Humboldt entzaubern

Bei der ZEIT zu arbeiten, ist für mich wie ein Studium generale mit ziemlich vielen SWS und einer echt guten Student-Faculty-Ratio. Die Kollegen dort haben nicht nur eine Leidenschaft für Journalismus, sondern eine Leidenschaft für zwei, fünf oder noch mehr Themen. In Konferenzen ist das spürbar, aber auch in den vielen Gesprächen untereinander.

Ich habe dann manchmal in einer Woche Eins-zu-eins-Tutorials in Philosophie bei Thomas Assheuer, Literatur bei Elisabeth von Thadden, Popkultur bei Philipp Schwenke und Bibelexegese bei Patrik Schwarz. Am meisten gelernt habe ich von Thomas Kerstan, dem Erfinder und Gründungschefredakteur von ZEIT Campus, in den Fächern Geschichte, Politikwissenschaft und Angewandte Politik.

Verstaubter Bildungsbegriff

In dieser Erfahrung sind Lernen und Bildung gleichbedeutend. Bildung ist ein sehr deutscher Begriff, man kann ihn kaum übersetzen in andere Sprachen. Im Englischen spricht man von “education”, und da schwingen Ausbildung, Bildung, Erziehung und Lernen mit. Auf der einen Seite mag ich unseren Begriff von Bildung: Es geht um den ganzen Menschen, um ganzheitliche Erfahrungen, um etwas, das die Person ausmacht und definiert.

Auf der anderen Seite birgt die Betonung von “Bildung” aber auch eine große Gefahr – die Gefahr einer moralisch aufgeladenen Dichotomie: Bildung vs. Ausbildung. Bildung ist das Wahre, Schöne und Gute, Ausbildung fügt einen in die Verwertungslogik des Kapitalismus ein. Das ist eine gefährliche Frontstellung. Ausbildung ist keine minderwertige Aufgabe unserer Schulen und Hochschulen. Die Kritik etwa an den Bachelor-und Master-Studiengängen hat oft mit einer Abwertung von Ausbildung, einer unreflektierten Überbetonung von Bildung und einer ahistorischen Mystifizierung von Humboldt zu tun.

Um die Welt an einem Tag

Trotz aller Schwierigkeiten: ich mag ich die Universität. Ich mag es zu lernen und immer wieder neu mit Fragen konfrontiert zu werden, ich mag den Austausch mit Studenten, mit den ZEIT Campus-Lesern und mit Professoren. Es ist ein wahnsinniges Privileg, von anderen lernen zu dürfen.

Zurzeit studiere ich in Harvard. Hier lerne ich besonders viel dadurch, dass ich mit Menschen aus unzähligen Ländern zusammen lerne und dass diese Menschen zwischen 25 und 50 Jahren alt sind – da kommen extrem unterschiedliche Erfahrungen zusammen. Es gibt Tage, da sitze ich einfach im Forum der Harvard Kennedy School und warte, wer vorbeikommt. Diese Tage sind wie eine gedankliche Weltreise. Da spreche ich mit einem Lehrer aus Pakistan und einem Rechtsanwalt aus Texas, einem Klimaschützer aus Rom und einem Politiker aus Kolumbien – eine einzigartige Lernerfahrung.

Sich mit anderen über die Universität auszutauschen, macht mir viel Freude. Daher liebe ich es, für ZEIT Campus zu arbeiten, daher hat mir auch das Schreiben des Uni-Romans, der 2007 erschien, so viel Spaß gemacht. Kürzlich schrieb ein Blogger, er habe alles, was er über die Uni wisse, aus dem “Uni-Roman”. Ein großes Kompliment.

Halbwissen ist besser als gar kein Wissen

Mit einem anderen Buch – Wissen to go: Ein Studium generale in 100 Begriffen – wollen mein Ko-Herausgeber Thomas Kerstan und ich Lust auf Bildung machen. Die Autoren der einzelnen Kapitel – Professoren und Journalisten – erklären auf zwei Seiten große Begriffe der Geistesgeschichte: vom Ontologischen Gottesbeweis über den Kategorischen Imperativ bis hin zum Big-fish-little-pond-Effekt. Wir bringen viele Leser zum ersten Mal in Berührung mit diesen Begriffen.

Halbwissen ist besser als gar kein Wissen, und es gibt wahrscheinlich keinen schnelleren Weg, sich über solch große Begriffe zu informieren als mit unserem Buch. Wir hoffen nichtsdestoweniger, dass wir unseren Lesern Lust machen, sich intensiver mit den einzelnen Themen zu beschäftigen. Vielleicht fängt jemand danach an, ein Buch über Kant zu lesen?

Ich kann jedenfalls aus eigener Erfahrung sagen: Lernen geht immer weiter. Wirklich immer. Ich glaube an die Auferstehung, an ein Leben nach dem Tod. Und ich bin mir sicher, dass wir auch im Himmel weiter lernen werden.

(Anm. d. Red.: Der Verfasser des Protokolls ist Chefredakteur von ZEIT Campus und derzeit McCloy-Scholar an der Harvard University.)

7 Kommentare zu “Humboldt entzaubern

  1. Ich sehe das auch so, das Ausbildung und Bildung nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Aber die Realität sieht doch anders aus: Wer es hier in Deutschland in der 6. Klasse nicht aufs Gymnasium schaffst, gilt doch schon als Verlierer. “Realschulabschluss” und “solide Ausbildung” sind doch heute Stigmata… oder?

  2. Das ist aber ein arg elitärer Entwurf von Bildung: da in Harvard mit den coolen, priveligierten Kids aus sonstwo zusammenzusitzen und den Joint des lebenslangen Lernens zu rauchen.

  3. Schön, wenn man einen privilegierten Job hat, in Harvard studiert und dafür auch noch bezahlt wird. Aber für zigtausend Studierende sieht die Realität anders aus: Stumpfsinnige Verschulung der Studiengänge durch Bachelor-Kurzstudiengänge (Seminarteilnehmer, die in der Schule schon nicht gelernt haben, wie man einen Satz in korrektem Deutsch schreibt), während in Wirklichkeit ein selbstgesteuerter Umgang mit Informationen, mit anderen Worten Urteilsfähigkeit gefragt wäre.
    Humboldt war da viel weiter. Ohne den klassischen deutschen Bildungsbegriff überstrapazieren zu wollen, der gegenüber Humboldt schon eine Einschränkung, eine Verbürgerlichung bedeutet (die eher auf Goethe zurückgeht: Was man schwarz auf weiß besitzt … da haben wir das Besitzdenken): Wirkliches Lernen findet da statt, wo jemand in die Lage versetzt wird, seinen eigenen Interessen zu folgen. Das hat Humboldt erkannt, und da ist auch die Pädagogik heute angekommen – nur leider in der Praxis oft nicht.

    Zeit-Redakteure können Universitäts-Lehrstühle nicht ersetzen. Eine Wochenzeitung ist kein Seminar. Der Unterschied zwischen dem, was sich mit dem vielleicht nicht ganz perfekten Begriff der Bildung bezeichnen lässt, und einer Ausbildung besteht darin, dass die Ausbildung auf einen genau definierten Zweck gerichtet ist: Ausbildung zum … – das “aus” bezeichnet das nach einer gewissen Zeit erreichte Ende der Ausbildung. Das ist das Gegenteil vom oft rhethorisch geforderten, praktisch aber immer mehr eingeschränkten “lebenslangen Lernen”. Diese Einschränkungen zielen darauf, selbständiges Denken zu unterbinden, zu disziplinieren im Sinne von Machtinteressen und Regierungstechnologien, Foucault hat das gouvernementalité genannt.

  4. Ich bin auch gerne von tollen, gelehrten Leuten umgeben und versuche von ihnen zu lernen. Was ich an Deiner Position nicht ganz verstehe: Du scheinst Dich sehr bereitwillig ausschließlich als Lernender in diesem Zusammenhang zu begreifen — was aber lernen die “Superprofis” von Dir? Du bist jung, Du hast ein Wissen, dass die sich niemals werden aneignen können. Es ist ein Lebenswissen, das Lebenswissen eines Menschen, der zu Beginn der 1980er Jahre auf die Welt gekommen ist und aufgrund dieser Tatsache die Welt auf ganz bestimmte Weise wahrnimmt — sowie auch andere Menschen in Deinem Alter. Meinst Du nicht, die “Alten” könnten auch etwas von Dir lernen?

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