Ich bin in einer franzoesischsprachigen Kleinstadt im Suedwesten der Schweiz aufgewachsen, zweisprachig, mit Deutsch als Muttersprache. Ich bin in eine deutschsprachige Schule gegangen und jedes Mal, wenn mich der Lehrer auf dem Pausenplatz beim Franzoesischsprechen erwischte, wurde ich bestraft – vorne an der Wandtafel knien, die Arme ausgestreckt, Buecher auf den Handflaechen. Dies gab dem Franzoesischen den Reiz des Verbotenen.
Dagegen wog schwerer, dass das Deutsche den Reiz des Bedrohten hatte. Viele meiner Mitschueler kippten nach der Schule ganz ins Franzoesische ueber. Bei mir geschah das Gegenteil: Ich genoss die Gratwanderung, die entwickelte mein Sprachbewusstsein, wie es ja fuer viele Diaspora-Situationen typisch ist. >Meine< Sprache wurde aber das Deutsche. War meine fruehkindliche Erfahrung mitbestimmend dafuer, dass ich mich heute in Indien so wohl fuehle? Vielleicht. Jedenfalls ist die Sprachsituation hier aehnlich hybrid wie in meiner Kindheit – nur noch potenzierter. Strassensignale in Delhi sind manchmal in vier Sprachen – und Schriften – angezeigt: In Hindi, in Urdu, in Gurmukhi [der Sprache der Sikhs] und in Englisch. Ich bewege mich in einem staendigen Prozess des Uebersetzens. Meine haeufigste Umgangssprache ist Englisch, aber wenn ich reise, komme ich ohne Hindi nicht aus. Dazu kommt Deutsch, in dem ich schreibe und manchmal spreche. Seit 16 Jahren lebe ich als Auslandskorrespondent in Indien - die Folge eines Emigrationsentschlusses, der mit einer partnerschaftlichen Beziehung zu tun hatte, aber auch beruflich beeinflusst war: Ich war damals Diplomat. Schliesslich war das Unbehagen da, in einer Wohlstandsinsel zu leben. Die Perfektion hat mich vertrieben. Die Schweiz ist ein Land, das seine >existenziellen< gesellschaftlichen Probleme geloest hat. Es ist ein fertiges Haus, luxurioes und sorgfaeltig und eingerichtet. Indien dagegen ist eine riesige Baustelle - staubig, dreckig, unordentlich, laermig. Alle Bauarbeiter sind sich einig, dass das Haus gebaut werden muss, aber es gibt staendig Streit ueber die Groesse der Zimmer, die Hoehe, die Ausstattung, den Platz an der Sonne. Das ist spannend, aufwuehlend, frustrierend, bewegend. Es ist ein >Work in Progress<, kein Kunstwerk im Museum. Ich bin mir bewusst darueber, dass ich auf dieser Baustelle eine privilegierte Position einnehme: Ich kann zuschauen, muss keine Lasten schleppen, kann mich vor dem schlimmsten Staub schuetzen. Ein Insider und Outsider, belastet gelegentlich von dieser Schizophrenie, beidem und keinem anzugehoeren, aber die Hybriditaet geniessend. Es gibt die englischsprachige Wendung >stand up and be counted<: Man muss aufstehen und sich zaehlen lassen - Farbe bekennen, sich engagieren. Meine Situation ist >stand up and count<. Indien ist kein >Einwanderungsland< fuer Europa, wie es etwa die USA oder lateinamerikanische Staaten sind / waren. Selbst die Englaender - immerhin 200 Jahre lang Kolonialmacht - sind nicht in grossen Wellen eingewandert, haben sich hier nur als Besatzungsmacht, aber nie zum Siedeln, niedergelassen. Es gab und gibt einige wenige tausend Englaender, einige hundert Deutsche. Die meisten sind entweder auf Zeit hier, oder sie haben – meine >Einwanderungslinie< - indische Lebenspartner. Die einzige Einwanderungslinie von Gewicht ist nur noch historisch interessant: Die Missionare, die hier waren. Im Fall Deutschland waren sie allerdings nicht Teil eines deutschen Kolonial-Diskurses. Sie waren – natuerlich immer vor dem Hintergrund der Bekehrungsarbeit – oft entweder Philologen, mit dem Interesse der Bewahrung / Entwicklung lokaler Sprachen und Literatur. Oder sie waren Sozialreformer. In der Kleinstadt Tellicherry in Kerala bin ich einmal auf eine drei Meter grosse Statue des Basler Missionars Hermann Gundert aus Calw gestossen, von der kommunistischen Lokalregierung errichtet – Gundert war der Grossvater von Herman Hesse. In diesem Jahr ist es genau 300 Jahre her, dass ein deutscher Missionar mit dem Namen Bartholomaeus Ziegenbalg im daenisch besetzten Tranquebar in Suedindien ankam. Er verkoerperte beide Traditionen: Er besorgte die erste Uebersetzung der Bibel in Tamil und er gruendete Schulen, die sowohl Maedchen wie verfemte Kastenlose aufnahmen. Sein Einsatz fuer die Einheimischen und die Armen brachte ihm nicht nur die Gegnerschaft der lokalen Eliten ein, sondern brachte ihn auch fuer vier Monate in ein daenisches Gefaengnis. Indien ist, so seltsam dies klingen mag, immer noch kein Touristenland, zumindest was die Zahl der Besucher angeht: Letztes Jahr waren es 3,5 Millionen [ein zehntel von Spanien, das zehn Mal kleiner ist]. Sie sind zudem auf zahlreiche Nationalitaeten verteilt. Und da Englisch die Verkehrssprache geblieben ist, treten die deutschen Urlauber selten mit ihrer Sprache in Erscheinung. Deutsch tritt daher am Haeufigsten in Wirtschaftsbelangen auf - Deutsche Qualitaetsarbeit ist auch in Indien angesehen. Siemens ist seit 130 Jahren im Land, Daimler-Chrysler hat eine Mercedes Fabrik, Pharma und Chemie sind Markenzeichen, die Lufthanse ist der groesste auslaendische >Carrier< indischer Touristen. Sonst tritt >Deutsch< meist in kuriosen und auch dubiosen Konstellationen auf. Es gibt eine >German Bakery<, von einem Rajneesh-Sannyasin in Poona gegruendet. Inzwischen auch mit Ablegern in Goa, Delhi und Bombay. Es gab auch ein >German Beer<, mit altdeutscher Schrift auf der Etikette und einer Swastika. Der bekannteste Deutsche Name - nach Adolf Hitler, Karl Marx und Albert Einstein - ist der eines Mannes, von dem die meisten Deutschen wohl noch nie gehoert haben: Max Mueller. Und dieser Max Mueller ist nicht etwa der linguistische Bruder von Lieschen Mueller, sondern war ein Deutscher, der im spaeten 19. Jahrhundert in Cambridge Indologie lehrte und eine tiefe Verehrung fuer das Sanskrit und die klassische indische Vergangenheit hatte – weshalb er auch nie seinen Fuss auf indischen Boden gesetzt hat. Die Goethe-Institute in Indien sind nach ihm benannt, und es gibt auch Strassen mit seinem Namen. Ich bin Schweizer, und meine Erfahrungen mit der deutschen Sprache haben keine Deutschland-spezifische Ausrichtung. Fuer mich ist Sprache >polygam<: Sie ist nicht nur mit einer Nation verheiratet. Sie ist ueberhaupt nicht nur mit Nationen oder Staaten verheiratet, sondern auch mit Regionen und noch kleinraeumigeren Orten. >Deutsch< evoziert bei mir zahlreiche Identifikationsmuster - die Beziehung zu einem deutschsprachigen Kulturraum, zu einem mehrsprachigen nationalen Raum [der Schweiz], die enge Beziehung zu einer dialektalen Form dieser Sprache [dem hoechstalemannischen des Oberwallis]. Es ist dieser grosse Resonanzraum, der bei der Erwaehnung von >Deutsch< zu toenen beginnt und in dem ich mich haeuslich/heimisch einrichte. Es gibt mir zudem eine Struktur, von der aus ich in andere Raeume hineinhoeren kann - dem Franzoesischen, dem Italienischen und dem Englischen natuerlich, aber auch in den Vielklang indischer Sprachen und in das schiere Sprachengewirr von vielen hundert Varianten.