Christine ist heute Fotografin, sie ist Mutter von drei oder vier Kindern, eine erfolgreiche, schoene Frau. Nach mehreren Jahren in Indien lebt sie seit einigen Jahren wieder in ihrer Heimatstadt. In unserer Heimatstadt. Wir hatten uns schon frueher aus den Augen verloren, liefen uns auf einer Vernissage ueber den Weg: Da war grosse Freude auf meiner Seite, ein bisschen Aufregung fast, als ich sie ansprach. Nach ein paar Saetzen sagte sie dann: Dass du den Laden hier leitest, wundert mich gar nicht, du warst schon als Kind ziemlich ehrgeizig.
Mit zwoelf und dreizehn Jahren hoerten wir dieselbe Musik, lasen dieselben Buecher. Wir hatten es wirklich schwer mit unseren Eltern, hielten spiritistische Sitzungen ab mit dem ganzen Drumherum. Wir hatten Plaene. Christine war die erste Vertraute, was Ideen fuer die Zukunft betraf; sie war – da sie aehnlich-anders war als ich – ein Garant fuer eine Zukunft. Wir verstaendigten uns ueber die Ungerechtigkeiten in der Familie und der Welt. Ihre Mutter arbeitete fuer meine Eltern. Vielleicht habe ich diese Zwangsgemeinschaft [im Sand spielen, in Gummistiefeln hinter den Muettern hertrotten, lauter Dinge, an die ich mich gar nicht mehr erinnern kann oder mag] als Beginn von etwas Gemeinsamem missverstanden.
Immer wieder schaue ich auf Verbindungen, die schon ewig dauern. Ein wenig neidisch. Die haben eine wirklich tiefgehende, unerschuetterliche Basis. Es spielt dabei natuerlich die Herkunft eine Rolle, die begruendende Abstammung oder wie immer man es nennen mag. Vielleicht aber entsteht dieser Wunsch nach einem Immer, das hinter einem liegt, aber nicht beschwert, sondern befluegelt und weiterhilft [ein Weiterhelfen im Sinne von: Wir sind alle irgendwo ankommen, es ging uns immer schon gut; jetzt kann es weitergehen] aus meiner Findelkind-Situation heraus. Stolz zu sein auf seine Herkunft: Was koennte aus diesem Gefuehl heraus entstehen? Sicherheit aufgrund dessen, woher man stammt: Wie fuehlt sich das an?
Wenn ich dann hoere, wie sich die alten Schulfreunde heute beziehungsweise immer noch anreden, als >Maeusefett<, >Fettsack< oder >Fettifrett<, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass es das ist, was mir fehlt. Und dann: Seilschaften, Netzwerke, Kluengel. Sofort werde ich zum Outskirt [skeptisch und stur] und ich sehe: Das bin ich ja auch. Aussenseiterin von allem. Und damit bin ich doch nicht allein.
Als Autorin kann man nicht waehlen, ob man eine exemplarische oder eine existentiell-einzigartige Geschichte abliefert. Existenzielles kann exemplarisch gelesen werden, aber ich weiss nicht, wie sehr es exemplarisch gemeint sein sollte. Wenn ich von Familie spreche – so verhaelt es sich jedenfalls in meinem Roman >Taghelle Gegend< und in einigen Erzaehlungen, zum Beispiel in >Grillgut< –, dann kann ich nur davon ausgehen, wie eine Familie aussieht, in der niemand dazugehoert, in der sich die Mitglieder gegenseitig ausschliessen. Ich weiss also nicht, was das ist, das Gemeinsame.
Das Ausgeschlossen-Sein setzt sich ja fort in dieser Gesellschaft, die fast nur mehr von den Raendern her belebt, betrachtet, bespielt wird. Arm sind fast alle, die keine Anlagen, die nicht einmal Fonds besitzen, das ist nicht Ideologie, es ist aber eine Realitaet, die heute stattfindet. Zeitgeist in echt. Ich arbeite an den Moeglichkeiten des Sagbaren und die betreffen ja nicht nur eine ueberschaubare Clique urbaner Jungfamilien oder Kuenstler und solche, die es einmal werden wollen, sondern die Randstaendigen und deren Verwegenheit, die Aussergewoehnlichkeit scheinbar ach so banaler beziehungsweise gewoehnlicher Biografien. Alles, was das blosse Leben ausmacht, will gesichtet werden. Und was darueber hinausgeht, was aus dem nackten ein vollstaendiges Leben machen koennte, befragt.
Da ich auch mit Barbara nur mehr sehr sporadisch Kontakt habe, weiss ich mehr als zuvor: Waehrende Zuneigung baut weder auf Jahre [die druecken] noch auf den Augenblick allein [wegfliegen oder abheben mindestens]. Mit Barbara, einer Schauspielerin, Mutter eines halbwuechsigen Sohnes und einer schoenen Frau, naemlich verbanden mich wirklich existenzielle Fragen, die wir hauptsaechlich ueber die Literatur abhandelten, und auch ueber alle moeglichen und ein paar unmoegliche Rauschmittel, auch Liebe, ja sicher. Da waren wir so explizit Aussenseiter, dass es einem heute auch wieder unangenehm sein koennte. Aber wir waren jung. Und wir wurden erst erwachsen und jede vielleicht ein bisschen groesser als die andere es vertrug. Man will Alltag, will Gleichmut, will Geduld, lauter so Sachen, zu denen man wirklich nur in besonderen Faellen in der Lage ist. Muss die andere dann auch noch schaetzen oder wahrnehmen oder bekaempfen. Viel. Diese Freundschaftsbaender vertragen die [gemeinsam] besichtigte Ungerechtigkeit viel besser als die eigene. So ist das auch.