Wenn ich ans Wasser denke, kommt mir das Meer oder der Ozean gar nicht in den Sinn. Ich bin wahrscheinlich eine der wenigen, die noch nie im Meer geschwommen und mit dem Meereswasser relativ wenig in Beruehrung gekommen sind. Mein kontemplatives Verhaeltnis zum Wasser haben die Bergfluesse sehr stark gepraegt. Besonders in seiner aktiven Phase entwickelt ein Bergfluss eine gewaltige Kraft: das stuermische Wasser schaeumt, rast ungehindert hinfort.
Der Bergfluss ist gefaehrlich, undurchschaubar, unnahbar, eisig kalt, aber auch majestaetisch, monumental und durch seine Gewalt unglaublich fesselnd. Das ohrenbetaeubende Wasserrauschen bildet eine tosende Klangkulisse. Sehr oft wurden wir im Gebirge auf der Suche nach dem Wasser durch das Rauschen der Baumblaetter irregefuehrt.
Das Bergwasser braucht keinen Menschen. Im Gegenteil, der Mensch in seiner Naehe ist dazu gezwungen, sich den Grillen dieser Naturgewalt unterzuordnen. Ich hatte nie das Beduerfnis, wilde Natur zu erobern oder zu beherrschen. So wagte ich auch nie, mich mit diesem Wasser anzulegen. So hielt es mich auf einer gewissen Distanz und liess nur kleine, harmlose Streiche zu. Das hat den Charakter unseres zurueckhaltenden Verhaeltnisses gepraegt: Dem Wasserspektakel kann ich stundenlang fasziniert beiwohnen, aber im Wasser brauche ich den Boden unter den Fuessen.
Der Regen spielt auch eine Rolle. Ich komme aus einem Land, wo es im Sommer nicht so oft regnet. Wenn es gewittert, machen dort die Menschen alle Fenster auf, damit der kuehle Luftzug die aufgestaute Schwuele mit einem Streifzug aus dem Haus vertreibt. Wenn aber die Wolken sich endlich entladen und es in Stroemen giesst, gibt es nichts Schoeneres, als auf dem warmen Asphalt unter dem kurzlebigen Platzregen barfuss zu huepfen. In fuenf Minuten scheint wieder die unerschoepfliche Sonne, in zwanzig Minuten verdunstet der letzte Wassertropfen. Jedes Gewitter versetzt mich in Euphorie.
Das Wasser ist ein Lebensstifter, aber auch eine zerstoererische Gewalt. Das Wasser verbirgt die Geheimnisse und vernichtet Spuren des Verbrechens. Das Wasser ist ein Hindernis, eine Bastion, eine >natuerliche Grenze<: der Fluss Evros trennt Griechen und Tuerken - Europa und Asien, der Rio Grande die Mexikaner von den Amerikanern. Das Mittelmeer und die Strasse von Gibraltar sind die gefaehrlichsten Fluchtwege der Afrikaner nach Europa. Wenn ich aber an die Internetgesellschaft denke, faellt mir die Aeusserung vom Kapitaen Nemo aus Jules Vernes >20.000 Meilen unter dem Meer< ein: Das Meer ist ausserhalb der Macht der Tyrannen. Auf seiner Oberflaeche koennen sie noch Ungerechtigkeit ausueben, sich bekaempfen, alle Schrecken verueben. Aber 30 Fuss unterhalb hoert ihre Gewalt auf. Die unendlichen Weiten des Meeres werden von den Menschen auf einem riesigen U-Boot Nautilus bewohnt, das fuer sie ein Asyl, ein Forschungslabor und eine Waffe zugleich darstellt. Die russische Internet-Community ist naemlich diese Gesellschaft, die im wahrsten Sinne untergetaucht ist, um gegen die Stroemung frei schwimmen zu koennen.