Die Call-Center internationaler Konzerne, die von Irland oder Indien aus die als isolierte und losgeloeste Einheiten die Illusion eines raum-zeitlichen Bezugs zum Anrufer erzeugen muessen – das ist fuer mich ein eminent theatrales Phaenomen. Illusion fuer eine bestimmte zeitliche Dauer glaubhaft und konkret werden zu lassen. Jede Theaterauffuehrung findet streng genommen nur einmal unter denselben Bedingungen statt. Sie ist fluechtig und verschwindet im Moment ihrer Entstehung. Im Bereich des Tanzes potenziert sich diese Fluechtigkeit im Hinblick auf die Bewegung, die streng genommen das Nichtidentische zum Prinzip erhoben hat. Ich kann eine Bewegung nicht zweimal ausfuehren, ich kann sie nicht wie einen Gegenstand besitzen oder irgendwohin mitnehmen.
Darueber hinaus greift das Verschwinden die Institution des >einen< Theaters als festen Produktionsort an. Die Idee der Netzwerke, Koproduktionen und Residenzen an verschiedenen Orten rund um den Globus, die vor zehn Jahren noch den Beduerfnissen kuenstlerischer Produktion dienten, stellen heute an die Kuenstler neue Anforderungen. Sie muessen sich immer mehr auf die verschiedenen Agenden der verschiedenen Produktionszentren einlassen, die nicht unbedingt die ihren sind. Aus der Flexibilitaet wird ein neuer Druck, etwas >Passendes< produzieren zu muessen. Umgekehrt gelten kuenstlerische Arbeitsprozesse und Lebensverhaeltnisse [Stichworte: Deregulierung, prekaere Arbeitsverhaeltnisse, Flexibilitaet, Mobilitaet] heute als Norm auch fuer nicht-kuenstlerische Arbeit. Die Frage, die sich fuer mich daher immer stellt, ist die nach dem Anderen, das die Kunst sein kann oder sein soll, nach der Widerstaendigkeit von Kunst, wenn das, was man zumindest ein Jahrhundert lang als deren Vorzuege gepriesen hat, ploetzlich unter Bedingungen des universellen integrierten Spektakels der Norm in die Haende spielt, wenn also aus der Vorstellung einer Freiheit ploetzlich ein Zwang wird, weil man keine Wahl mehr hat. Obwohl Theaterereignisse fluechtig sind, muesste man deren Fluechtigkeit und damit verbunden deren gesteigerte Praesenz anders definieren. Die Massenmedien versprechen und produzieren ebenso ununterbrochen Praesenz durch die vermeintliche Einzigartigkeit und den Evidenzcharakter der Bilder, die >live< ueber die Schirme flimmern und die uns staendig unverhofft zustossen. In diesem Sinne finde ich es problematisch, Theater, auch wenn es eine andere [koerperliche] Materialitaet erzeugt als die Bildmedien, im Wesentlichen ueber Praesenz zu definieren. Hier wie dort verschwinden Kontexte, Erinnerungen und das Gedaechtnis, wenn es immer nur um den selbstverstaendlich faszinierenden und einzigartigen Moment, wenn es immer nur um die unwiederholbare Erfahrung im Hier und Jetzt geht. Laengst hat doch die Werbung die Strategien der Avantgarden zur Erzeugung von Praesenz uebernommen. Daran kann man zwar seinen Spass und sein aesthetisches Vergnuegen haben, was vollkommen legitim ist, mehr aber auch nicht. In meiner Arbeit beschaeftige ich mich mit dem Tanzkoerper im Zustand der Abwesenheit. Die Frage kann dabei immer nur sein, wie man die unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Institutionen und Instanzen unter veraenderten gesellschaftlichen Bedingungen definiert. Das Thema der Abwesenheit ist fuer mich ein strategisches, weil es in das permanente Praesenzversprechen der Medien eine Luecke einfuegt. Abwesenheit betrifft zum einen bestimmte Inszenierungsstrategien: dass etwa ein Koerper oder ein bestimmtes Bild von einem Koerper gerade nicht gezeigt wird. Dadurch entstehen Leerstellen im Inszenierungstext, die die Zuschauer mit ihrer Imagination fuellen koennen. Der Freiraum fuer den Rezipienten verleitet ihn dazu, selbst aktiv zu werden. Er erhaelt eine Freiheit und Produktivitaet, die ueber das Nicht-Verstehen, das Fremde, Andere generiert wird. Andererseits liegt dem Konzept der Abwesenheit auch eine bestimmte Vorstellung des Subjekts zugrunde, dessen psychischer Apparat aus mehreren unterschiedlichen Instanzen besteht, die untereinander nicht zur Deckung kommen koennen. Darin liegen fuer das Theater Chancen, die Abstaende zwischen dem, was ich mir vorstelle, was ich sehe und was ich hoere, was ich zu sehen begehre und zu sehen bekomme, zwischen dem, was gesagt wird und was gezeigt wird, zu vermessen. Im Alltag gleichen wir Hoeren und Sehen zu bestimmten, uns bekannten Bildern ab, damit wir ganz pragmatisch damit umgehen und handeln koennen. Erzeugt das Theater in diesem Kontinuum Abwesenheiten, die auf der Trennung und Teilung von Hoeren und Sehen beruhen, werden die Zuschauer im Prozess der Wahrnehmung selbst umgeschrieben. Dabei verschwinden aber weder das Theater noch der Zuschauer im Sessel oder gar der Taenzer/Schauspieler auf der Buehne. Wenn ich die Rolle als das Andere definiere, wirft das Fragen in Bezug auf die Repraesentation auf. Wenn ich das Theater als Labor oder analytisches Medium begreife, veraendere ich die Resultate. Unterscheiden sie sich von herkoemmlichen >Formen von Gemeinschaft Im Zusammenhang mit dem Theater wird gerne auf die Moeglichkeit einer Gemeinschaftserfahrung verwiesen, die die Menschen aufgrund des Live-Charakters der Auffuehrung machen koennen. Nimmt man das Konzept der Abwesenheit ernst, muesste man im Anschluss an die Diskussionen bei Maurice Blanchot, Jean-Luc Nancy oder Giorgio Agamben auch im Theater eher von dem Wunsch nach Gemeinschaft sprechen, der rein strukturell auf einer Unmoeglichkeit basiert, als auf der tatsaechlichen Praesenz einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern. Im Theater ist man als singulaeres Wesen mit seiner subjektiven Wahrnehmung und seiner Art zu verstehen angesprochen. Gleichzeitig nimmt man aber zu Mehreren in einem oeffentlichen Raum wahr. Das, was man wahrnimmt, findet, obwohl wir das Theater als gemeinsamen Raum teilen und egal wie nahe ich den Akteuren raeumlich auch sein mag, immer auf der anderen Seite statt. Wir teilen also das Teilen, was immer die Differenz als Grundlage dieser temporaeren, zufaellig entstandenen und sich nach Ende der Auffuehrung wieder zerstreuenden Gemeinschaft anerkennt. Wir kommen also nicht zusammen und schliessen uns nach aussen den anderen gegenueber zu einer totalitaeren Gemeinschaft ab, obwohl wir zusammenkommen. Was wir teilen, ist die Abwesenheit einer Gemeinschaft. Diesen Abstand moechte ich als Moeglichkeitsbedingung fuer einen individuellen Zugang zum Geschehen verstehen, einen Abstand, der es mir ueberhaupt erst ermoeglicht, Position zu beziehen. Das impliziert, dass ich nicht immer schon drin bin in dem, was wir Realitaet nennen, sondern dass ich mir einen Zugang zu ihr erarbeiten muss. [Anm. d. Red.: Der Verfasser des Texte ist Professor am Institut fuer Theaterwissenschaften der Universitaet Bern und Autor des Buches >Abwesenheit: Eine performative Aesthetik des Tanzes<.]