenn er lächelt, wirkt die Armut erhaben.
Es ist die schönste Paradoxie, wenn das durch die Lippen gezauberte Glück das materielle Unglück übertüncht. Ich sehe Goldfische in Plastiktüten, ich sehe das Tempo der Metropole. Ich sehe überall willkürlich definierte Fußballfelder, auf dem Rasen im Park, auf der Straße, neben dem Mausoleum und auf den Parkplätzen. Ich sehe den alten Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht, der jede Woche seine Karre vor sich herschiebend mit seiner warmen Stimme die Menschen aus den Häusern lockt, die ihm ihr altes Brot geben und er ihnen Salz. Ich finde ihn ungemein faszinierend. Sein Rücken ist gekrümmt, sein Körper bebt. Seine Stimme aber klingt prophetisch klar und göttlich stark.
Es gibt viel zu sehen, zu fühlen, zu hören, zu riechen und zu schmecken, wenn ich meine Kindheitserinnerungen heraufbeschwöre. Augenfällig ist aber, dass die Erinnerungen, die wie Seifenblasen aufsteigen und wieder zerplatzen, mir Lebensbejahung und Hoffnungsfreudigkeit versprechen. Nicht dass es in meiner Kindheit keine herben Schicksalsschläge gab, oder dass ich sie verdrängt hätte. Nein! Die unangenehmen Realitätsfetzen sind ein präsenter Bestandteil meiner Erinnerungskultur.
Aber wenn sich damals etwas Unliebsames ereignete, konnte ich das Ausmaß des Leids nicht erfassen. Das einem Ereignis entspringende Leid an sich hatte keine Bedeutung. Nur das Leid der Erwachsenen in meiner Umgebung machte mich stutzig und traurig. Die Leute sind traurig, also müsste etwas Trauriges geschehen sein. Meine Kindheitserinnerungen sind voller Glücksmomente. Das Glück scheint, instinktiv zu funktionieren. Das Leiden kann allem Anschein nach kognitiv erworben werden. Es ist erlernbar.
Es wird dem Menschengeschlecht nachgesagt, es neige stark dazu, seine Kindheit zu idealisieren. Vielleicht ist es kein Idealbild, das der Kindheit innewohnt, sondern die Realität. Vielleicht ist die Kindheit tatsächlich die schönste Zeit. Der Erwachsene wird geplagt von künftigen Sorgen und vergangenen Versäumnissen. Die Gegenwart wird kaum wahrgenommen.
Das Kind-Sein heißt aber, in der Gegenwart zu leben. Ich kann mich nicht erinnern, mir als Kind Sorgen gemacht zu haben, ob ich die Nacht gut schlafen werde, ob es in Ordnung gewesen war, dass ich den Nachbarjungen geohrfeigt habe. Nicht, dass es keine Sorgen gab, nur sie waren an der Gegenwart gebunden. War Mama gerade nicht anwesend, weinte ich. Sobald ich ihre Schritte hörte oder ihren warmen Körper spürte, huschte das Unglück über das Kopfkissen und verlor sich in einem Lächeln.
Warum sollte ich erwachsen bleiben? Warum sollte ich ständig nach Rezepten suchen, die Glück versprechen? Macht die Unbekümmertheit nicht ein Großteil des Glücks aus? Man kann wieder lernen, ein Kind zu sein, losgelöst von der Zeit. Ballast abschütteln. Lernen, wieder daran zu glauben, schneller laufen zu können als ein Pferd, stärker zu sein als der Baum. Glücksmomente kann man besonders dann erleben, wenn man das Kind in sich wieder zu sich ruft.
Ich war ein Kind, wurde erwachsen und will wieder ein Kind werden. Ich möchte wieder wissen, um des Wissens Willen, nicht damit ich einen Abschluss habe und die Zukunft meisterhaft verwalten kann. Ich will spielen bis zur Erschöpfung. Ich will lachen bis zur Erschöpfung. Ich möchte ein wenig Abstand nehmen vom Ernst des Lebens. Ich verstehe nicht einmal das Leben, geschweige denn seinen Ernst. Ich möchte wieder dem Luftballon zuwinken, der sich vom Seil gelöst hat. Ich will stundenlang neben einer Schiene sitzen und auf den Zug warten. Ich will mich Stunden lang auf den Zug freuen und mich darüber freuen, wenn er vorbeizieht. Ich will meine Freunde umarmen, unabhängig von ihrem Geschlecht.
Ich möchte keine Freundschaften schließen, ich möchte sie öffnen. Freundschaften, die sich nicht in Frage stellen, sondern die Antwort sind. Ich möchte, dass Freundschaften zu Kulturen werden und nicht die Nationen. Ich möchte, dass es mir ein Rätsel bleibt, wenn jemand von Grenzen spricht. Ich möchte das Leiden nicht verstehen. Ich möchte, dass Pathetik natürlich klingt. Ich möchte Ideale, die keine Ideologien sind. Aus diesem Grund bleibt mir nur der Ruf: „Kinder aller Länder, vereinigt euch!“
Anm.d.Red.: Die Fotos stammen von simaje und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
Unglaublich schön und stark.
danke, sehr berührend.
Ein unglaublich starker und in seiner art ehrlicher text! es ist beruhigend auch solche artikel zu lesen über den iran. ich musste des öfteren schmunzeln, weil mir etwas bekannt vorkam aus seinen erzählungen.
Wunderschön! Ich wäre froh, solch schöne Erinnerungen an meine Kindheit zu haben – eine Kindheit in Deutschland. Leider ist das nicht so…..
Danke euch allen für die vielen Blumen
Wooww sehr sehr berührend und sehr schön ausgedrückt. Wirklich hervorragend.