Das Kalkül imperialer Expansion widerspricht oft der Kosten-Nutzen-Analyse. Doch was wie irrationales Wirtschaften aussieht, für das kein Preis zu hoch und kein Umweltschaden zu groß ist, folgt dennoch einer politisch-ökonomischen Rationalität im Zeichen der Machtakkumulation, wie Mark Cinkevich und Anna Engelhardt in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” am Beispiel von Belarus und Russland im Kontext der Elektrizitätsgewinnung zeigen.
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Die Politik der Elektrizitätsgewinnung wird weitgehend von der expliziten Gewalt der Öl- und Gaspolitik überschattet. Vor allem im Falle Russlands schienen Öl und Gas der Dreh- und Angelpunkt der Stärke des Putin-Regimes zu sein. Heute, da die Forderungen nach einem Energieembargo gegen Russland lauter werden, hoffen wir, die Legitimität solcher Forderungen zu untermauern und ihre Reichweite zu vergrößern, indem wir die Frage der Elektrizität aufwerfen. Auch wenn unsere Untersuchung der Abhängigkeit von der durch Russland bereitgestellten Elektrizität vor der Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine entwickelt wurde, ist die koloniale Logik, die sie offenbart, immer noch von Bedeutung.
Um einen Einblick in die koloniale Energiegewinnung Russlands zu geben, ist es uns ein Bedürfnis, zunächst zu erklären, warum wir das Thema als eine Frage der Kolonialpolitik und nicht der Klassenpolitik betrachten. Auch wenn beide eng miteinander verbunden sind, können (und sollten) bestimmte Arten kolonialer Gewalt nicht mit der Logik des Kapitals erklärt werden. Extraktion ist ein besonders nützlicher Begriff, um einen solchen Unterschied zu erklären. Die Extraktion von Werten schließt in manchen Fällen die koloniale Extraktion nicht aus, wobei sich beide Arten gegenseitig verstärken.
Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, wie ein Imperium (z. B. Großbritannien) Energie (z. B. Kohle) aus souveränen Staaten extrahiert, die in koloniale Abhängigkeit geraten sind (Indien, Nigeria). Entscheidend ist, dass die koloniale Extraktion nicht notwendigerweise auf die Gewinnung von Werten abzielt, sondern dieser auch aktiv widersprechen kann. In diesem Text werden wir diesen besonderen Fall analysieren: die Energieinfrastruktur, die mit einem großen finanziellen Verlust für die Kolonialmacht aufgebaut und unterhalten wird. Obwohl sie in wirtschaftlicher Hinsicht ineffizient ist, hat sie ihre Bedeutung für Russlands koloniale Expansion bewiesen.
Die “Energieunabhängigkeit” von Belarus
Während der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko behauptet, es gebe “keinen größeren Wert als ein souveränes und unabhängiges Belarus”, wurde sein Atomkraftwerkprojekt in Ostrovets von Russland gesponsert, um Belarus in das russische Stromnetz einzubinden. Seit der Ankündigung des AKW-Projekts in Ostrovets im Jahr 2008 hat es unablässig kleine und große Katastrophen verursacht. Eine davon ereignete sich im Juli 2016, als ein 334 Tonnen schwerer Reaktorbehälter aus vier Metern Höhe auf die Baustelle fiel. Alexander Lokschin, Direktor von Rosatom, war der erste, der sich öffentlich zu dem Unfall äußerte und behauptete, der Behälter sei nicht beschädigt und es seien keine Verformungen festgestellt worden. Der staatliche belarussische Verband der Elektrizitätswirtschaft “Belenergo” schwieg und überließ es Russland, auf die wachsenden Bedenken zu reagieren.
Es mag seltsam erscheinen, dass die einzige öffentliche Erklärung zum Kern des belarussischen Atomkraftwerks aus Russland kam. Ein Blick darauf, woher die Teile des AKW stammen, liefert jedoch eine klare Erklärung. Um zu veranschaulichen: Wir können einen neuen Nuklearbehälter verfolgen, der später im Jahr 2016 verschifft wurde, um den ersten zu ersetzen, der “nicht verformt” war. Dieser neue AKW-Kern wurde von Atommash, einem Nukleartechnikunternehmen mit Sitz in Wolgodonsk in der Region Rostow, Russland, mit der Eisenbahn verschifft. Während des Transports wurde der neue Behälter gegen einen Betonpfeiler im Bahnhof “Slavnoe” in Belarus geschleudert. Zahlreiche Fotos zeigen das Schiff beim Transport ohne Schutzhülle. Dennoch wurde der Behälter installiert.
Verstöße wie diese häufen sich und machen weitere schwere Unfälle im Atomkraftwerk Ostrovets unausweichlich. In der Zusammenfassung der Vertragsparteien des Espoo-Übereinkommens fehlt ein wichtiges Detail: die Verletzung der Souveränität von Belarus. Das AKW, das als belarussisches Projekt berüchtigt ist, ist in Wirklichkeit ein Projekt der russischen Regierung. Das AKW in Ostrovets folgt den Regeln der Etikettierung, die sich auf einem globalisierten Markt bewährt haben. Da praktisch alle Teile in Russland produziert und hergestellt werden, von den Leistungsreaktoren bis zum Uran, ist das AKW “made in” Belarus, da es in Belarus montiert wird. Russland spielt für das AKW eine ebenso wichtige Rolle wie das Uran, ohne das das AKW praktisch nutzlos ist. Belarus verfügt weder über natürliche Uranvorkommen noch über technische Kapazitäten für den Anreicherungsprozess und ist daher in beiden Bereichen direkt von Russland abhängig.
2011 unterzeichneten Belarus und Russland ein bilaterales Abkommen über die Verteilung der Mittel für den Bau des AKW. Dem Abkommen zufolge wird Russland 90 Prozent aller Kosten übernehmen, während Belarus nur die restlichen zehn Prozent zahlt. Diese unverhältnismäßige Verteilung der zugewiesenen Investitionen ist besonders rätselhaft, wenn man bedenkt, dass das Projekt als Garant für die Energieunabhängigkeit von Belarus gedacht war. Russland investiert nicht nur in den Bau einer Energieinfrastruktur im Ausland, sondern behauptet auch, dies zu tun, ohne die Aussicht, weder Ressourcen noch finanzielle Gewinne zu erhalten.
In Anbetracht der Tatsache, dass stromproduzierende Unternehmen fast überall eingesetzt werden können, insbesondere im Falle von AKW, sollte das Interesse Russlands am Bau eines AKW außerhalb seines Hoheitsgebiets Anlass zur Sorge geben. Das Verschweigen der Gründe für diese immense “Hilfe” für die Energieunabhängigkeit wird durch die Tatsache verstärkt, dass Belarus keine natürlichen Uranvorkommen besitzt. Russland mit seinen geschätzten 500.000 Tonnen Uranvorkommen im Südural, in Westsibirien und in Sibirien östlich des Baikalsees wird garantiert ein wichtiger Importeur sein. Bevor das Uran für das AKW in Ostrovets nach Belarus geliefert wird, muss es in der Novosibirsker Anlage für chemische Konzentrate angereichert werden, was ebenfalls ohne eine strategische Zusammenarbeit mit Russland unmöglich ist.
Inter-imperiale Kämpfe um die Energiehegemonie
Neben der Versorgung des AKW mit angereichertem Uran und Investitionen muss Russland auch Energie von dem Unternehmen kaufen, während es selbst zu viel Energie produziert. Im Juni 2017 verkündete der Seimas der Republik Litauen das Gesetz Nr. XIII-451. In Artikel 1 wurde das AKW im Bezirk Ostrovets in der Republik Belarus als unsicher und als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Republik Litauen, die Umwelt und die öffentliche Gesundheit eingestuft. Dieses von Präsidentin Dalia Grybauskaitė unterzeichnete Gesetz blockierte sofort jegliche potenzielle Zusammenarbeit zwischen Belarus und Litauen im Energiebereich.
Zur Unterstützung Litauens lehnten andere EU-Mitgliedstaaten, darunter Polen und Lettland, die aus Ostrovets gewonnene Energie ab. Die Europäische Union will auch verhindern, dass Strom aus dem neu errichteten belarussischen AKW in die Europäische Union fließt. Dazu soll das gemeinsame Stromnetz von Belarus und Russland, Estland, Lettland und Litauen, der so genannte “BRELL-Ring”, zerschlagen werden. Auch die Energiekooperation mit der Ukraine ist bereits seit der Annexion der Krim durch Russland und dem anschließenden Austritt der Ukraine aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im Jahr 2018 unmöglich.
Russland ist deshalb so stark in das AKW-Projekt involviert, weil der Betrieb des Unternehmens, obwohl wirtschaftlich und ressourcenmäßig unzweckmäßig, die Kontrolle über die gesamte Energieinfrastruktur Belarus’ ermöglicht, was bei der Öl- und Gasversorgung undenkbar wäre.
Mit der Inbetriebnahme des AKW im Jahr 2020 werden zu den 36-38 Milliarden Kilowattstunden (KWh), die Belarus jährlich produziert und verbraucht, etwa 18 Milliarden KWh pro Jahr hinzukommen. Eine solche gigantische Steigerung bedeutet, dass Belarus 150 % des Verbrauchsbedarfs des Landes produziert – eine Situation, die keineswegs unvorhersehbar ist, denn bereits 2010 kam die “Öffentliche Umweltexpertenkommission” zu dem Schluss, dass der Bau eines Atomkraftwerks in Belarus aus ökologischen, technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht akzeptabel sei. Dennoch bestand Alexander Lukaschenko auf der Umsetzung des Projekts in der Hoffnung auf einen Anstieg des Energieverbrauchs. Die wirtschaftliche Stagnation, die Finanzkrise, die politische Krise und die sozialen Unruhen der kommenden Jahre wirkten sich negativ auf die Dynamik des Energiesektors aus. Infolgedessen war in den letzten zwölf Jahren kein Wachstum des Energieverbrauchs zu verzeichnen. Daher hat die jüngste Inbetriebnahme des AKW zu einer massiven Überproduktion geführt.
Parasitäre Infrastruktur
Der Knackpunkt des Projekts wird deutlich, wenn man sich ansieht, wie die Überproduktion von der belarussischen Regierung gesteuert wird. Belarus scheint nicht nur von Russland abhängig zu sein, sowohl als Lieferant von Uranressourcen als auch als Abnehmer der überproduzierten Energie, sondern es hat auch ein Programm mit dem Titel “Maßnahmenpaket zur Integration des belarussischen AKW in das einheitliche Energiesystem von Belarus” initiiert. Dabei beschloss die Regierung, die bestehende Infrastruktur durch die Installation von “Spitzenreservekapazitäten” zu erhalten. Das bedeutet, dass die bestehenden Kraftwerksblöcke mit hoher Leistung abgeschaltet und stillgelegt werden, während Kraftwerksblöcke mit geringerer Leistung, so genannte “Spitzenreserven”, installiert werden.
Das Programm sieht die Schaffung einer parasitären Infrastruktur um das AKW herum vor, deren einziger Zweck es ist, dessen Betrieb zu unterstützen. Gleichzeitig ergreift die belarussische Regierung eine Reihe von Maßnahmen zur Verringerung der Produktivität bereits bestehender Heizkraftwerke und erdgasbefeuerter Wärmekraftwerke. Aufgrund der häufigen Abschaltungen von Atomkraftwerken und der derzeitigen Unmöglichkeit, eine ununterbrochene Stromversorgung zu gewährleisten, werden die bestehenden Energieunternehmen jedoch in Betrieb bleiben, um mögliche Energieengpässe auszugleichen. Insbesondere die beiden größten Energieerzeugungsanlagen in Belarus befinden sich in einem solchen Umbau. Dies wird zu einer unumkehrbaren Verringerung der bestehenden Heiz- und Wärmekraftwerkkapazitäten, zum Verlust von Arbeitsplätzen usw. führen. Außerdem werden zusätzliche finanzielle Investitionen erforderlich sein.
Das AKW in Belarus könnte kaum weiter von der Definition eines nachhaltigen und rentablen Unternehmens entfernt sein. Nach acht Jahren Projektlaufzeit hat die Regierung am 1. März 2016 ein Dekret № 169 mit dem Titel “Intersektorales Maßnahmenpaket zur Steigerung des Stromverbrauchs bis 2026” erlassen, das 2018 überarbeitet wurde. Dem Erlass zufolge soll die belarussische Regierung zusätzliche finanzielle Investitionen in Höhe von drei Milliarden Dollar tätigen, was dem Dreifachen der belarussischen Investitionen in das AKW in Ostrovets selbst entspricht, um Strom verbrauchende Infrastrukturen im ganzen Land zu schaffen. Belarus wird eine massive Elektrifizierung durchführen, bei der die größten Unternehmen des Industrieministeriums, des Ministeriums für Verkehr und Kommunikation, des Ministeriums für Architektur und Bauwesen, des Ministeriums für Wohnungsbau und kommunale Dienstleistungen, der regionalen Exekutivkomitees und des Exekutivkomitees der Stadt Minsk umgerüstet werden sollen.
Kriechendes Stromnetz
Trotz immenser finanzieller Investitionen wird dieses Maßnahmenbündel das Problem der Überproduktion nicht lösen. Mit diesen Maßnahmen könnten nur 11,4 Prpzent der in Ostrovets produzierten Überschussenergie gedeckt werden, und das auch nur bis zum Jahr 2026, während die Überproduktion bereits jetzt stattfindet.
Das AKW in Ostrovets kann nicht als isoliertes Objekt existieren. Durch seinen Betrieb wird Belarus zu einem Raum außerhalb des russischen Territoriums, der – auf der Ebene der Infrastruktur – in dieses integriert ist. Das AKW bedroht die Souveränität Belarus’, die nicht mehr durch Grenzen gestützt wird, sondern von innen heraus demontiert. Dies hat Folgen wie die Abtrennung Belarus von seiner eigenen Infrastruktur und die Verletzung der territorialen Integrität. Mit jedem Tag, der vergeht, wird der Widerstand gegen die Integration in das russische Stromnetz schwieriger, denn eine einfache Abschaltung des AKW in Ostrovets würde die gesamte Energieinfrastruktur von Belarus, seine größten Produktionsunternehmen und Städte lahm legen. Man könnte also sagen, dass mit der Inbetriebnahme des AKW in Ostrovets ein Punkt erreicht wurde, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Dieses schleichende Stromnetz reicht nun weiter. Da das Atomkraftwerk Tschernobyl durch den russischen Beschuss der Ukraine vom Netz genommen wurde, fand das Putin-Regime eine bequeme Lösung für die Entwicklung, die, wie ein Arbeiter verriet, “gegen [einen] wichtigen Sicherheitspfeiler” verstößt. Um den Stillstand der Kühlsysteme im Lager für abgebrannte Brennelemente zu vermeiden, wurden die Arbeiter des AKW Tschernobyl gezwungen, sich an eine belarussische Stromleitung anzuschließen.
Die Reichweite dieses “Stromkontakts” lässt erahnen, wie stark Russlands koloniale Expansion von seinem ständig wachsenden Stromnetz abhängt – also von einer materiellen Infrastruktur, die letztlich die Schwachstelle einer solchen Expansion darstellt: Nicht nur diejenigen, die von Russland kolonisiert werden sollen, werden von ihr abhängig gemacht, sondern auch der russische Kolonialismus selbst. Diese materielle Verwundbarkeit der Moskauer Ambitionen erlaubt es sowohl den belarussischen Partisanen vor Ort als auch den internationalen Solidaritätsbewegungen, die weitverzweigten Kabel und Leitungen zu kappen.
Anm. d. Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de