Zurueckgeblieben. Unterentwickelt. Unzivilisiert. Unaufgeklaert. Mehr Tier als Mensch. Das ist der Wilde. Ein Konstrukt der europaeischen Moderne. Die Ausgeburt einer kollektiven Imagination, die Standards modelliert im Hinblick darauf, was Fortschritt ist, was Moderne und Gerechtigkeit und was Menschlichkeit ist. Der Wilde ist die Negativ-Folie.
Nur augenscheinlich widerspruechlich ist, dass man ihn zu romantisieren, vergoettern und begehren beginnt. Sollte das Projektil die imperiale Expansion [damals und heute] legitimieren, so hat das Stigmatisierte als Verdraengtes stets auch Sehnsuchtspotenziale verkoerpert.
So war das Wilde, das man schon immer ausrotten wollte, auch schon immer im Begriff wiederzukehren. Zunaechst als domestiziertes Luxus-Objekt [der edle Wilde], spaeter als die Kehrseite der Aufklaerung im Zuge einer grundlegenden Kritik, wie sie spaetestens seit dem 1. Weltkrieg unueberhoerbar wird: als die andere Seite des Verstandes, als das Ungedachte und Undenkbare. Die Kritik geht mit einer Suche nach neuen Arealen einher. >Der Mensch ist muede vom Mensch-sein<, sagt Nancy. Kojeve spricht von >Animalisierung<. Steht im Zuge dessen in den neuen Arealen des Denkens das Wilde nicht quasi-automatisch im Raum? Wildes Denken setzt die Kritik an der europaeischen Moderne fort. Der Begriff >Wildes Denken< artikuliert dieses Programm, dieses Anliegen, das nicht zu verstehen ist als das zerebrale Pendant zum >wilden Sex<. Kein >abgedrehtes<, vollkommen losgeloestes und kopflos-leidenschaftliches Denken, sondern ein Denken an den Grenzen seiner Beschraenkungen. Der Widerspruch setzt neues Potenzial frei. Welcher Widerspruch? Denken war stets nur Nicht-Wilden moeglich. Wilde hatten weder die Lizenz, geschweige denn die Faehigkeit zu denken. Wildes Denken ist das Denken der Wilden: Denkende Wilde und der Versuch, das Wilde zu denken.