TV-Serien sind die Blockbuster unserer Zeit. Kilometerlange Erzählfäden, knifflige Cliffhanger und schockierende Enthüllungen sind das Nikotin der Serienjunkies. Wie sah das eigentlich alles aus, bevor es den Serienhype gab? Alles nur Seifenopern? Mitnichten! Berliner Gazette-Autorin Michelle Martin hat sich “Szenen einer Ehe” – eine der ersten global erfolgreichen Serien – angeschaut und befindet: Für Junkies von heute das ersehnte Nikotinpflaster.
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Er: lässig, stark, selbstbewusst. Sie: zurückhaltend, etwas steif, präsent. Wie würde die Geschichte von Johan und Marianne aussehen, wäre sie den erzählfadenenspinnenden Drehbuchautoren von Netflix (House of Cards, Lillyhammer) oder HBO (Game of Thrones, True Detective) im Jahr 2014 in die Hände gefallen? Kaum auszumalen! Obwohl die erfolgreichen Serien-Macher von heute “Szenen einer Ehe” bestimmt kennen.
Die Story wurde vor mehr als 40 Jahren von Ingmar Bergman als Miniserie verfilmt. Es sind sechs Episoden, die sich vor allem durch eines auszeichnen: Nicht-Serienhaftigkeit. Bergman setzt tatsächlich Szene an Szene. Spannungsbogen, roter Faden, unerwartete Wendungen – die Kniffe der gegenwärtigen Serien-Industrie finden hier keine Anwendung. Dennoch: Wir werden reingezogen in eine Welt und wollen nach einer Episode gleich mehr sehen. Dass dieser Serien-Effekt mit anderen Mitteln erreicht wird, ist ziemlich erfrischend.
Fassaden und Selbstverwirklichung
Schon in der ersten Episode wird auf den Punkt gebracht, was in diesem Beziehungskosmos schief läuft: „Der Mangel an Problemen sei an sich schon ein schweres Problem“. Ganz subtil inszeniert der Filmemacher hier zu Beginn die unsichtbaren Spannungen des Ehepaares und akzentuiert deren ungelenke, zaghafte Gestik, sowie das offensichtlich viel zu friedliche, harmonische Miteinander. Streitigkeiten? Fehlanzeige.
Wir werden Zeugen eines Medieninterviews. Das Glück des Paars soll abgefeiert werden – wie sie sich selbst sehen und gesehen werden wollen. Johan und Marianne lassen es zu. Und wir machen da auch mit. Als Zaungäste, stille Beobachter, Voyeure. Wir schmunzeln über die gebildete Naivität der beiden und werden so nach und nach zu Komplizen. Ob wir am Ende noch immer unbeschadet außen vor stehen? Ob wir auch nach dem Knall nur überlegene Zaungäste sind? Um Klarheit über Grenzverläufe muss jeder selbst ringen.
Schon bald bekommt die perfekte Fassade des Medien-Paars Risse. Spätestens als Johan gesteht, er hätte sich in eine junge Studentin verliebt, herrscht Unfrieden im Paradies. Von nun an regiert das wie angelesen wirkende Programm “Ehrlichkeit” die nimmermüden Konversationen der beiden.
Genau diese Gespräche sind es, die den Blick für Johans und Mariannes Beziehung öffnen und uns Einblick gewähren in ihr Seelenleben. Die musterhafte Marianne, stets zurückhaltend und darauf aus, die Bedürfnisse und Wünsche ihres Mannes zu befriedigen – sie huscht nun etwas nachdenklich durchs Leben. Ironischerweise ist sie selbst Scheidungsanwältin, man sollte also meinen, sie hätte die Krise irgendwie antizipieren können.
Ihr gegenüber Johan: selbstbewusst, charismatisch, überzeugt von sich als Mensch und Mann, im Mittelpunkt. Die Rollenverteilung scheint eindeutig, sobald sich aber immer offensichtlicher Probleme und schließlich die Trennung abzeichnen, beginnt sich das Rollenverhältnis zu verschieben. Marianne wird selbstbewusster und Johan realisiert schließlich in seinem Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung einen großen Fehler gemacht zu haben.
Selbst als sich die beiden wiedersehen, zunächst nach einem Jahr, dann später erneut – selbst dann werden wir Zeugen einer schier unerträglichen Spannung.
Protokolle eines Seelen-Striptease
Szenen einer Ehe wird in den Dialogen der Hauptdarsteller erzählt. Auf absolut sachliche, fast emotionslose Weise werden Gefühle und Gedanken analysiert. Auch als Johan seinen Seitensprung beichtet, geschieht das in protokollarischer Ehrlichkeit. Marianne reagiert darauf zwar verzweifelt, hilft ihm jedoch in einer an Absurdität fast nicht zu übertreffenden Situation seine Sachen für die Reise mit der jungen Geliebten zu packen.
Als die Serie 1973 Jahren zum ersten Mal im schwedischen Fernsehen lief und später auch in der DDR und BRD zu sehen waren, stiegen die Scheidungsraten angeblich stark an. Doch warum sollten wir heute einschalten?
Der Stoff ist hochaktuell: Die Ehe ist noch immer eine Institution in unserer Gesellschaft und beim Mix von Analyse und Humor erweist sich Bergman als Woody Allen Europas (die Dialoge, der Blick auf Beziehungen, etc.) – wenn das Verwandschaftsverhältnis nicht genau umgekehrt wäre: natürlich ist Allen ein Erbe Bergmans.
Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum wir “Szenen einer Ehe” mit unseren modernen Serienaugen anschauen sollten. Der verschollene Klassiker erweist sich als das lang ersehnte Nikotinpflaster unter den TV-Serien: Kleine Schübe des Suchtstoffes sind drin, aber ansonsten ist das eine ziemlich ernste und erwachsene Angelegenheit. Wer durchhält, überlegt beim Drang nach dem nächsten Serienkick zweimal. Vielleicht lieber eine weitere Miniserie anschauen (etwa “K-Street” von Steven Soderbergh oder “Mildred Pierce” von Todd Haynes) statt der sieben Staffeln à 24 Folgen, die heute Normalfall sind?
Anm. d. Red.: Mit „Szenen einer Ehe“ gelang Ingmar Bergman 1973 nicht nur ein großer Kritikererfolg, der unter anderem mit dem Golden Globe als Bester ausländischer Film belohnt wurde, er erreichte und berührte mit seiner ehrlichen, schonungslosen Sicht auf die Institution Ehe auch ein Millionenpublikum. 30 Jahre später drehte er mit „Sarabande“ eine nicht minder beeindruckende Fortsetzung seines mittlerweile zum Klassiker avancierten Ehedramas mit denselben Hauptdarstellern, die gleichzeitig seine letzte Regiearbeit wurde. Erstmals sind nun in einer 3-Disc-Blu-ray-Edition die Kino- und TV-Fassung von „Szenen einer Ehe“ und „Sarabande“ gemeinsam erschienen. Weitere Klassiker sind bei einem Festival anlässlich des 20 jährigen Jubiläums von ARTHAUS zu sehen. Mehr zu TV-Experimenten lesen Sie wiederum in unserem Dossier Fernsehen 2.0.
Haha! ich fand das schwerer diese Serie zu schauen, als mit dem Rauchen aufzuhören. Guter Text aber!