Ich bekam mal den Auftrag, für Grundschüler in Playas de Rosarito, in Mexiko einen Workshop zu leiten. Ich konzentrierte mich auf kreatives Schreiben, benutzte aber auch audiovisuelle Medien und Theatertechniken um die Kinder im Alter von neun bis elf Jahren zu inspirieren. Das war ziemlich hart, weil ich selbst erst 21 und als Pädagoge noch unerfahren war. Ich fuhr mit dem Skateboard zur Schule. Der Schulleiter und der Co-Rektor besuchten manchmal meine Klassen, weil sie mir und meinen Techniken misstrauten.
Wenn die “richtigen” Lehrer nicht dabei waren, öffneten sich die Kinder und verhielten sich sehr frei. Es entstanden inspirierende Arbeiten. Was soll man machen, wenn ein Kind, das in einer vom Drogenhandel belasteten Gegend aufwächst, all diese Gewalt durch Kunst kanalisiert? Soll man es daran hindern oder sich auf eine andere Art austoben lassen?
Romanschreiben während des Unterrichts
Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht, dass das offizielle Bildungssystem dieses Problem lösen kann. Nicht in seinem gegenwärtigen Zustand. Dennoch habe ich die Hoffnung noch nicht verloren, dass andere Bildungserfahrungen – jenseits der offiziellen Einrichtungen – möglich sind. In meinem Roman Metro-Pop habe ich das Bildungssystem jedenfalls offen kritisiert.
Dass der Roman zur Pflichtlektüre in vielen Mittelstufen in Mexiko wurde, ist ein Zufall. Ich war erst siebzehn, als ich ihn schrieb. Ich wollte auf diese Weise meine eigenen Lehrer, meine Schule kritisieren. Ich schrieb ihn während des Unterrichts, und die Lehrer glaubten, ich würde die Aufgaben erledigen, die sie mir gaben.
Die Meinungsfreiheit macht Pause
Dabei arbeitete ich in Wirklichkeit gegen sie. Ich wollte den Roman nicht in der Schülerzeitung veröffentlichen, für die ich arbeitete. Das hätte keinerlei Auswirkungen gehabt – bis auf einen kleinen Skandal an meiner Schule vielleicht. Und ich wäre bestraft worden. Das wollte ich nicht.
Vermutlich wurde er später, als er in einem Verlag erschien, deshalb als Pflichtlektüre akzeptiert, weil das entworfene Szenario zeigt, dass das Bildungssystem sehr offen und demokratisch ist, und deswegen sogar solche Kritik erträgt und zulässt. Vielleicht gibt es sogar Lehrer, die daran glauben. Wer weiß.
Ich selbst habe da andere Erfahrungen gemacht. Einmal musste ich einen Essay über unsere Flagge schreiben. Wir durften alles schreiben. Ich schrieb, dass es keinen Sinn habe, im Falle eines feindlichen Angriffs eines anderen Landes, die Flagge zu verteidigen, als ob sie ein Symbol für das Volk wäre. Das tatsächliche Volk müsse verteidigt werden.
Danach bestellte man mich ins Büro des Rektors. Er fragte mich, ob der Kommunismus besser als der Kapitalismus sei, und ich antwortete: “Ja, natürlich.” Da hätte man mich fast meinen Eltern weggenommen, weil sie mir angeblich nicht die richtigen patriotischen Werte anerzogen hatten.
Graffiti auf der eigenen Nase
Es gab auch nette Lehrer. Hila zum Beispiel. Sie half mir durch die rauen Gymnasialjahre und unterstützte mich beim Schreiben und Filmen. Durch mein Interesse für Kunst begann ich irgendwann, in der Graffitiszene meiner Heimatstadt Tijuana aktiv zu werden. Um eine Vorstellung von der Größe der Szene zu vermitteln: Ein Unternehmer, der später Bürgermeister der Stadt wurde, setzte ein Kopfgeld auf Sueno & Deseo aus, ein Mädchen und ein Junge, die taggten. Vielleicht 150.000 Dollar, wahrscheinlich sogar mehr.
Die Stadt war damals voll mit Graffiti. Ein Lehrer schlug vor, die eigenen Nasen zu bemalen, statt die Häuser von Leuten, die das nicht wollten. Ich glaube schon daran, dass das Taggen öffentlicher Gebäude richtig und wichtig ist, sein Vorschlag war dennoch sinnvoll.
Als ich dann nach Hause kam, berief ich eine Sitzung des Familienrats (das waren meine Mutter, meine Schwester und ich) ein. Wir entschieden uns dafür, gleich bei unseren eigenen Nasen anzufangen. Wir malten das Haus als Kuh an, und seine Wände standen für Tagger offen.
(Anm. d. Red.: Wenn Sie mehr über Fran Ilich, den Verfasser des Protokolls, erfahren möchten, klicken Sie einfach auf den Autorenlink unten links.)
Wow! Was für ein Blast am Morgen. Romanschreiben auf der Schulbank, Graffiti am eigenen Leib und als Halbstarker unterrichten. Ich bin beeindruckt!
unglaubliche geschichte! man müsste sich mal genauer anschauen, was die kids so treiben, wenn sie so tun, als seien ganz aufmerksam und folgten dem unterricht. vielleicht entstehen noch ganz andere werke, von denen wir nichts wissen. noch nicht!
ich verstehe das mit dem Taggen der eigenen Nase nicht ganz…
@ ZK: Das ist so im Sinne von: Fass dir mal an die eigene Nase. Also besprüh dein eigenes Haus, bevor du dich an das von anderen machst. So hab ichs verstandn.
Das ist genau das richtige zum frühen Morgen! Traurig finde ich, dass Metro-Pop nur einmal auf Amazon erhältlich ist – als zerfleddertes, zugekritzeltes Bibliotheksbuch, das 2 Wochen aus Amerika bis hierher braucht. Wieso gibt es ein Buch, das in Mexiko Pflichtlektüre ist, nicht in Deutschland?
@ Sarah: ich finde es auch schade, dass man es hier nicht zur Pflichtlektüre in der Schule macht, der Unterricht, wie in den meisten Ländern, ist einfach zu sehr auf eine vermeintliche nationale Tradition ausgerichtet. Aber, dass Metro-Pop nur in diesem heruntergerockten Zustand zu haben ist, passt sehr gut zum Spirit des Beitrags, finde ich.
@ Leon: ich muss hier an die künstlerische/literarische Dimension von Doodles (http://en.wikipedia.org/wiki/Doodle) denken: geistesabwesendes Kritzeln als écriture automatique, die den Poproman von morgen füllt.
@zk: Der Lehrer meinte zu Fran und der Klasse, dass es doch besser sei, sein eigenes Eigentum zu besprühen (die eigene Nase) als das anderer Leute. Auch wenn diese Einstellung vielleicht ein bisschen konservativ ist, hat sie Fran immerhin auf das Projekt gebracht, sein eigenes Haus den Taggern zur Verfügung zu stellen. Insofern auch ein Bildungsmoment!
@Sarah: Auf Amazon.com gibt es noch einige Ausgaben von Metro-Pop im “sehr guten” Zustand. Schlag zu!
ich finde, dass es ein sehr spannender text ist, aber mich würde interessieren, wie die probleme konkret aussehen mit denen man in mexikos schulen konfrontiert wird und ob dagegen etwas unternommen wird. ist kreativität wirklich ein ausweg aus der misere? ist nicht vielleicht eine strenge erziehung die antwort auf die gewalt der straße??
Na klar, machen wir doch gleich alles zur Pflichtlektüre… ;)
Bildet Euch erst mal eine Meinung, bevor Ihr eine habt.
@Saraha, @Silvia: Wir leben in einer globalen Welt, sagt man, aber die Schule und ihr Horizont ist total national ausgerichtet. Es ist utopisch und fast schon lächerlich, Metro-Pop als Pflichtlektüre in deutschen Schulen zu fordern. Wenigstens wird das Dilemma an dieser Forderung erkennbar: Die Schule rekapituliert immer nur eine vergangene Welt und das auch nicht immer richtig.
@ Janoschi: Nicht Meinung haben, sondern Meinung bilden, genau! Nur: Bilden ist ein Prozess. Ein Dialog mit anderen, wie hier im Forum. Etwas behaupten, um andere damit zu konfrontieren und sich selbst, um es dann wieder zu überdenken — all das gehört dazu.
“Bildet Euch erst mal eine Meinung, bevor Ihr eine habt.” irgendwo habe ich das schon gehört… von einem Lehrer, der mich zum Schweigen bringen wollte, vielleicht
Ich weiß noch nicht so recht, ob mir der Titel wirklich passend scheint. Ein Gegen-Sein, eine Protesthaltung, das Entwerfen eines Gegenentwurfes ist für mich (noch) kein hinreichendes Indiz für das Hacker-Sein.
@ ccm: ich verstehe nicht viel von hackern und ihrer arbeit, aber der hack scheint mir in diesem fall doch auf der hand zu liegen: ein bestehendes system wird im multiplen sinne von innen unterwandert 1) er schreibt während des unterrichts einen roman der 2) das schulsystem und den unterricht kritisiert, 3) veröffentlicht diesen roman dort, wo der stoff eine kritische gegenöffentlichkeit erzeugen kann und 4) gelangt auf diesem wege wieder zurück in das system, das er kritisiert.
durch diesen prozess, der innen und aussen ein ums andere mal übereinanderstülpt, wird aus auflehnung und kritik ein hack.