Grammatik zurückerobern: Subjektivität und Sprache im autoritären Georgien

Während der ersten Pressekonferenz in Tiflis stellten die Gründungsmitglieder der Bewegung für soziale Demokratie (MSD) ihr Manifest vor und läuteten damit den Beginn einer neuen linken politischen Plattform in Georgien ein. Bild: 1tv.ge
Der Gründungsmoment der Bewegung für soziale Demokratie. Bild: 1tv.ge

Viele in Georgien, die sich in sozialen und politischen Kämpfen engagieren, sind sich einig: Die Demokratie muss von Grund auf neu aufgebaut werden. Laut Giorgi Vachnadze zeigt die kürzlich gegründete Bewegung für soziale Demokratie, dass die Verwirklichung einer radikalen Demokratie die Rückeroberung von Sprache, Rede und Erzählpraktiken erfordert.

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Gemäß dem vorherrschenden politischen Vokabular im postsowjetischen Georgien sei die Demokratie bereits erreicht. Das Einzige, was noch zu tun bleibe, sei, sie ‚vor ausländischen Agenten zu schützen‘. Diese von der Regierungspartei Georgischer Traum oft wiederholte Logik verschleiert jedoch eine subtilere Form der Gewalt: die Vereinnahmung der Sprache. Die politische Opposition wird durch vorformulierte Slogans und binäre Gegensätze in eine Falle gelockt, die durch korrupte juristische Machenschaften und die Manipulation der Grammatik funktioniert. Die flüchtige Praxis der Sprache ist der Ort, an dem demokratischer Widerstand wieder beginnen könnte.

Im Jahr 2024 formulierte Lotar Rasiński ein Konzept namens „Praktische Kritik“. Dieses verbindet Michel Foucaults Arbeit über das bekennende und wahrheitsliebende Selbst mit Ludwig Wittgensteins Theorie der Sprachspiele. Laut Rasiński muss die Philosophie auf die Straße zurückkehren und die Alltagssprache, die öffentliche Sprache, die bekennende Subjektivität sowie die ethische Selbstpraxis hinterfragen und neu interpretieren. Rasiński betont verkörperte und performative Akte der Wahrheitsfindung unter gefährlichen und riskanten Bedingungen gegenüber den universalistischen und müßigen Ansprüchen abstrakter Theorie. Im Kontext Georgiens, wo Gesetze unter dem Vorwand der ‚Souveränität‘ dazu benutzt werden, die Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, wird eine solche Sprache selbst zum Aufstand.

Auf dem Weg zu einer gegeninstitutionellen Poetik

Die im Februar 2025 gegründete Bewegung für soziale Demokratie (MSD) ist ein Beispiel für das Potenzial dieser praktischen Kritik. Noch keine Partei und noch kein Kollektiv, lässt sich die MSD am besten als diskursive Intervention verstehen, als Grammatik der Verweigerung. Anstelle programmatischer Stichpunkte oder banaler Aufrufe zum Handeln beginnt das Manifest mit einer Erzählung: dem Bekenntnis einer Generation, die von den liberalen Versprechungen desillusioniert und von der binären Politik des Georgischen Traums und seines parlamentarischen Gegners, der Nationalen Bewegung, erschöpft ist. Ihre Sprache ist nicht die der Eroberung, sondern die der Wiedergewinnung und Fürsorge. Bei Treffen in Tiflis und anderen Regionen verwendet die MSD eine Sprache, die gleichzeitig therapeutisch und politisch ist. Die Mitglieder lesen aus Notizbüchern vor, verteilen Flugblätter und übersetzen offizielle Dokumente in die Dialekte der Arbeiter*innenviertel. Mit diesen Handlungen widersetzen sie sich der semantischen Dominanz des Staates und den epistemischen Annahmen, die in seiner bürokratischen Sprache verankert sind. Praktische Kritik wird zu gegeninstitutioneller Poetik.

Der taktische Kern der praktischen Kritik liegt in der Neupositionierung der Beziehung zwischen privater Erfahrung und öffentlichem Ausdruck. Für Foucault geht es bei der Beichte nicht darum, Geheimnisse zu enthüllen. Vielmehr ist sie eine Technologie der Subjektivität bzw. Subjektbildung. Sie ist eine Möglichkeit, das Selbst innerhalb von Machtsystemen zu formen. Laut Wittgenstein gehört jede menschliche Äußerung zu einer Lebensform, die durch gemeinsame Regeln, Bräuche und Gesten geprägt ist. In diesem Sinne tut der Staat mehr, als nur Sprache zu zensieren, wenn er Dissens privatisieren will, indem er ihn als „fremd“ bezeichnet. Er ordnet die Regeln der Sprache selbst – Worte und Dinge – neu, wie in „Les Mots et les Choses“ (1966) beschrieben. Als Reaktion darauf organisiert die MSD so etwas wie Gegenbekenntnisse oder Parrhesia, also mutiges Reden. Die Versammlungen der MSD finden nicht in Parlamentssälen, sondern in Wohnungen, Innenhöfen und Buchhandlungen in der Nachbarschaft statt. Diese Räume sind Beispiele für Momente kollektiver Erzählung. Das Persönliche wird nicht durch moralische Erklärungen politisch, sondern durch gemeinsames Sprechen und gegenseitige Selbstfürsorge. Ein auffälliges Merkmal ist die wiederkehrende Unsicherheit.

Eine Form der Parrhesia

Die Bedeutung der Praktiken der MSD sollte nicht unterschätzt werden. Ihre Versammlungen, Veröffentlichungen, Straßenmärsche und Reden finden in einem stark überwachten und instabilen Umfeld statt. In Georgien wird öffentliche Kritik, insbesondere wenn sie sich gegen den Staat richtet oder Solidarität mit marginalisierten Gruppen zum Ausdruck bringt, mit Schikanen, Diffamierung und rechtlichen Drohungen beantwortet. In diesem Kontext ist das Engagement der MSD für freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Benennung und Erzählung eine Form der Parrhesia, also eine mit sozialen und politischen Risiken verbundene Wahrheitsfindung.

Indem sie die Zwangsnarrative des Staates ablehnen, bekennen sich die MSD zu einer Ethik der Enthüllung. Das macht ihre Arbeit mutig – und gefährlich. Die Zivilgesellschaft verschwindet nicht, sie wird umbenannt. Wenn Demonstranten als Verräter bezeichnet, NGOs mit Spionage gleichgesetzt und die Sprache der Fürsorge als Subversion umgedeutet werden, dann stellt sich nicht die Frage, ob die Demokratie bedroht ist, sondern welche Art von Rede sie zulässt. Die MSD ist der Überzeugung, dass die Demokratie grundlegend neu aufgebaut werden muss – nicht mit leeren Parolen, sondern mit neuen Formen der Kommunikation.

Ihre Methode ist langsam und entzieht sich oft dem sichtbaren Bereich. Sie ähnelt Wittgensteins Bild von der Philosophie als Therapie. Anstatt einfache Antworten und klare Lösungen zu liefern, versuchen wir zu klären, wie und zu wem wir sprechen. Deshalb beginnen die MSD-Treffen oft mit vorsichtigen, reflektierenden und praxisorientierten Fragen, denen ausführliche Diskussionen folgen. Selbst innerhalb des MSD-Umfelds sind die Themen sehr umstritten und offen für Neuformulierungen. Es ist oft recht schwierig, sie in eine endgültige, entscheidende Form zu bringen. Viele Lösungen bleiben offen, da versucht wird, über rhetorische Gesten hinauszugehen und eine politische Grammatik aus gelebter Erfahrung neu zu konstruieren.

Dissonante Formen des Zusammenseins

Wie Rasiński uns erinnert, ist Sprache immer öffentlich. Selbst unsere intimsten Gedanken sind von überlieferten Formen geprägt. Wenn die Strategie des Georgischen Traums darin besteht, den Raum für öffentliche Äußerungen einzuschränken und Möglichkeiten der Selbstdarstellung zu verhindern, dann besteht die dringendste Gegenstrategie darin, diesen Raum zu erweitern. Dies kann mit Megaphonen, Tagebüchern, Dialogen und dissonanten Formen des Zusammenseins geschehen. Die MSD lehrt, dass Widerstand in Georgien heute nicht mit Macht beginnt. Er beginnt mit Sprache: fragil, lokal und oft zitternd, aber dennoch Sprache.

Die Grammatik zurückzugewinnen bedeutet also nicht, die Syntax zu korrigieren. Manchmal ist sogar das Gegenteil der Fall. Es bedeutet, Wörter und Praktiken zu erfinden und die Bedingungen gegenseitiger Verständigung unter Zwang neu zu denken. Der Weg der MSD von einer symbolischen Gründung zu realen Aktionen begann mit einer prominenten öffentlichen Gründungsveranstaltung in Tiflis. Dort präsentierten ihre Mitglieder ein Manifest, das auf Gerechtigkeit, Gleichheit und demokratischer Erneuerung basiert. Dieser symbolischen Geste folgten schnell konkrete Schritte: die Rekrutierung von über hundert Mitgliedern mit unterschiedlichem aktivistischem und beruflichem Hintergrund, die Einbettung in die pro-europäische Protestwelle Georgiens sowie die Verstärkung der Forderungen nach Arbeitsrechten und sozialer Gerechtigkeit im Rahmen des breiteren demokratischen Kampfes.

Mit dem Wachstum der Gruppe strebte diese institutionelle Legitimität durch eine formelle Registrierung an. Diese Bemühungen wurden natürlich zunächst von den staatlichen Behörden blockiert, was die politischen Risiken, denen die Gruppe ausgesetzt ist, noch deutlicher machte. Trotz dieses Widerstands entwickelt die Bewegung ein umfassendes politisches Programm, baut Allianzen mit Gewerkschaften auf und organisiert sich lokal. Dies markiert einen bewussten Wandel von einer deklarativen Präsenz hin zu einer aktiven Beteiligung an der Gestaltung der zivilgesellschaftlichen und politischen Zukunft Georgiens.

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