…also bin ich: Gestern Staat, heute Facebook

Soziale Netzwerke wie Facebook nehmen heute jene Rolle ein, die einst der Staat innehatte. Siegfried Zielinski erkundet die Folgen: Der Medientheoretiker und Berliner Gazette-Autor beschließt seinen dreiteiligen Essay mit der Frage, ob man im Internet nicht nur existieren, sondern auch sein kann.

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Die im techno-sozialen Netz verwobenen und verlorenen Einzelnen mögen auch auf der Suche nach den Spiegelungen der unzähligen Splitter ihrer größtenteils unspektakulären Egos sein. (Fürs Spektakel sind die miniaturisierten Bildschirme ohnehin wenig geeignet.) Attraktives Zentrum ihrer Aktivität ist hingegen die Sehnsucht nach dem Gegenüber des eigenen Existierens und Handelns, ist das Du, die Anerkennung durch dessen Blick, auch wenn dieser Blick in der konkreten Ausformulierung ein eingebildeter sein mag.

Sind Kommunikation und Leben identisch?

Man muss das nicht als Suche nach dem einen Göttlichen bezeichnen. Verstehe ich die Welt des Anderen allerdings so, dass Gott sich »… in jedem Lächeln, in jedem Streicheln, besonders natürlich in jedem besonderen Akt von Frieden oder in jedem besonderen Akt von Freundschaft oder in jedem besonderen Akt von Zärtlichkeit« manifestiert, wie das der Fluxus-Künstler Wolf Vostell in einem Gespräch formulierte, dann kann man das große Wort hier benutzen. Die Nachkriegsavantgarde setzte selbstverständlich Kunst und Leben in eins, und viele finden das bis heute bewundernswert. Warum bestaunen wir es voller Unverständnis, wenn die in der Kultur des Digitalen Aufgewachsenen Kommunikation und Leben für identisch erklären?

Was für Hegel der Staat war, ist jetzt facebook

Hegels Grundlinien einer Philosophie des Rechts gehören zu den ergiebigsten Texten strenger philosophischer Begriffsarbeit aus Deutschland. In einem Zusatz zum Kapitel über den Staat (§ 270) stellt Hegel eine Unterscheidung heraus, die ich für das folgende Manifest adaptiert habe. Es ist die Unterscheidung zwischen existieren und sein. Sie spielt nicht nur in Heideggers Philosophie eine wichtige Rolle als Differenz zwischen existentia und essentia, zugespitzt zwischen bloßer Vorhandenheit und bedingungslosem Sein. Die Geschichte des abendländischen Denkens ist von dieser Spreizung des Wesentlichen durchzogen.

In Hegels Rechtsphilosophie betrifft der Unterschied die Frage, ob und wie das Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt, ob es seine Zugehörigkeit zum Ganzen als eine Notwendigkeit empfindet und reflektiert, oder ob es im Partikularen sich erschöpfen lässt, also nur existiert. Auf Seite 428f steht: »Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbstständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird. Insofern diese Einheit nicht vorhanden ist, ist etwas nicht wirklich, wenn auch Existenz angenommen werden dürfte.«

Im Internet existent zu sein, bedeutet…

Mit Blick auf die so genannten sozialen Netzwerke des Internets, das für die jungen Leute im Jetzt eine ähnliche Funktion einnimmt wie für Hegel einst der Staat, unterscheide ich zwischen einer Existenz, die sich im Akt der technisch basierten Kommunikation erschöpft und sich zugleich durch diesen Akt im Hinblick auf die obskure Gemeinschaft der Vernetzten zu konstituieren sucht einerseits, und einem Sein, das sich der Verwobenheit seiner kommunikativen Aktivitäten bewusst ist und zugleich in einem umfassenden Sinn in relativer Unabhängigkeit davon sich verwirklichen kann, – ohne fatalen Einheitsstiftungen essentieller Art verhaftet sein zu müssen – andererseits. Ich unterscheide zwischen einem Subjekt, das im Großen und Ganzen bloß funktionstüchtig (also unterworfen) ist und einem Einzelnen, der den Mut aufbringt, immer wieder bei sich sein oder von sich weglaufen zu können, was in der Perspektive der Dialogphilosophie den absichtsvollen Austausch mit dem Anderen voraussetzt, auch im (technischen) Experiment.

Begreift man die beiden Modi als Graduierungen auf einer Skala, so betrifft die Existenz stärker das Allgemeine im Individuellen, während das Sein mit Priorität das Individuelle im Allgemeinen ausmacht. Gott kann existieren, aber nicht sein. Menschen können sein, aber nicht nur existieren. Dabei geht es auch um Zeitbewusstsein, das mit den Maschinen der Kommunikation aufs Engste verknüpft ist. Im Internet existent zu sein, bedeutet vor allem, im Modus der actualitas zu handeln und wahrzunehmen, techno-psychologisch an einer Aktualisierung teilzuhaben. Die tiefenzeitliche Erfahrung des Seins beinhaltet Aktualisierungen, geht aber nicht in ihnen auf.

Nicht alle Konversationen müssen Marktwert haben

Im folgenden Manifest diskutiere ich einige Grundvoraussetzungen dafür, dass diese Unterscheidung wirksam bleiben oder erneut wirksam werden kann. The Cluetrain Manifesto (2000) propagiert zur kalendarischen Eröffnung des neuen Jahrhunderts programmatisch, dass unter den Bedingungen der Netzwerke alle Märkte Konversationen seien. Ich manifestiere hingegen, dass nicht alle Konversationen unvermeidlich Märkte sein müssen.

Bei der Formulierung der Gedanken waren mir mehrere Texte in großer Unmittelbarkeit hilfreich, die Theorie in appellativer Form zu formulieren suchen. Im Mai 1983 wird Giorgio Cesaranos Hommage an Georges Bataille veröffentlicht. In 98 items umkreist das Pamphlet immer wieder die Veränderungen der Subjektbefindlichkeiten unter den Bedingungen der Hegemonie des Produktionswahns. »[…] das Objekt par excellence ist das fiktive Subjekt, die sublimierte Ware, die in nichts anderem als in einer Form des Leeren zusammenhält. Ein Körper, er ist ein Ständer, ein Leeres, die Marke des Selbst. Das, was man redet, ist der Sound, die Tonspur des Leeren. Mit oder ohne Gitarre, jeder Song ist das Merkmal, das die Abwesenheit fördert, das die Allmacht der Vergangenheit und des Nicht-Gewesen-Seins zelebriert, untrennbar von der Apologie des künftigen Kredits. Das Sein […] stellt sich so ausschließlich im Andenken her […]«

Der Titel des Manifests ist eine Hommage an gleich zwei Werke aus der Hochzeit der Industrialisierung, Richard Freiherr von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) und Oskar Panizzas Psichopatia criminalis (1898). Der Psychiater und Gerichtsmediziner Krafft-Ebing schafft in seiner akribischen Studie sexueller Abweichungen vortrefflich den Balanceakt zwischen unbegrenzter Mannigfaltigkeit der Erscheinungen von Devianz und der integrierenden Idee des Wissenschaftlers. Panizzas nach dem Vorbild Krafft-Ebings verfasstes Pamphlet gibt sich oberflächlich als Anleitung zur Identifizierung von Energien und Erscheinungsformen des Kriminellen, entpuppt sich aber im Grunde als ein unverschämtes Manual gegen Melancholie, Agonie, Weinerlichkeit und Paranoia als notwendiger Folge der Unterordnung unter die Autorität: »Erst der Verkehr mit Angesteckten, mit Taugenichtsen […], mit Linksliberalen, mit der Vorfrucht des Irrenhauses, bringt den Keim in die Herzen dieser jungen Leute, von denen vielleicht Mancher ehemals in dem Verein christlicher junger Männer seinen Tee der Unschuld geschlürft hatte […] und nimt die Form der prikelnden Lust zum Bösen an«, so schreibt Panizza im ersten Absatz zur paralisis cerebri – der Gehirnerweichung.

Anm. d. Red.: Lesen Sie den ersten Teil (Gegenwartseffekte) und den zweiten Teil des Essays (Das elektrifizierte Du). Das Foto oben stammt von Andi Weiland und stehen unter einer Creative Commons Lizenz. Der Text entstammt Siegfried Zielinskis Buch [… nach den Medien] – Nachrichten vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Merve Verlags.

3 Kommentare zu “…also bin ich: Gestern Staat, heute Facebook

  1. Jetzt fehlt nur noch das “folgende Manifest”.

    “Begreift man die beiden Modi als Graduierungen auf einer Skala, so betrifft die Existenz stärker das Allgemeine im Individuellen, während das Sein mit Priorität das Individuelle im Allgemeinen ausmacht.”

    Lese gerade bei N. Hartmann unter “Die Form des Hineinwachsens in den Geschmack der Zeit”: “Und ebenso wie beim Ethos, beim Wissen und bei der Sprache gibt es auf dem Gebiet von Geschmack, Kunst und Lebensstil ein Hineinwachsen des Einzelnen in den objektiven Geist.” Alles ganz schrecklich altmodisch bei Hartmann, aber darum auch praktisch und wohnlich.

  2. Schon im I GING steht irgendwo: “Lebe in Harmonie mit dem Zeitalter, in dem du geboren bist.” Das gilt wohl auch für die zu jeder Zeit nötige kritische Haltung. – Thema postmediale Gesellschaft: Durch das gnadenlose Selbstanonymisieren per Nicknames degradieren wir unsere individuellen Interventionen im Netz zu Meinungsmaterial, das dann natürlich der Marktwertmaschinerie anheim fällt. Nicht nur Google, sondern jeder Leser in Foren, Blogs, bei Amazon-Kundenbesprechungen, bei Wikipedia usw. gewöhnt sich an das primitive Abgreifen von Meinungen, Informationen, Bildern, Videos – der zwischenmenschliche Impuls einer Frage: Wer ist denn das, der diese Meinung vertritt? der auf dieses Video hinweist?, der stellt sich gar nicht erst ein. Andersrum: Wenn ich konsequent im Netz meine Veröffentlichungen mit Klarnamen verbreite, wenn ich als Mitmensch auffindbar werde, wenn ich “hinter meinen Meinungen stehe”, erhalten diese langfristig nichtverdinglichten Wert. – So können wir das Netz als zeitgemäßes Kommunikations- und Multiplikationsmedium nutzen (analog zum Buchdruck ein paar hundert Jahre lang), auch zum Aufbau wie auch immer kritisch orientierter Netzwerke und mitmenschlicher Begegnungen.

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