Die ökonomischen und ökologischen Krisen des Kapitals greifen längst ineinander. Dies zeigt sich nicht zuletzt am hitzebedingten Massensterben unter armen und gefährdeten Bevölkerungsschichten – nicht nur im globalen Süden. Der Autor Tomasz Konicz unternimmt in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” eine Bestandsaufnahme.
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Die Klimakrise fordert längst massenhaft Todesopfer. Auch dieses Jahr dürften abermals Hunderte Obdachlose der buchstäblich mörderischen Hitze zum Opfer fallen, die alljährlich weite Teile der Vereinigten Staaten heimsucht. Letztes Jahr wurden US-weit rund 1500 Todesfälle registriert, die einen direkten Zusammenhang mit den Hitzewellen aufweisen, die insbesondere im Süden und Westen des Landes immer neue Rekordwerte erreichen. Rund die Hälfte dieser Hitzetoten war obdachlos. Es sind somit gerade die ärmsten der Armen, die zuerst der sich voll entfaltenden Klimakrise zum Opfer fallen.
Doch eigentlich weiß niemand so genau, wie viele Obdachlose alljährlich in der Hitze umkommen, da viele Fälle einfach nicht registriert werden. Alljährlich werden während der zunehmenden Hitzewellen Tote in Zeltlagern oder vor Suppenküchen gefunden, die nicht immer als Opfer der Witterungsverhältnisse Eingang in die Statistiken finden. Besonders gefährdet sind pauperisierte Menschen in Städten wie Phoenix, im westlichen Wüstenstaat Arizona, wo die Temperaturen inzwischen mehr als 45 Grad Celsius erreichen können. Es sei im Sommer ziemlich schwer, einen kühlen Platz zu finden, ohne gleich von der Polizei vertrieben zu werden, klagte ein Obdachloser gegenüber der Nachrichtenagentur AP.
In den Zelten auf den Bürgersteigen oder auf brüllend heißen Parkplätzen, in denen Obdachlose in Los Angeles und Phoenix zu überleben versuchen, wird die Hitze sehr schnell lebensbedrohlich. Die zunehmenden Hitzephasen führen in den USA inzwischen zu mehr Todesopfern als Hurrikane, Überflutungen und Tornados zusammengenommen. Allein im südwestlichen Bundesstaat Arizona, dessen Hauptstadt Phoenix als eine der hitzeanfälligsten Großstädte der USA gilt, wurden 2021 offiziell 339 Hitzetote erfasst, von denen 130 obdachlos waren. In der Glücksspielmetropole Las Vegas bringen sich viele wohnungslose Menschen buchstäblich im Untergrund in Sicherheit – sie hausen in Abwasserkanälen, die etwas Schutz vor der mörderischen Hitze bieten.
Ökonomisch-ökologischer Krisenkomplex
Die ökonomische und die ökologische Krise des Kapitals greifen längst ineinander. Der pandemiebedingte Krisenschub samt den steigenden Mieten auf dem überhitzten US-Immobilienmarkt hat zu einer raschen Zunahme der Zahl der Obdachlosen geführt, die inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen umfasst – und die sich extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt sehen. Mit immer neuen Hitzerekorden nimmt somit auch die Zahl der Hitzetoten in den Vereinigten Staaten zu: zwischen 2018 und 2021 um 56 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dem Hitzetod zu erliegen, ist für einen Obdachlosen um den Faktor 200 höher als bei Mieter*innen oder Wohnungsinhaber*innen.
Das kapitalistische System ist aufgrund des Verwertungszwangs des Kapitals, der sich volkswirtschaftlich als das allseits fetischisierte „Wirtschaftswachstum“ manifestiert, außerstande, die Verschwendung von Rohstoffen und die Verbrennung fossiler Energieträger zu begrenzen, was sich ganz konkret in alljährlich global steigenden CO2-Emissionen manifestiert. Folglich laboriert die Politik selbst in Reaktion auf das aufkommende Phänomen des Hitzetodes nur an dessen Symptomen, anstatt die Ursache der Klimakrise, die durch den Wachstumszwang des Kapitals verursachte Verbrennung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit, zu bekämpfen.
In den Vereinigten Staaten werden in gefährdeten Regionen inzwischen „Kühlräume“ für Obdachlose aufgebaut, während Freiwillige deren Zeltlager mit Wasser versorgen. Dabei weitet sich das Problem der Phasen lebensbedrohlicher Hitze zunehmend aus. Städte und Regionen, die bislang kaum davon betroffen waren – wie Boston, Portland oder Seattle – sehen sich nun gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um das Überleben insbesondere der pauperisierten Stadtbewohner in extremem Witterungsverhältnissen zu ermöglichen. New York etwa veröffentlichte Mitte Juni einen Bericht über 370 hitzebedingte Todesfälle im vergangenen Jahr, der eine steigende Zahl heißer Tage in den vergangenen Jahren konstatierte (bei gleichbleibender Zahl sehr heißer Tage).
Neben diesen direkten Todesfällen führen längere Hitzeperioden auch mittelbar zu einer höheren Sterberate, da Kranke mit Herz- und Kreislaufproblemen eher in solchen extremen Witterungsverhältnissen ihrem Leiden erliegen. Besonders betroffen sich zudem ältere Menschen über 50 und Übergewichtige, was insbesondere in der Vereinigten Staaten überproportional oft für die pauperisierten Bevölkerungsschichten zutrifft, die sich eine gesunde Ernährung schlicht nicht leisten können. Der berüchtigte Hitzesommer 2003 in Europa hat so zu insgesamt 70 000 Todesfällen geführt. Derzeit bemühen sich die Behörden in Frankreich aufgrund der sehr früh einsetzenden Hitzeperiode um die Einrichtung ähnlicher „Kühlräume“, wie sie in den USA üblich sind.
Ökologische Unhaltbarkeit kapitalistischer „Entwicklung“
Von solchen Maßnahmen wie Kühlräumen können die Obdachlosen und arbeitenden Armen Indiens oder Pakistans nur träumen. Eine verheerende, historisch beispiellose Hitzewelle hat den indischen Subkontinent in diesem Frühjahr heimgesucht, bei der bereits die Grenzen der Überlebensfähigkeit der betroffenen Menschen erreicht wurden. Die Temperaturen erreichten in etlichen besonders schwer getroffenen Regionen bis zu 45 Grad Celsius im März und 49 Grad Celsius im April. Über die Zahl der Hitzetoten gibt es in der Region aufgrund mangelnder Erfassung keine zuverlässigen Zahlen, doch gehen Schätzungen von Tausenden Opfern aus.
Bauarbeiter*innen in der südindischen Stadt Chennai berichteten gegenüber Medien, dass die Verrichtung ihrer Arbeit in der Hitze nahezu unmöglich sei. Ein Arbeiter, der in 12-Stunden-Schichten Stahlrahmen herstellt, klagte über Temperaturen von 38 Grad Celsius im vergangenen März, die weit über dem üblichen Temperaturniveau von rund 32 Grad lagen. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, die die Metallrahmen zu montieren, ohne sich die Finger zu verbrennen, so der Arbeiter, der über Schwindelgefühle klagte. Etliche Bauarbeiter*innen seien unter der Hitze zusammengebrochen. Der Interviewte klagte, er könne es sich nicht leisten, zu pausieren oder in seiner Konzentration nachzulassen, da es inzwischen „Maschinen gibt, die meine Arbeit machen können“. Dieser Sommer habe die Grenzen seiner Ausdauer getestet.
Das Schwellenland Indien, das ein hohes jährliches Wirtschaftswachstum zwecks Aufrechterhaltung sozialer Stabilität anstrebt, ist zugleich einer der größten Konsumenten von Steinkohle – und der Bedarf an dem klimaschädlichen Energieträger steigt gerade in den Hitzephasen steil an, wenn all jene Betriebe und Bürger*innen, die sich Klimaanlagen leisten können, den Energiebedarf ansteigen lassen.
Die ökologische Unhaltbarkeit der kapitalistischen „Entwicklung“ tritt gerade in solchen Hitzephasen krass zutage: Das Wirtschaftswachstum, auf das Lohnabhängige im Kapitalismus angewiesen sind, da sie nur dann überleben können, wenn ihre Arbeitskraft vom Kapital in der Warenproduktion zwecks Profitmaximierung verwertet wird, entzieht ihnen zugleich die ökologischen Lebensgrundlagen.
Die politische Geografie der Kühlgrenztemperatur
Tatsächlich ist die Hitze in Indien bereits nicht nur für gesundheitlich angeschlagene Menschen oder arbeitende Arme – etwa auf dem Bau – lebensbedrohlich. Die zunehmenden Extremwetterereignisse drohen ganze Landstriche unbewohnbar zu machen, da der menschliche Körper in der manifesten Klimakrise auf dem indischen Subkontinent an die Grenze seiner Funktionsfähigkeit rückt. Die sogenannte Kühlgrenztemperatur bildet dabei den zentralen Wert, der die Grenze der Bewohnbarkeit einer von häufigen Hitzewellen heimgesuchten Region markiert. Dabei gilt: Eine Kühlgrenztemperatur, die bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent rund 35 Grad Celsius beträgt, bildet die Grenze, nach deren Überschreiten es dem menschlichen Körper nicht mehr möglich ist, durch Schwitzen die eigene Temperatur zu regulieren. Es folgt nach wenigen Stunden bei 35 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit der Hitzetod.
Dabei gilt: Je niedriger die Luftfeuchtigkeit, desto höher die Kühlgrenztemperatur. Bei hoher Luftfeuchtigkeit, etwa in den Tropen, sind das somit niedrigere Temperaturen, als etwa in einer Wüstenregion. Für den indischen Subkontinent, der vom besonders warmen Indischen Ozean mit Feuchtigkeit versorgt wird, ergeben sich bereits dramatische Annäherungen an diese biologische Grenze der Bewohnbarkeit, warnten indische Medien unter Bezugnahme auf entsprechende Studien Anfang Juni.
Insbesondere in den feuchten Küstenregionen Indiens erreicht die Kühlgrenztemperatur bereits des Öfteren 32 Grad Celsius, was die normale Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers über längere Zeiträume beeinträchtigen kann. Vier der sechs größten Städte Indiens, in denen dutzende Millionen Menschen leben, haben ebenfalls diese Grenze in den vergangenen Jahren zumindest einmal überschritten, darunter auch die Hauptstadt Neu-Delhi. In der ostindischen Küstenstadt Kalkutta, in deren Einzugsgebiet mehr als 14 Millionen Menschen leben, wird die Kühlgrenztemperatur von 32 Grad Celsius inzwischen nahezu jährlich übertroffen. Es ist somit absehbar, dass Teile Indiens in den kommenden Dekaden tatsächlich unbewohnbar werden.
Da die Klimaanlagen für die meisten armen Bürger aufgrund des gegebenen „Reichtumsgefälles“ Indiens einen unerreichbaren „Luxus“ darstellen, drohe künftig „Millionen von Indern der Tod aufgrund hitzebedingter Probleme“, warnten Medien in Indien. Sollte es der Regierung nicht gelingen, „kostengünstige Wege“ zur Versorgung der Bevölkerung mit Klimaanlagen oder Kühlzonen zu finden, würde die 1,7 Milliarden betragende Bevölkerung bald massenhaft sterben. Deswegen stelle „ein Ende des Klimawandels die einzige Lösung“ dar.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette. Die englischsprachige Version des Texts ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf unserer englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de Der Autor dieses Beitrags finanziert seine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen dieser Text zusagt, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail.
Ich finde Ihren Artikel wichtig und gut geschrieben. Leider hat sich ein Fehler in der Dartellung der Kühlgrenztemperatur eingeschlichen:
Tomasz Konicz schreibt z.B. “Dabei gilt: Je niedriger die Luftfeuchtigkeit, desto höher die Kühlgrenztemperatur.”.
Richtig ist hingegen, dass die Kühlgrenztemperatur sowohl von der Lufttemperatur, als auch von der Luftfeuchtigkeit abhängt. Richtig wäre:
“Dabei gilt: Je höher die LUFTTEMPERATUR ist, desto niedriger muss die Luftfeutchtigkeit, um die Kührlgrenztemperatur nicht zu überschreiten.”
Zudem schreibt Konicz: “Eine Kühlgrenztemperatur, die bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent rund 35 Grad Celsius beträgt”.
Das ist irreführend, weil bei diesem Wert die Kühlgrenz- und die Lufttemperatur zufällig identisch sind. Deshalb sollte in diesem Satz besser ein anderer Wert stehen, um den Unterschied klar zu machen. Z.B.: “Eine Kühlgrenztemperatur 35 Grad Celsius beträgt, bildet die THEORETISCHE Grenze, nach deren Überschreiten es dem menschlichen Körper nicht mehr möglich ist, durch Schwitzen die eigene Temperatur zu regulieren. Das bedeutet z.B. bei einer Luftfeuchtigkeit bei 100% eine maximale Lufttemperatur von 35°C und bei 50% von 46°C.”
Ich würde noch hinzufügen: “Praktisch liegt diese Temperatur allerdings eher bei höchstens 31°C bzw. 28°C.”
(siehe: https://www.scinexx.de/news/biowissen/ist-unsere-hitzetoleranz-geringer-als-gedacht/ — ABER VORSICHT: auch hier wird die Kühlgrenztemperatur etwas irreführend dargestellt: anstatt: “Anders als bislang angenommen führte ein leichtes Absinken der Luftfeuchtigkeit nicht zu höheren Hitzetoleranzen.” ist falsch und sollte heißen: “Das Absinken der Luftfeuchtigkeit führt nicht zu einer so viel höheren Hitzetoleranzen wie theoretisch berechnet und bisher angenommen, d.h. die Kühlgrenztemperatur sinkt bei höheren Lufttemperaturen leicht.” Kühlgrenztemp. maximal 28°C bei 37°C statt theoretisch 31°C bei 41°C Lufttemperatur)
Das ist ein ziemlich komplizierter Zusammenhang — ich hoffe meine Darstellung hilft :-)
Mit herzlichen Grüßen
Volkmar Richter